“Weltweit dürfte keine weitere linksradikale Szene existieren, die ähnlich paradox an einem Ritual der eigenen Konzeptlosigkeit festhält, wie die Berliner am 1. Mai.” So schrieben anarchistische Gefährt*innen 2017 in einem Diskussionspapier im Vorfeld des 1. Mai 2017. Es ist nicht besser geworden seitdem, oder wie es auch heißt: “Schlimmer geht immer”.
Das gleiche Vorbereitungsbündnis das 2021 im Vorfeld verkündete, man wolle “eine friedliche 1. Mai Demo” und das mit der Sorge um die “Schwachen und Verletzlichen” legitimierte (bewusst verschweigend, dass selbst in den wilden Zeiten Ende der 80er und in 90er regelmäßig sogenannte “Kinderblöcke” an den 1. Mai Demos teilnehmen, es also möglich war, dass Menschen mit ihren Kindern ebenso wie Leute, die sich harte Konfrontationen nicht zutrauen oder diese nicht für sich wollen, an der 1. Mai Demo teilnahmen) führte dann 2022 sehendes Auge die Demo in den mit Absperrgitter und Flutlichtmasten vorbereiteten Bullenkessel am Oranienplatz. Wie nicht anders zu erwarten gab es hinterher kein einziges Wort der Selbstkritik angesichts von Dutzenden von Festnahmen und Verletzten, die einzig auf die taktische Katastrophe der Demo-Orga zurückzuführen waren.
Nun also die nächste katastrophale Routenführung, die es den Bullen ermöglichte entlang der gesamten Route alle Querstraßen hermetisch abriegeln, wie schön wäre es doch z.B. gewesen die ganze Länge der Sonnenallee hinunterziehen, mitten durch die Welt der von den rassistischen Medien und der politischen Klasse gefickten “Parallelgesellschaft”, um am Ende der rebellischen Jugend der High Deck Siedlung aufständische Grüße zu entbieten.
Stattdessen also nur Ohnmachtsgefühle und Frustration im riesigen Bullenkessel am Kottbusser Tor und in den angrenzenden Straßenzügen, Entkommen nur möglich als Gnadenakt der Bullen, die den gedemütigten Gegner auch noch von ihrem Lautsprecherwagen aus verhöhnten mit ihrem “Chillt mal Leute”.
Und die Demo Orga haut sofort ihre nächste von ChatGPT produzierte Ansammlung von Phrasen raus, diesmal eine Pressemitteilung, in der sie sich “Sorgen um die “demokratischen Rechte” macht. Was soll man auch von Menschen erwarten, die im gegenwärtigen Zyklus des Klassenantagonismus, der von Corona Ausnahmezustand, innerimperialistischen Krieg, Inflation und dem im Preis inbegriffenen Ende der Welt wie wir sie kennen, gekennzeichnet ist, mit “Brot, Frieden und Sozialismus” hausieren gehen, als wenn die IV. Internationale die gegenwärtige Klassenkonfliktualität repräsentieren würde.
Den Abend gerettet haben dann ein paar hundert Leute, die am Heinrichplatz die Tradition gewahrt haben und sich auch von etlichen Hundertschaften der Bullen nicht haben einschüchtern lassen und darauf beharrten, dass ‘ganz Berlin die Polizei hasst’.
Erinnerungen generierten an jenen milden Abend des 1. Mai 2020, als “wir in der Oranienstraße das Lächeln wiederfanden”. Kein angemeldeter Umzug, keine Zehntausend, Zwanzigtausend, mit denen sich selbsternannte Revolutionäre brüsten konnte, die Tatsache ihrer eigentlichen völligen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit überspielend, nur vielleicht um die 2000 Menschen, von denen aber jede und jeder wußte warum sie oder er da war. Unkontrollierte Zickzack-Bewegungen durch das Viertel, das in den Jahren zuvor fest im Würgegriff des Myfest Ballermann gefangen war. Schwitzende, abgehetzte Bulleneinheiten, denen es sichtlich schwer fiel “vor die Lage zu kommen”. Die eine oder andere Barrikade, die eine oder andere offensive Aktion. Nichts Weltbewegendes, aber ein Abbild der realen Situation. Von da aus hätte etwas Authentisches aufgebaut werden können. Im bewussten Bruch mit einer totgerittenden Tradition.
Die innovativste Aktion zum 1. Mai in Berlin seit längerer Zeit organisierten Übrigens ausgerechnet die Nazis 2010, die trotz Observation durch die Bullen unangemeldet mit mehreren hundert Leuten über den Kurfürstendamm marschierten und erst nach fast einer halben Stunde von eilig herbeigekarrten Hundertschaften gestoppt werden konnten.
So oder so braucht es neue Wege und den Mut diese zu gehen, auch wenn die Anfänge mühselig sein werden. Es gibt so viele Menschen, die grundsätzlich die Schnauze haben vom Gegenwärtigen, wer sich am Vormittag des 2. Mai außerhalb der Blase bewegte, konnte dies hören: “Ich hasse diese Regierung, erst Corona, dann der Krieg und die Inflation.” Für diese Menschen könnte der 1. Mai wieder ein Ort sein, an dem sie mit ihrer Wut nicht allein sind, ein Ort an dem sie ihre Würde wiederfinden könnten, ein Ort, der der Vereinzelung und Ohnmacht kollektive Prozesse der Subjektivität entgegensetzt. Die sogenannte Revolutionäre 1. Mai Demo in Berlin war dieses Jahr ganz sicherlich nicht solch ein Ort.
“Das Geheimnis sitzt nicht verkrochen im Hintergrund. Es steht- im Gegenteil! – ganz nackt vor unserer Nase. Es ist das Selbstverständliche. Darum sehen wir es nicht. Das Alltägliche ist der größte Räuberroman, den es gibt. Wir gehen jede Sekunde achtlos an tausenden Leichen und Verbrechen vorbei. Das ist unsere Lebensroutine.”
Das Unsichtbare Komitee: Jetzt
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