Die Selbsterhaltung des Kapitals und die Uhr der Apokalypse

Ezra Riquelme

“Nichts kann die gesamte Menschheit hindern, aus ihrer angestammten Isolierung herausgerissen und in die Weltwirtschaft der voneinander abhängigen Spezialisten gezerrt zu werden. Denn die neue Produktionsweise ist unvergleichlich effektiver im Kampf ums Überleben”.

Walter Lippmann, The Good Society 

Im August letzten Jahres prognostizierte eine Studie der HSBC-Bank für das Jahr 2100 einen drastischen Rückgang der Weltbevölkerung, d. h. das Verschwinden von mehr als 4 Milliarden Menschen. Die Gründe, die dieses Studieninstitut uns auftischt, um dieses Verschwinden der Hälfte der Menschheit zu rechtfertigen: der Rückgang der Geburtenrate und die Überalterung der Bevölkerung. Die Ankündigung eines solchen Szenarios dient einzig und allein dem Zweck, den Druck auf die Menschen aufrechtzuerhalten und sie auf eine weitere Zuspitzung des Horrors vorzubereiten. Es kommen wieder die Winterjahre! Die Kälte des Kapitals breitet sich unter dem Anschein des Friedens aus, das Kapital führt einen Krieg auf allen Ebenen und die Verwüstungen, die ihm folgen, werden nicht heruntergespielt. Insbesondere die Zerstörung der Tier- und Pflanzenwelt. Das Kapital verspricht mehrere mögliche Weggabelungen, einen selbstregulierten grünen Kapitalismus, einen mehr cyberdemokratischen Kapitalismus; all diese Möglichkeiten werden von einer Weiterentwicklung der Technologie des Kapitals als Antwort auf seine eigene Katastrophe gesteuert. Davon zeugt die Möglichkeit, ausgestorbene Wesen (Tiere und Pflanzen) durch Simulakren zu ersetzen. Ein Beispiel für dieses Bestreben ist eine Werbung für eine Automarke, in der eine Welt ohne Tiere durch freundliche Roboter ersetzt wird. Dies entspringt der westlichen Matrix, die darin besteht, sich alles, was vor ihr existiert, anzueignen und zu zerstören. Folglich ist das Kapital eine Abstraktions- und Vernichtungsmaschine, ein technologisches System, das eine Vielzahl von Rechen- und Verwaltungsgeräten installiert, die es ermöglichen, die Lebensweise der Arten neu zu konfigurieren. Auch die Beschränkung auf das Prisma von Produktion, Reproduktion und Herrschaft hat nur eine bestimmte Funktion, nämlich die einer bedeutsamen Mutter im Getriebe dieser Maschine zu sein. 

Die Debatten über den Ursprung des Kapitalismus sind nach wie vor hitzig. Jeder bringt seinen eigenen Ausgangspunkt als Standpunkt der Totalität ein, ohne jedoch den Reichtum der vielfältigen Genealogien zu sehen. Jede Historie des Kapitalismus birgt wertvolles Material, um einen Plan für die Wahrnehmung der Realität zu entwickeln und eine Macht zu schaffen, die zu ethischer Wahrheit fähig ist und bereit ist, sich mit dieser Abstraktionsmaschine anzulegen. Wir halten es für wichtig, das Wort Kapital selbst als Ausgangspunkt zu nehmen und auf die Etymologie des Begriffs zurückzugreifen. Im Lateinischen kommt das Wort Kapital von capitalis, was sich auf den Kopf bezieht, der den Tod bringt, abgeleitet vom Begriff caput, der sich auf den Viehbestand, d. h. die Herde, bezieht. Das Kapital führt seine Herde an der Spitze zum Schlachthof. Um dies zu erreichen, musste sich das Kapital außerhalb der Warensphäre materiell konstituieren, und zwar in seiner wertvollsten Ressource: der Menschheit. Die Geschichte des Kapitals vollzieht durch sein hegemoniales Prinzip, die Wirtschaft, eine doppelte Kolonisierung: die Eroberung des gesamten Planeten als Ressourcenraum und die Eroberung seiner Bewohner. Heute sind wir voll und ganz der neoliberalen Planung unterworfen, die die Ausweitung der Sphäre der Rentabilität auf alle Dinge, sogar auf Abfall, einen neuen Markt und eine Operation der totalen Neugründung der Menschheit durch die vollständige Integration in eine radikal neue Lebensweise [way of life] (“…sie hat Sitten, Institutionen und Traditionen erschüttert und so die Gesamtheit des menschlichen Horizonts verwandelt” Walter Lippmann; The Good Society) in Gang setzt. Ein bekanntes Motiv aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften wird wieder aufgegriffen, indem eine weitere Schicht wirtschaftlichen und sozialen Asphalts auf die bestehenden Beziehungen aufgetragen wird, die inzwischen in weite Ferne gerückt sind. Der Kapitalismus ist das Aufkommen einer Lebensform mit einem Willen zur zerstörerischen Macht, “er ist die Vernichtungsvorrichtung, in der sich der Nihilismus entfesselt” (Jean Vioulac, L’époque de la technique). 

