“Ein Bauer in der Großstadt” von Prospero Gallinari

Das Vorwort zur Neuauflage von Prospero Gallinaris Memoiren ‘Un contadino nella metropoli’ vom Januar 2023 von Weggefährten von Prospero Gallinari.

Vor zehn Jahren, am 14. Januar 2013, starb Prospero Gallinari in Reggio Emilia. Nach dem letzten Herzinfarkt wurde er in der Nähe seines Hauses auf dem Lenkrad seines Autos ruhend gefunden. Er stand aus gesundheitlichen Gründen unter Hausarrest. Wie jeden Tag bereitete er sich darauf vor, zu der Firma zu gehen, in der er als Arbeiter arbeiten durfte.

An seiner Beerdigung nahmen viele Menschen teil. Alte Kämpfer der Roten Brigaden, ältere Vertreter der italienischen revolutionären Bewegung, viele Emilianer, die ihn als jungen Mann gekannt hatten, und viele junge Leute, die ihn durch seine Interviews und die Lektüre seiner Memoiren mit dem Titel ‘Un contadino nella metropoli’ (Ein Bauer in der Großstadt) zu schätzen gelernt hatten.

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Es schien und war wirklich eine Beerdigung aus einer anderen Zeit. Es war ein Zeugnis der Einheit und eine Gelegenheit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden, im Gedenken an einen Mann, dessen Integrität absolut unbestritten war. Der Anlass war sehr verstörend. Es regnete Verurteilungen und sogar Denunziationen gab es in Hülle und Fülle. Wie konnte jemand auf die Idee kommen, diesen Toten auf diese Weise zu begraben? Es gibt Dinge in unserem Land, die man nicht tun sollte. Den Höllenkessel der Geschichte, wie Marx ihn nannte, aufzudecken, kann gefährlich sein.

In der Tat ist die Geschichte ein Schlachtfeld. Und zwar in dem doppelten Sinne, dass sie sich sowohl in ihrer Entfaltung als auch in ihrer posthumen Rekonstruktion als Terrain des Kampfes zwischen den Klassen erweist. Diese Vermutung oder, wenn Sie so wollen, diese nackte Wahrheit, tritt am deutlichsten zutage, wenn man über die italienischen 1970er Jahre spricht. Mehrere Jahrzehnte später sind die politische Bedeutung und das soziale Ausmaß des Konflikts zwischen Proletariat und Bourgeoisie offensichtlich. Aber es ist kein Zufall, dass die Polemik nach all der Zeit immer noch ungebremst tobt und immer dasselbe Drehbuch inszeniert: die Weigerung der herrschenden Klasse, zuzugeben, dass ihre Macht von einer neuen Generation von Kommunisten in Frage gestellt wird, die in der Gesellschaft verwurzelt sind und dem Wort Revolution eine konkrete Bedeutung geben wollen.

Es ist zweifellos ein Zwang zur Wiederholung. Eine Besessenheit, die manchmal (wie im Fall der so genannten ‘Verschwörung’) an die Grenzen der Groteske stößt. Aber wir sollten nicht überrascht sein. Es entspricht einem tief sitzenden Bedürfnis der Bourgeoisie, sich als die universelle Klasse und das letzte Wort in der Geschichte zu begreifen. Das Elend, die Kriege und der Faschismus, die ihr Gesellschaftssystem hervorgebracht hat und hervorbringt, zählen nicht. Die Bourgeoisie zeigt stolz ihre Verfassungen, ohne Rücksicht auf die eklatanten Widersprüche zwischen Worten und Taten. Natürlich ist das Spiel vorbei, wenn die Unterdrückten sich ihrer tatsächlichen Lage bewusst werden und den Kapitalismus auf rationale und organisierte Weise in Frage stellen. Das ist schon oft geschehen und wird wieder geschehen. Deshalb lohnt es sich, ‘Ein Bauer in der Großstadt’ zu lesen. Denn es ist die Geschichte eines Mannes, der sich innerhalb seiner Klasse voll entfalten konnte. Denn es ist ein Kapitel in der Geschichte einer Klasse, die es verstand, ihre eigenen Fäden zu knüpfen, die waghalsige Herausforderungen annahm und durchhielt, immer bereit, neu anzufangen.

