Strasbourg am 1. Mai – Ein Treffen mit dem kleinen Prinzen

Wenn nach fünf Monaten der Mobilisierung die Omas und generell die Menge dem „schwarzen Block“ applaudieren, der sich am Ende der Demo verabschiedet, um sich mit der Polizei anzulegen, muss man sich wirklich fragen, auf welchem Niveau sozialer Spannung wir uns befinden.“

– Tweet über Strasbourg am 01.05.23

Mit einem letzten Knall verabschieden sich die Gewerkschaften auf der Rue de la Liberté. Die Druckwelle der Gasexplosion lässt den Puls ansteigen und bereitet den Körper auf die kommenden Auseinandersetzungen vor. Auf den letzten Metern hatten sich, im Schutze der sich langsam auflösenden Menge, die Antagonisten bereits umgezogen und in Teilen schon für die kommende Konfrontation bewaffnet. Schwarze Regenjacken bahnen sich ihren Weg zurück durch den Demonstrationszug, lassen erste Bushaltestellenscheiben zerbersten und entfachen kleine Müllfeuer. Der Teil des Blocs, der nicht bis zuletzt der Demo beigewohnt oder sich im hinteren Teil versteckt bewegt hatte, wartet auf der Kreuzung vor dem Palais Universitaire. Auf dem Weg dorthin grüßen uns die Alten und stimmen lautstark mit in die Parole „Nous aussi on va passer en force“ ein. Mit rund 200 Personen ziehen wir von dort weiter Richtung Avenue de la Forêt-Noire. Kurz vor der Kreuzung kommt es dann zur ersten Auseinandersetzung mit den flics.

Diese blockieren mit Einsatzwägen die Kreuzung und schicken Kräfte, bewaffnet mit Schildern und Knüppeln in den Hagel aus Flaschen, Farbbeuteln und Steinen. Nachdem alle, die wollten, ihren Hass per Flugpost übermittelt haben, dreht die manif sauvage um. Auf dem Weg Richtung Boulevard de la Victoire werden Flaschencontainer und Baustellen geplündert, um sich für die nächste Begegnung zu wappnen. 

Zurück Richtung Wasser, durch das Ende der 1. Mai Demonstration. Die Leute machen Platz und freudig grüßen uns die kurdischen Genossen. Kurz darauf werden die Bullen auf der Brücke Saint-Guillaum unter Beschuss genommen. Diese antworten mit Tränengas und sind sich nicht zu schade, nicht nur den Platz vor der Brücke mit Tränengas zu füllen, sondern schießen auch weit in das Ende der Gewerkschaftsdemonstration hinein. Alte und Kinder kreuzen weinend und schreiend meinen Weg durch den dichten Tränengasnebel. Nach einer gemeinsamen Sammel- und Atempause geht es hinauf Richtung Place de la Republic. Auf dem Weg dorthin wird versucht, die Brücke de la Poste Richtung Grande Île zu überqueren. Auch hier schaffen die Bullen es nur den Bloc abzuwehren, indem sie weit bis in den hinteren Teil hinein Tränengas schießen. Langsam beginnt es zu regnen. Ein Gewitter zieht auf.

Nach dieser letzten Attacke versucht der Bloc einen Weg hinaus aus den Straßen rund um die Préfecture de la région Grand-Est et du Bas-Rhin zu finden. Von vorne, hinten, links und rechts, von überall regnet es Tränengas und schnell wird klar, dass es nur noch darum geht uns fertig zu machen. Wie zischende Glühwürmchen tanzen die Funken sprühenden Kartuschen zwischen unseren Füßen über den nassen Asphalt. Auf der Suche nach einem Ausweg und einem Ort, an dem das Atmen noch möglich ist, erhöht sich das Tempo unserer Füße stetig. Auf der Avenue des Vosges stehen wir plötzlich im Kessel. Die Cops lassen niemanden entweichen und feuern ohne Pause weiter mit Tränengas in die Straße. Mund, Nase, Augen, alles brennt. Panik macht breit und plötzlich, wie aus dem Nichts, steht er da. 

Ein kleiner, grinsender blonder Junge, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Er winkt uns zu und hält eine Tür zu einem Hauseingang offen. Wir eilen hindurch und der kleine Prinz führt uns wortlos durch den Hinterhof in ein Treppenhaus. Dann ist er verschwunden. Eine halbe Stunde verbringen wir hier. Waschen unsere Augen aus, ziehen uns um und lauschen dem Gewitter über der Stadt. Dann taucht ein älterer Herr auf, vielleicht der Hausmeister und teilt uns lächelnd mit, dass die Straße nun sicher wäre und die Bullen sich nach der Räumung eines anderen Hauses verzogen hätten. In kleinen Gruppen verlassen wir das Gebäude und verstreuen uns in den Straßen. Auf dem Heimweg sehe ich den kleinen Jungen noch einmal aus der Ferne. Freudig geht er, fast hüpfend durch den Regen. Dankbar blicke ich ihm nach und dieses Mal tränen meine Augen natürlich. 

Wenn ein Kind zu euch kommt, wenn es lacht und wenn es goldene Haare hat, wenn es nicht antwortet, wenn man es ausfragt, dann wisst ihr schon, wer es ist. Also seid freundlich! Lasst mich nicht weiter traurig sein: schreibt mir schnell, dass er zurückgekommen ist …

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