Der ‘Jina-Aufstand’: über Widersprüche, Chancen und die rechte Opposition

Shoresh Rozapour 

Der seit dem 17. September stattfindende ‘Jina-Aufstand’ konnte sich selbst am Leben halten, indem er an vielen Stellen den Weg für neue kollektive Kämpfe ebnete. Dieser Aufstand, der die Solidarität unter den unterdrückten nationalen Minderheiten schuf, konnte viele soziale Gruppen unter der Führung der Frauen zusammenbringen. Arbeiter, Angestellte, Ladenbesitzer und die verarmte Mittelschicht beteiligten sich engagiert an den Protesten und organisierten Streiks. Auch Schüler und Studenten beteiligten sich an diesem Kampf und trugen zur Radikalisierung des Prozesses bei. Der Volksaufstand und der Widerstand gehen nun trotz aller Rückzüge und allen Drucks in den dritten Monat, und in diesen drei Monaten hat er in gewissem Maße seine unterschiedlichen Potenziale und Widersprüche gezeigt.

Es scheint, dass das größte Problem des Aufstandes, trotz all seiner neu entwickelten Solidarität und inspirierenden Aspekte, generell mit der Desorganisation zusammenhängt. Dieses Problem könnte dem Aufstand einen zunehmend zermürbenden Prozess aufzwingen. Arbeiter, Ladenbesitzer und Schüler und Studenten beteiligten sich von Beginn der Proteste an den Streikwellen und sorgten für die Fortsetzung des Aufstands. Die Demonstranten auf den Straßen und in den Stadtvierteln leisteten während all dieser Tage auf unterschiedliche Weise Widerstand gegen die verschiedenen Sicherheitskräfte des Staates. Frauen legten ihre Kopftücher ab und tanzten, wo immer sie sich versammelten, und zündeten die Kopftücher an, und Schülerinnen schlossen sich dieser Bewegung an, indem sie ihre Haare in den Schulen bleichten. Trotz all dieser mutigen Aktionen wurden die Aufrufe zu Streiks und Generalstreiks oft nicht umgesetzt. Dies hing mit dem Problem der mangelnden Organisation des Aufstandes insgesamt zusammen. 

Da verschiedene Klassen und soziale Gruppen versuchten, sich in diesem Volksaufstand zusammenzuschließen, dominierten nicht die Ideologie oder die Organisationsvorstellungen einer bestimmten Klasse. Komplexe Aktionspläne wurden erstellt, denn jeder erwartete von jedem, dass er sich an den Protesten und Streiks beteiligte. Die spontane Entstehung des Aufstandes ist nicht in ein organisierteres Stadium übergegangen. Darüber hinaus verlief die Entwicklung der Proteste im ganzen Land nicht einheitlich. So unterschieden sich die Demonstrationen und Massaker in Kurdistan und Belutschistan hinsichtlich ihrer quantitativen und qualitativen Dimensionen von denen in Teheran und anderen zentralen Städten. In jedem Fall wurden bei diesen Widerstandsaktionen mehr als 400 Demonstranten getötet, und einigen Quellen zufolge wurden zwischen 20.000 und 60.000 Menschen verhaftet. Große Massaker wurden in den Provinzen Belutschistan, Mazandaran und Kurdistan verübt, und die Demonstranten haben diese Gräueltaten in anderen Städten des Landes verurteilt und sich mit den Rufen “Jin, Jiyan, Azadi”, der kurdischen Version von “Frauen, Leben, Freiheit”, fast drei Monate lang solidarisch gezeigt.