Hier ist es sinnvoll, etwas über Prospero Gallinari zu sagen. Bei ihm war die Natur großzügig gewesen. Sie hatte ihm Mut, Geduld, Weisheit und Willenskraft gegeben. Im Gegenzug hatte er nach seinem dreißigsten Lebensjahr ein wenig Gesundheit eingebüßt. Aber Herzinfarkte und Ischämien hatten den gebürtigen Emilianer nicht verbogen. Er behielt mühelos seine angeborene gute Laune. Und die Beständigkeit in ihm zeigte etwas Einfaches und Schlüssiges. Es war keine starrköpfige Verbohrtheit. Es war keine arrogante Überheblichkeit. Bei Prospero Gallinari ergab die Beständigkeit der Verhaltensweisen und Ideen ihren Sinn aus einer für immer getroffenen Wahl. Ohne Reue. Ohne Leichtsinn. Mit dem langen Atem des Bauern. Und mit der trockenen Verantwortung des Kommunisten.

Diese Eigenschaften sind beispielhaft. Heute ist es legitim, dies zu betonen, angesichts des Bogens eines Lebens, das in das breite Mauerwerk des Klassenkampfes eingebettet ist. Gallinari wurde in eine arme Familie hineingeboren und begann schon in jungen Jahren zu arbeiten. Er war mit der Arbeit und der Genugtuung des mit eigenen Händen verdienten Brotes aufgewachsen. Aber in diesem Haus und in seinem Reggio der 1950er Jahre hatte er auch einen höheren Stolz gelernt. Die des bewussten Proletariats. Die einer potenziell herrschenden Klasse, die in der Emilia Rossa die ersten Früchte des antifaschistischen Kampfes aufblühen sah und damit den Grundstein für den italienischen Weg zum Sozialismus legte.

Es war das Los von Gallinari und vielen anderen wie ihm, alles neu diskutieren zu müssen. Es gab Risse, Brüche, Anschuldigungen und Enttäuschungen. Die Kommunistische Partei Italiens erschien angesichts des Bruchs von 1968 langsam und zögernd. Eine ganze Welt klopfte an die Tore des europäischen Neokapitalismus und verlangte mehr als nur Gerechtigkeit, sie verlangte schlichtweg nach einer Revolution.

Es war in der Tat ein klarer Bruch. Und es blieb, zusammen mit dem früheren Gepäck, ein persönliches Erbe von Prospero, das in seiner Art zu sein sehr deutlich wurde. Man kann den Bürokraten verabscheuen, ohne Disziplinlosigkeit zu predigen. Man kann sich der Heuchelei widersetzen, ohne sich dem Individualismus hinzugeben. Die Schule des emilianischen Kommunismus mit ihren umfassenden Werten wurde von Gallo nie abgelehnt, der sich spontan vom Sektierertum und den extremistischen Manien des Kleinbürgertums distanzierte. Aber das Bedürfnis nach Brüchen, nach dem Wissen, auch mit wenigen zu gehen, gegen den Strom zu schwimmen, blieb in ihm immer wachsam und nährte eine Avantgarde-Idee, die den Beigeschmack eines Schicksals hatte, das akzeptiert und verstanden wurde.

Es ist kein Zufall, dass Prospero Gallinari seine ganze Entschlossenheit in die Roten Brigaden eingebracht hat. Er steckte all seine Überzeugungen in diese Organisation: den Sinn der Partei, die Guerilla-Mentalität, die Ethik einer Generation, die international dachte und sich nicht scheute, Abstriche zu machen. Die Roten Brigaden waren für ihn zweifelsohne das harte Werkzeug eines radikalen Kampfes. Sie bildeten aber auch eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die durch eine Lebensentscheidung verbunden waren und sich jeden Tag aufs Neue herausfordern konnten. Er wechselte das Nummernschild eines gestohlenen Autos aus, beteiligte sich an der Entführung von Aldo Moro, verfasste ein politisches Dokument oder reinigte die Zelle eines Spezialgefängnisses – alles Aufgaben, die er mit der gleichen antirhetorischen und oft ironischen Hingabe ausführte. Er war in der Lage, von seinem unerfahreneren Kameraden zu lernen und dies auch ohne Schwierigkeiten zuzugeben. Er konnte ihm mit viel Fingerspitzengefühl helfen, indem er die menschliche Seite des Problems erkannte.