Das Unterfangen des Kapitals setzt die früheren Operationen fort, die von der Republik, der Familie, dem Staat, der Nation usw. durchgeführt wurden, um den Kommunismus zu überwuchern. Tatsächlich ist der Kommunismus keineswegs ein Produkt der Moderne, geschweige denn ein wirtschaftliches oder politisches System. Der Kommunismus ist höchstens eine Ethik, wobei er auch seine Notwendigkeit anerkennt, ein Bedürfnis zu sein, vielleicht sogar das erste Bedürfnis. Der Kommunismus hat in der Geschichte eine Vielzahl von Formen angenommen. Das 20. Jahrhundert war jedoch das große Manöver, um ihn zu vernichten. Das Emporkommen der Atombombe, wie Jean-Marc Royer in “Die Welt als Manhattan-Projekt” berichtet, hatte nie zum Ziel, das Dritte Reich zu besiegen, sondern die UdSSR, die für die USA den Kommunismus darstellte. Es wird sehr wohl und zu Recht eingeräumt, dass die UdSSR nie kommunistisch war, die Eigentümer ihrer Welt aber hatten einen Feind, den es auszurotten galt, im Visier: den Kommunismus. “Das Kapital als gesellschaftliche Produktionsweise verwirklicht seine tatsächliche Herrschaft, wenn es ihm gelingt, alle vorher bestehenden sozialen oder natürlichen Voraussetzungen durch die eigenen Organisationsformen zu ersetzen, die die Unterwerfung allen physischen Lebens vermitteln” (Giorgio Cesarano & Gianni Collu, Apokalypse und Revolution). Daher die entscheidende Bedeutung für die kapitalistische Maschine, jede Möglichkeit zu zerstören, ohne sie zu leben. Wie Marx 1867 definierte, ist das Kapital ein Prozess der Zerstörung, das Kapital gründet seine Abstraktion auf den Kadavern der Formen, die ihm vorausgingen. Daher entspricht seine unendliche Expansion einem Selbsterhaltungsmechanismus, der auf der Aufrechterhaltung eines permanenten Ausnahmezustands beruht, der das tatsächliche Risiko des Aussterbens des Lebens beinhaltet. 

Das Auftreten des Kapitals in der Moderne aktualisiert die moderne Geste par excellence, die menschliche Totalität nach dem Modell einer bestimmten Lebensweise und der Unterwerfung unter einer ‘Welttechnik’ zu vereinen. Tatsächlich vereint das Kapital die Welt durch seine technologische Entfaltung, seine materielle Infrastruktur bedeckt die Welt, durch eine logistische Rechtfertigung des Fortschrittsmythos. Walter Benjamin entlarvt diesen Mythos durch seine Einsicht in die Ontologie des Fortschritts, die auf der Idee der Katastrophe beruht: “Dass die Dinge so weitergehen wie bisher, das ist die Katastrophe” (Walter Benjamin, Charles Baudelaire). Die wesentliche Substanz jedes Fortschrittsdiskurses konstituiert sich über Katastrophen, diese Arten von Diskursen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hegemonial, gerade über das Scheitern des Ideals der technischen Perfektion und die daraus resultierenden Verwüstungen werden sie wiederholt. Die Opfer dieser Katastrophen liefern somit die Rechtfertigung für das Versprechen einer “besseren Zukunft”. Die Entstehung des “Anthropozäns” oder “Kapitalozäns”, die Rückkehr der politischen Ökologie in den Vordergrund wäre das Ergebnis der Selbstreflexivität der Moderne, die von den Postmodernen durch diese Bewusstwerdung der “Grenzen” so sehr geschätzt wird, doch die Moderne ist nur die ständige Aktualisierung der Katastrophe. Die ontologische Substanz des Fortschritts artikuliert sich dann im neuen Horizont der Selbsterhaltung des Kapitals und stellt damit die Bedingungen für ein makabres Spiel: Kapitalismus oder Aussterben. Kurz gesagt ist es eine Geiselnahme der Welt: Entweder wir verschwinden oder wir beteiligen uns an der Selbsterhaltung des Kapitals. Das Kapital wird seine zerstörerische Logik bis zum Ende durchziehen. Während es seine Selbstkritik produziert, zum Beispiel mit dem Global Assessment Report 2022, der am 26. April vom Büro der Vereinten Nationen für Katastrophenvorsorge veröffentlicht wurde. Laut ihnen muss man lediglich “wissen, wie sich Regierungssysteme weiterentwickeln können, um den systemischen Risiken der Zukunft besser begegnen zu können”. Das ist die Katastrophe!  