Auf der anderen Seite setzte die Islamische Republik ihre Politik der Verleugnung und Unterdrückung dieser Proteste vom ersten Tag an wie üblich fort. Von Anfang an trennte der staatliche Diskurs den “echten Protestler” vom “egteşaşgar” (Provokateur). In den Augen des Staates sind die “echten Demonstranten” diejenigen, die keine regimefeindlichen Parolen schreien, die keine Vandalen sind und die die Straße sofort wieder verlassen. Aber die Demonstranten, die es riskieren, auf der Straße zu bleiben und Widerstand gegen die Sicherheitskräfte zu leisten, werden vom Regime nur noch als Provokateure dargestellt. Der nächste Schritt bestand darin, die Demonstranten als “Spione”, “Fälscher” und “Terroristen” darzustellen. Indem das iranische Regime diese Proteste und Demonstranten mit der Opposition und ausländischen Mächten im Ausland in Verbindung brachte, erklärte es oppositionelle Medien wie Iran International, BBC Persian und ähnliche Organisationen zu den Akteuren hinter diesen Ereignissen und erklärte, es befinde sich in einem hybriden “kognitiven Krieg” mit diesen. In dieser Richtung wurde in den Nachrichtensendungen der nationalen iranischen Sender und in den staatlich gelenkten Zeitungen ständig Propaganda betrieben und den regimetreuen Kräften die Ereignisse aus ihrer eigenen Perspektive vor Augen geführt. Massaker, Erschiessungen mit scharfer Munition, ermordete Kinder, unrechtmässige Verhaftungen und Gerichtsverfahren, Folter, erzwungene Geständnisse vor laufender Kamera, physische Gewalt, Schikanen und Vergewaltigungen während der Haft und in den Gefängnissen sowie Todesurteile haben das iranische Regime in den Augen des iranischen Volkes zum Hauptfeind gemacht, der besiegt werden muss. 

Kürzlich erregte der erste Demonstrant dieser Rebellion, Mohsen Shakeri, der zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde, nachdem er beschuldigt worden war, “Krieg gegen Gott” zu führen, großes Aufsehen im Iran und in der Welt. Leider wurde die Tradition der Verhängung der Todesstrafe gegen Dissidenten während der Islamischen Republik systematischer und wurde gegen verschiedene “Kriminelle” unter unterschiedlichen Vorwänden eingesetzt. Allein 1988 wurden im so genannten Schwarzen Sommer mindestens 5.000 linke politische Gefangene in den Gefängnissen auf der Grundlage von Khomeinis Fatwa hingerichtet. Die Erinnerung an die 1980er Jahre ist in der iranischen Gesellschaft lebendig geblieben. Dessen ist sich auch das bürgerliche Mullah-Regime bewusst.

Bei einem Treffen mit den Verantwortlichen des Justizwesens am 28. Juni 2022, also noch vor dem Aufstand, wies der Oberste Führer des Iran, Ali Khamenei, darauf hin, dass die Islamische Republik die 1980er Jahre überleben konnte, und sagte: “Diese göttliche Tradition kann in jeder Periode wiederholt werden, und wir sollten wissen, dass der Gott von 2022 derselbe Gott wie von 1980 ist.” Obwohl diese Worte vor dem Aufstand gesagt wurden, können sie die Entwicklungen der letzten drei Monate angemessen beschreiben. Die Islamische Republik beschwört wieder einmal mit Nachdruck den “Gott von 1980”. Doch der Volksaufstand, der von Zeit zu Zeit versucht, revolutionäre Schritte zu realisieren, zieht irgendwie immer wieder den Kopf aus der Erde wie der Maulwurf der Geschichte. Auch wenn diese Revolte jetzt endet, kann sie jederzeit wieder aufflammen. Die offene Gewalt des Staates hat heftige Reaktionen in der Gesellschaft ausgelöst, und diese Reaktionen bedingten einander und hielten den Aufstand lebendig. Das ‘Abwerfen der Turbane’ der Mullahs durch viele einfache Menschen ist ein Zeichen dafür, wie sehr das Fundament der Islamischen Republik erschüttert worden ist. Da dieser Aufstand wirklich ein großes gesellschaftliches Erwachen bewirkt, aktiviert er jeden Tag andere gesellschaftliche Gruppen und kann die Reihen der Protestierenden erweitern. Da sie jedoch noch nicht ausreichend organisiert sind, um eine revolutionäre Kraft zu entfalten, befinden sie sich noch im Stadium des permanenten Aufstandes. Vielleicht braucht es mehr Zeit, um diesen Widerspruch aufzulösen. Die neuen Nachbarschaftskomitees, die während des Aufstands entstanden sind, sind zwar klein, haben aber das Potenzial, die Menschen während der Revolte zusammenzubringen, und können als Teil eines kollektiven Kampfes eine Rolle spielen, indem sie die Menschen für die nächsten Phasen organisieren. Darüber hinaus bieten die Nachbarschaftskomitees auch eine Lösung für das Kommunikationsproblem und verbinden die Demonstranten durch persönliche Kontakte, Wandmalereien und die Verteilung von Flugblättern in Zeiten des Internetausfalls.

