„Die Gemeinschaft gibt es nie als Einheit,
sondern als Erfahrung.“
Das unsichtbare Komitee
Die Stimmung auf dem Place Klebér ist aufgeladen. Dem am frühen Morgen veröffentlichten Aufruf, sich um 18 Uhr zu versammeln, sind Hunderte gefolgt. Gerade hat der Verfassungsrat die Kernpunkte der Rentenreform abgenickt. Empörung und Missmut wabern durch die Luft. Minütlich werden es mehr. An den Zugangsstraßen bringen die Bullen ihre Truppen in Stellung. Man muss nicht groß zählen, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Menge der Mannschaftswagen auf Grande Île an diesem Abend einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Zum ersten Mal werden vermehrt Vorabkontrollen an den Straßenecken durchgeführt. Eine Stunde lang wird sich gesammelt. Auf mehr Menschen folgen mehr Bullen. Mehr Wut, mehr Bullen. Eine andere Antwort hat das Empire nicht parat.
Schließlich setzt sich die Masse in Bewegung. Vor der Brücke, am unteren Ende der Rue du Vieux-Marché-aux-Poissons, hält sie an. Einzelne Rufen dazu auf, in die Nebenstraßen, tiefer in das Münsterviertel zu ziehen und sich nicht von den dort positionierten Behelmten abschrecken zu lassen. Als sich die Ersten aus der Menge zu lösen beginnen und in die Nebenstraße bewegen, deuten die Beamten Richtung Brücke. Den Menschen in den Restaurants in der Nähe scheint schon zu dämmern, dass sie gleich wohl ihren Platz räumen müssen. Die halbherzigen Aufforderung der Bullen, doch bitte über die Brücke zu ziehen, gehen im Gelächter unter. Tout le monde testet die Polizei. Diese sieht schließlich ein, dass die Verhandlungen per Megafon zu nichts führen und wirft ein paar Tränengasgranaten in die Menge.
Dann eben doch die Brücke. Es gibt kein gemeinsames Ziel, außer sich gemeinsam im Zorn auf der Straße zu finden. Die Brücke Richtung Rivetoile wird abgeriegelt, interessiert aber niemanden. Nach einigem Hin und Her im Stadtteil Krutenau, geht es über den Place d’Austerlitz erneut Richtung Münsterviertel. An der Brücke Sainte Nicolas stehen schon etliche Fahrzeuge samt Insassen und versperren den Weg. Nachdem die Bullen zuvor auf ihre nervliche Belastung geprüft wurden, müssen sie nun auch ihre Kondition unter Beweis stellen, denn als die Demo vor ihnen Richtung Westen am Ufer entlang abbiegt, fällt ihnen auf, dass sie die nächste Brücke gar nicht gesichert haben. Auf der einen Seite des Ufers joggen dunkle Sneaker, auf der anderen Seite hetzen leicht versetzt die Hunde des Kapitals. Das Rennen geht an die Jugend, doch zum Durchatmen bleibt keine Zeit. Die Luft beginnt in der Lunge zu brennen und aus den Augen fließen die Tränen, nachdem die schlechten Verlierer die Kreuzung und Brücke unter Beschuss nehmen. Die schwarze Masse fließt in die dunklen Gassen ab, leckt kurz ihre Wunden und zieht dann unbeirrt weiter.
An der medizinischen Fakultät versuchen die Cops die Menge einzukesseln, diese weicht auf das angrenzende Gelände aus. Auf der anderen Seite eines Zaunes des nahegelegenen Krankenhauses steht ein junger Mann neben einem Rettungswagen. Als er die vorbeiziehenden Menschen bemerkt, lässt er die Sirene des Fahrzeugs erklingen, spendet Beifall und feuert sie an. Die Masse erwidert. Dann geht es Richtung Osten auf der Quai Louis Pasteur weiter. An einer kleinen Fußgängerbrücke sind zwei Bullen auf Motorrädern sich nicht zu schade, jungen Passanten, die gerade Versuchen dem Geschehen aus dem Weg zu gehen, Tränengas vor die Füße zu werfen.
Mit dem Einbiegen auf den Krankenhausparkplatz beginnt sich der wilde Umzug aufzulösen. Innerhalb der nächsten halben Stunde ziehen sich immer mehr Gestalten in dunklen Ecken um und verschwinden in der heraufziehenden Nacht.
Den sozialen Netzwerken ist zu entnehmen, dass gegen 21 Uhr, ungefähr 40 Personen in einem Kessel landen. Verhaftungen gibt es an diesem Abend keine.
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