Der Notstand der Katastrophe ist die Homogenisierung der Zeit. Die Zeit rast, von allen Seiten! “Ich habe keine Zeit” ist der allgemein akzeptierte Satz aller, die Zeit läuft uns davon, wir stehen ständig unter Druck. Dieses Gefühl einer ständigen Beschleunigung der Zeit ist ein Symptom für die Verwischung der Unterschiede zwischen Produktion und Zirkulation. Die Kolonisierung jedes einzelnen Moments des Lebens durch das Kapital lässt die “Arbeit” verschwinden, indem die Messung auf die gesamte gelebte Erfahrung ausgeweitet wird. Die Zeit des Kapitals ist überall, Mobiltelefon, angeschlossene Uhr etc.. Die technologischen Ökosysteme sind die Mittel, um die permanente Messung durch Rückkopplung zu bestimmen: Produzent, Produkt, Verkäufer des Produkts und Verbraucher. Die Uhr ist mit den Körpern und den Köpfen verschmolzen. Die Zeit als unveränderliches, messbares System ist durch die Entwicklung der mechanischen Uhr in Europa Ende des 19. Jahrhunderts noch vor der Säkularisierung entstanden. Die Uhr hat laut Mumford “die Zeit von den menschlichen Ereignissen abgekoppelt” (Lewis Mumford, Technik und Zivilisation). Die Technik der mechanischen Uhr wird die Art der Buchführung und Bilanzierung im Laufe der Jahrhunderte ständig weiterentwickeln. Die Zeiträume jeder Technologie, jedes Lebensumfeldes und jeder Lebensform werden auf die eine, totalisierende Zeit reduziert, die die Wirtschaft darstellt.  

So ermöglicht es die Vereinheitlichung der Zeit durch das Kapital, den einzigen Horizont dieser Epoche zu zeichnen: die Katastrophe. Von ihr aus werden wir regiert und das Kapital kann seine Selbsterhaltung optimieren. Es nimmt sich die Prophezeiungen der Apokalypse und ihre Ankündigung der Katastrophe zum Vorbild, deren einziges Ziel es ist, Passivität und Unterwerfung aufrechtzuerhalten. Die immer stärkere Zerstörung der Lebensformen und ihrer Umwelt lässt in den Momenten der existenziellen Zweifel eines jeden das latente Gespenst des Weltuntergangs wieder aufleben. Und die Governance wirkt bis in unsere Körper, in die Tiefen unserer Ängste. Der Kapitalismus ist der Krieg gegen den Kommunismus, weshalb der Kalte Krieg nie aufgehört hat und die Doomsday Clock (Uhr der Apokalypse) auch nie stillsteht. Die Uhr stammt aus dem Jahr 1947 und wird mithilfe der NGO Bulletin of the Atomic Scientist nicht mehr weiterlaufen. Es ist an der Zeit, sich an den weisen Rat eines Zeugen des Juli-Aufstandes von 1830 zu erinnern: “sie schossen auf die Zifferblätter, um den Tag anzuhalten” (L’Insurrection. Poème dédié aux Parisiens, von Auguste Marseille Barthélemy und Joseph Méry).

Dieser Text erschien am 5. Dezember 2022 auf Entêtement.