Im letzten Aspekt dieses Beitrages geht es darum, wie der ‘Jina-Aufstand’ von der rechten Gegnerschaft des iranischen Regimes genutzt wurde. Der Sohn des gestürzten Schahs, Reza Pahlavi, ist der Anführer der rechten Mainstream-Opposition. Die Monarchisten befinden sich seit 1979 im Exil, hauptsächlich in den USA. Alle Mainstream-Medien haben sie 43 Jahre lang irgendwie gefördert. Die Volksmudschaheddin-Organisation (MEK), eine ehemals linksgerichtete, aber inzwischen konservative islamistische Organisation, stellt den anderen Flügel der Opposition dar. Im Zuge des Aufstands haben diese beiden Strömungen erneut Lobbyarbeit bei westlichen Ländern betrieben und ihre Pläne für eine andere “Exilregierung” und eine “Übergangsregierung” nach einem möglichen Regimewechsel aufgestellt. Die Bemühungen dieser Opposition, sich als Führungskraft zu profilieren, stießen jedoch beim iranischen Volk auf keinerlei Resonanz. So führten beispielsweise weder die Aufrufe der Monarchisten noch die der MEK zu Versammlungen oder Protesten im Iran. Darüber hinaus hat das Auftauchen neuer Figuren in der rechten Opposition den Raum für die so genannten Hauptoppositionsführer wie Reza Pahlavi und Maryam Rojavi, die jahrelang angepriesen wurden, eingeengt.

Andere Persönlichkeiten der iranischen Rechts-Opposition haben in den letzten Jahren auf internationaler Ebene Bekanntheit erlangt, und insbesondere in den letzten Monaten sind wir auf Personen gestoßen, die sich gegenüber westlichen Staaten als “Sprecher”, “Organisatoren” oder “Anführer” des iranischen Aufstands präsentieren. In diesem Zusammenhang sind Masih Alinejad, Hamed Esmaeilion und Nazanin Boniadi die neuen Gesichter der rechtsgerichteten Opposition gegen das iranische Regime. Masih Alinejad hat aufgrund der in den letzten Jahren durchgeführten Kampagnen gegen die Zwangsverschleierung den Mut gefunden, sich als “Sprecherin” der iranischen Frauen und “Anführerin” des laufenden Aufstandes vorzustellen. In diesem Sinne traf sich Alinejad im November 2022 mit Emmanuel Macron und erklärte: “Bei meinem Besuch bei Emmanuel Macron habe ich ihm gesagt, dass das, was im Iran geschieht, eine Revolution ist. Frankreich kann das erste Land sein, das diese Revolution offiziell anerkennt. Frankreich muss sich mit der iranischen Opposition anstelle der Regimevertreter treffen und die EU auf einen säkularen Iran vorbereiten”.