Wir übertreiben nicht. Gallinari mochte keine Übertreibungen. Wir sprechen nur über den Mann, den Militanten, den Brigadisten. Den Roten Brigaden widmete er sich ganz und gar, mit der Selbstverständlichkeit elementarer Pflichten. Er folgte dem Gleichnis in seiner Gesamtheit. Er lehnte jeden Kompromiss ab. Er vermied jede einfache Distanzierung.

Denn wie so viele andere Revolutionäre vor ihm musste auch er eine Niederlage hinnehmen. Und gerade in der Niederlage hatte Prospero besondere Tugenden, eine Haltung, die es verdient, dass man sich an sie erinnert. Er kultivierte keinen schnöden Personalismus. Er verweigerte sich nicht der Diskussion mit denen, die den besonderen Kontext der 1970er Jahre ignorierten. Sein Anliegen war die authentische Weitergabe eines Erfahrungsschatzes an die neuen Generationen. Aus diesem Grund drängte er, dem jegliche Viktimisierung fremd war, auf einen Kampf der Bewegungen für die Freilassung der politischen Gefangenen. Und aus diesem Grund, weit entfernt von jeglichem Protagonismus, erklärte er, wo immer er konnte, die Bedeutung einer Angelegenheit, die durch Schläge der ‘Theorie der ‘Verschwörung, durch interessierte Verzerrungen, durch laute oder subtilere Schematismen verleumdet wurde.

Ja, Prospero Gallinari war ein Kommunist, der, um es mit großen Worten zu sagen, die immanente Überlegenheit der Geschichte zu respektieren wusste. Aber er wusste auch, dass dieser Horizont kein garantiertes Happy End mit sich bringt, und er verbrachte sein ganzes Leben im Dienste eines Spiels, das jedes Mal aufs Neue in den sich ständig verändernden Experimenten des kollektiven Handelns eingegangen werden muss.

Lassen Sie uns abschließend über das Buch sprechen. Der Leser von ‘Ein Bauer in der Großstadt’ hat eine begründete Abfolge von Erinnerungen vor sich. Sie sind im Wesentlichen politische Erinnerungen. Dennoch mangelt es nicht an Aufmerksamkeit für die Dinge des Lebens, für die vielen Bedeutungen des täglichen Lebens. Es geht nicht um das einfache Bedauern des Kämpfers oder des Gefangenen über den Verlust der privaten Zuneigung und der Farben und Klänge der Welt. Es geht um die Beziehung zur Erde und zur Luft, um die Beziehung zur Abfolge der Jahreszeiten, um das aus der kollektiven Handarbeit der Landbevölkerung übernommene Maß. All das war Gallinari in die Wiege gelegt und ging auf seiner Reise in die Metropole keineswegs verloren. Dies führte zu einer besonderen Direktheit. Eine keineswegs naive Offenheit, der der Leser des Buches zwischen den Seiten begegnet, wo der Mann, der Kämpfer und der politische Führer es schaffen, ohne Schnörkel und Narzissmus zu sprechen, mit einer klaren und aufrichtigen Sprache, die die Erinnerung wertvoll macht und sie der Geschichte überlässt.