Hamed Esmaeilion ist zu einer einflussreichen politischen Figur geworden, da er nach dem Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs PS752 im Jahr 2020 durch die IRGC, bei dem alle 176 Passagiere ums Leben kamen, die Vereinigung der Familien der Opfer gegründet hat. Esmaeilion, der Präsident und Sprecher der Vereinigung der Familien der Opfer, rief während des ‘Jina-Aufstands’ zu Aktionen von Dissidenten im Ausland auf und konnte die größten und weitreichendsten weltweiten Aktionen durchführen, die die Gegner des iranischen Regimes in 43 Jahren nicht zustande gebracht haben. Diese Aktionen gegen die Islamische Republik fanden in mehr als 150 Städten auf der ganzen Welt statt. Esmaeilion veranstaltete am 22. Oktober eine Demonstration in Berlin und rief die Iraner in Europa dazu auf, die Stimme der Demonstranten im Iran zu sein. Die Zahl der Demonstranten wird auf 80.000 bis 100.000 geschätzt. Für einige Iraner und einige westliche Staaten ist Esmaeilion daher die am besten geeignete Figur der Opposition gegen das iranische Regime. Außerdem vertritt er im Vergleich zu den iranischen Monarchisten modernere Werte, was ihn zu einem geeigneteren Kandidaten macht. Vor kurzem nahm er zusammen mit Masih Alinejad am internationalen Sicherheitsforum 2022 in Halifax teil.

Eine weitere Figur ist Nazanin Boniadi, eine iranisch-britische Schauspielerin und Aktivistin, die von 2009 bis 2015 als Sprecherin von Amnesty International und von 2015 bis 2021 als Vorstandsmitglied des iranischen Zentrums für Menschenrechte tätig war. Nach Beginn des jüngsten Aufstands rief Boniadi im September 2022 ausländische Staaten zur Unterstützung der Demonstranten auf. Im Anschluss an die Proteste im Iran traf sie am 14. Oktober 2022 mit Kamala Harris (Vizepräsidentin der USA, d.Ü.) zusammen. Außerdem nahm sie im November 2022 als ‘Stellvertreterin’ der iranischen Opposition an einer informellen Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen teil. Danach begannen einige Aktivisten der iranischen Opposition, sie als künftige iranische Premierministerin zu sehen.

Die rechtsgerichtete Opposition des iranischen Regimes im Ausland hat immer wieder versucht, unter dem Deckmantel der Unterstützung des Aufstandes die Macht an sich zu reißen, und das ist keine neue Entwicklung. Diesmal jedoch hat die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für die Proteste der rechten Opposition ein Feld neuer Beziehungen, Lobbying-Möglichkeiten und Versuche eröffnet, sich an den Ereignissen zu beteiligen. Da die linke Opposition im Ausland keine nennenswerte Reaktion organisiert hat, hat die pro-imperialistische rechte Opposition Raum gefunden, sich den Aufstand zu eigen zu machen. Dies ist eine weitere Gefahr für den ‘Jina-Aufstand’ und zeigt, wie einsam er wirklich ist. Die Volksmassen und die fortschrittlichen Akteure, die gegen das iranische Regime vorgehen, müssen sich in diesem Kampf nicht nur der Islamischen Republik, sondern auch der gesamten rechten Opposition und den imperialistischen Staaten entgegenstellen, denn wenn sie dies nicht tun, könnten dieser Aufstand und die sich abzeichnende Revolution, die sie unter Einsatz ihres Lebens fortsetzen, in den Händen der rechten politischen Kräfte im Ausland mit Hilfe der imperialistischen Staaten verloren gehen. 


Der Beitrag wurde ursprünglich auf türkisch auf Gazete Karinca veröffentlicht und dann ins Englische übersetzt und am 18. Dezember 2022 bei Slingers Collective veröffentlicht. Diese deutschsprachige Version ist eine Übersetzung des Textes, wie er auf Slingers Collective erschien. Die Übersetzung dieses Beitrags ist vor allem von Bedeutung, weil hierzulande eine fast grenzenlose Naivität in Bezug auf jene iranische Exil-Opposition vorherrscht, wie es sich z.B. auch in der Mobilisierung zu der auch im Beitrag angesprochenen Großdemo in Berlin gezeigt hat. Bzw. ständig die Stimmen der immer gleichen prominenten Exil-Oppositionellen geteilt werden, aber nicht wahrgenommen, bzw. verschwiegen wird, wie diese permanent mit dem Parteien- und Machtapparat des westlichen Imperialismus zusammenarbeiten.