In der Tat wird viel und zu Recht über die Grenzen und Gefahren von Memoiren gesprochen. Im Fall der Roten Brigaden war davon so viel, vielleicht zu viel, auch deshalb, weil das von der herrschenden Klasse ausgesprochene Verbot der geschichtspolitischen Debatte der Geschichte, dem individuellen Bericht, der mehr oder weniger wahrheitsgetreuen Schilderung gelebter Erfahrungen, eine nicht immer positive Ersatzfunktion zugewiesen hat. Erst jetzt fangen einige Historiker an, mit einem Mindestmaß an Kompetenz zu arbeiten. Und auf jeden Fall fehlt es an einem Gesamtüberblick, an einer Gesamtsicht, die in der Lage ist, die Geschichte des bewaffneten Kampfes in den weiten Raum der italienischen und europäischen Klassenkämpfe der 1970er Jahre sowie in die allgemeinere Geschichte des historischen Kommunismus einzuordnen, von dem die Roten Brigaden ein vollwertiger Teil sind.

Dies ist vielleicht der wichtigste Beitrag, den ‘Ein Bauer in der Großstadt’ sowohl dem neugierigen Leser als auch dem kämpferischen Leser und schließlich dem Wissenschaftler, der sich mit dem Material der Geschichte beschäftigt, bietet. Die Roten Brigaden waren eine revolutionäre und kommunistische Organisation. Sie entstanden in der Arbeiterklasse mit dem ausdrücklichen Ziel, unter den neuen Bedingungen, die der Kapitalismus und die Weltlage nach dem Zweiten Weltkrieg schufen, einen Weg zur Eroberung der politischen Macht zu finden. Sie stießen auf die klassischen Probleme des revolutionären Marxismus und versuchten, sie zu lösen. Sie mussten erfinden, aber sie taten dies innerhalb einer längeren und breiteren Spanne ihrer eigenen Erfahrung. Sie schrieben und theoretisierten, aber ihr Denken war mit einer internationalen Debatte verbunden, die weit über die italienischen Grenzen hinausging und darauf abzielte, die Themen des Leninismus im Land des Biennio rosso, des antifaschistischen Widerstands, der 68er Studenten und der 69er Arbeiter zu reaktivieren.

Es war keine leichte Aufgabe, und Prospero Gallinaris Buch bietet viele Einblicke sowohl in die Verdienste als auch in die Begrenzungen der Roten Brigaden. In jedem Fall strebt der Autor keine Vergünstigungen an. Er ist kein schlechter Verlierer. Er lädt auch nicht die Schuld auf die Epoche, auf Ideologien, auf die Zange des zwanzigsten Jahrhunderts ab, die in totalisierenden Pflichten gefangen ist. Gallinari stellt ganz einfach den Stolz auf die Stärke und die Einheit wieder her, den Schmerz über die Spaltung und die Zerrissenheit, die Fragen, die eine kollektive Geschichte an sich selbst gestellt hat, und hinterlässt sie den nachfolgenden Generationen.

Danach dürfen wir uns nichts mehr vormachen. Wir werden immer noch hören, dass Prospero nur ein Mörder war, und wir werden keine einfachen Antworten haben, denn er hat sicherlich Gewalt gegen diejenigen angewendet, die er als Feinde seines Volkes ansah. Man wird bis zum Überdruss lesen, dass er den Prototyp des fanatischen Kämpfers verkörperte, und man wird sich dem nicht entziehen können, weil er zweifellos auf die bequeme Vollkommenheit des unparteiischen Geistes verzichtete.

Die Wahrheit ist, dass Prospero Gallinari in dieser Welt der Unterdrückung und des Schmerzes den Kommunismus seit seiner Kindheit beim Wort genommen hat und der Hand, die uns seit Jahrtausenden geschlagen hat, zumindest den Biss seiner Zähne gelassen hat. Es ist ein Stolz des Proletariats, solche Individuen hervorbringen zu können, denn auf diesen Unverzichtbaren, wie Brecht sie nannte, beruht die Möglichkeit, eines Tages die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu überschreiten.


“Un contadino nella metropoli. Ricordi di un militante delle Brigate Rosse” von Prospero Gallinari erschien erstmalig 2008, mehr Informationen zum Buch u.a. hier und hier. Das übersetzte Vorwort findet sich im italienischen Original u.a. hier. Der link zu ‘Biennio rosso’ stammt vom Übersetzer.