Die neoliberale Verschwörung

Ezra Riquelme

“Gewiss, Verschwörungen gibt es, und wir können leicht zugeben, dass die Mont-Pèlerin-Gesellschaft einer Verschwörung so nahe kommt, wie wir hoffen können, Beweise dafür zu finden; aber die bloße Entdeckung einer Verschwörung sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass es ihr gelungen ist, ihre Ziele in der von ihr beabsichtigten Weise zu verwirklichen, oder dass sie die organisierende Kraft ihrer eigenen Verwirklichung gewesen ist. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht davon ausgehen, dass der Neoliberalismus nur durch die Umgehung demokratischer Institutionen und des Volkswillens an die Macht gelangen kann.”

Damien Cahill & Martijn Konings: Neoliberalism: A Useful Concept?

Man hört immer wieder, dass sich die Ära des Neoliberalismus ihrem Ende nähert. Einige, wie der dümmliche Francis Fukuyama, fordern eine Rückkehr zum früheren Stadium, dem Liberalismus. Dicht gefolgt werden sie von der Linken, die davon träumt, der ganzen Welt den Keynesianismus aufzuzwingen. Angesichts dieser unterschiedlichen Perspektiven kann man sich einige Fragen stellen. Vielleicht wäre es besser, sich gegen solche Perspektiven zu stellen und von einem anderen Blickwinkel aus auf die neoliberale Ära zu schauen, um sie an ihren Wurzeln zu packen. Nach einer weit verbreiteten Definition bezeichnet der Neoliberalismus eine Untergruppe von Wirtschaftsdoktrinen und -analysen. Für manche entspricht er einer Abkürzung des Versuchs, die Sequenzen von The Age of Enterprise oder der New Deal Ära zu (v)erklären. Dennoch ist der Neoliberalismus nicht einfach nur eine Ideologie oder eine historische Sequenz, die durch die Beschränkung der Rolle des Staates auf die Bereiche Wirtschaft, Soziales und Recht bestimmt wird und der Öffnung neuer Geschäftsfelder für das Gesetz des Marktes Platz macht. Der Neoliberalismus ist weit mehr als das: Er ist die größte realisierte Verschwörung des 20. Jahrhunderts.

Die Tatsachen und Auswirkungen dieser Verschwörung zu leugnen, bedeutet, sich selbst der chronischen Unfähigkeit zu unterwerfen, eine parteiliche Denkweise der damaligen Zeit beleben zu können. Die Verschwörung, die die Mont-Pèlerin-Gesellschaft darstellte, gab den Ton für die aktuellen Operationen der Kapitalentfaltung und deren laufende Neukonfiguration an. Denn 1947 gründete sich die Mont-Pèlerin-Gesellschaft auf folgende historische Koordinaten: den Zusammenbruch des liberalen Lagers und die fast vollständige Hegemonie des Keynesianismus. An der ersten Konferenz nahmen 37 Personen teil, darunter Milton Friedman, Friedrich Hayek, Karl Popper und Ludwig von Mises, die den Sozialismus auf epistemologischer Ebene widerlegen wollten. Letzterer kann sich davon nicht erholen und wird sich voll und ganz zum Neoliberalismus bekehren. Die Mont-Pèlerin-Gesellschaft knüpft ein weites Netz von Komplizen außerhalb des Feldes der Ökonomen, sowohl in der Verwaltung als auch in der Geschäftswelt und in den Medien. Sie werden ihre politischen Ziele nie offenlegen, sondern ihre Strategien geschickt verbergen und über Jahrzehnte hinweg methodisch ihre Säkularisierung aufbauen, noch bevor sie sich an der Spitze der Regierung etabliert haben. Ihre Epistemologie ist ein wirksames Mittel, um jedes andere Verhältnis zur Welt nutzlos zu machen. Popper entwickelt unter dem Deckmantel der Suche nach Plausibilität einen vollkommenen Relativismus. Für ihn muss jede Theorie wissenschaftlich begründet werden, da sie sonst automatisch widerlegt wird. Nach dieser Theorie ist alles komplexer, als es scheint: Kurz gesagt, alles entzieht sich uns. Dies ist der erhoffte Effekt der von Popper propagierten “Logik der Situationen”. Er wendet die Methode der Wirtschaftstheorie auf die Sozialwissenschaften an. Dieser vom Markt bestimmte Relativismus zerschlägt jeden Versuch, sich auf die Welt zu beziehen. Man kann sich nur an ihn anpassen. So wird alles widerlegt, was sich nicht auf seine epistemologischen Gesetze bezieht.

Der Neoliberalismus entwickelt ein politisches Projekt, um das zu implementieren, was sie als Gesellschaft der Märkte entworfen haben. Ihre Vorstellung vom Markt ist eine Ansammlung zwischenmenschlicher Dispositive, die durch eine Reihe von Interventionen aufgebaut wird, die bestimmte berechenbare Ergebnisse hervorbringen. Der Markt wird zum Eckpfeiler des Kapitalismus. Sie heben hervor, dass dieser die Funktion hat, die Bewertung und Verbuchung jedes noch nicht messbaren Phänomens zu verallgemeinern. Alles muss eine Sache der Messung sein, um der Plausibilität der Wissenschaft unterworfen zu werden. Alle neoliberalen Strategien bestanden darin, durch die Säkularisierung ihrer Wahrnehmungsebene und ihrer auf die ganze Welt angewandten Methodik ununterscheidbar zu sein. Das Aufkommen von Consultingunternehmen und ihr Einfluss auf die Politik zeigt die ganze Effektivität der von der Mont-Pèlerin-Gesellschaft konzipierten Operation. Selbst die Verbreitung von Kryptowährungen wird von neoliberalen Instanzen wie dem Center for American Progress gefördert. Manche ziehen es seltsamerweise vor, dies mit dem Libertarismus in Verbindung zu bringen, aber die Neoliberalen beherrschen die Kunst der Täuschung. Es wird fälschlicherweise angenommen, dass der Neoliberalismus eine Verunglimpfung des Staates beinhaltet – doch dies ist alles rein rhetorisch. In der Manier von Hayek und Friedman, die bewusst das Bild eines Neoliberalismus kultivierten, der darauf bedacht war, die Liberalisierung der Märkte zu fördern, indem er die Rolle des Staates einschränkte, erkannten sie gleichzeitig an, dass der Staat, auch in seiner autoritären Form, mit der Bildung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsordnung auf der Grundlage des Privateigentums vereinbar ist. Der Historiker Philip Mirowski beschreibt diese Strategie als “the double truth doctrine”, bei der die Neoliberalen öffentlich für freie Märkte und “schlanke” Staaten eintreten, während sie bei ihren privaten Treffen mit der politischen Elite die staatliche Durchsetzung des Marktgesetzes propagieren.

Die neoliberale Verschwörung hat die politische, soziale und wirtschaftliche Sphäre tiefgreifend verändert. Zunächst in Großbritannien und den USA, dann auch im Rest der Welt. Die erste Implementierung versuchte, die bestehenden Grundlagen des Wirtschaftswachstums, der Produktivität und des Werts zu unterwandern, während sie gleichzeitig eine enge Allianz mit der staatlich gestützten Forschung sowie dem Markt für neue Technologien und dem Finanzkapital schmiedete. Genau genommen wird das neoliberale Projekt der USA einen aufmerksamen Blick auf die Biowissenschaften und ihre Disziplinen werfen. Der Neoliberalismus hat eine neue Biopolitik entwickelt, indem er den im gesellschaftlichen Reproduktionsmodell des Wohlfahrtsstaats und des New Deal etablierten Charakter des Lebens umgestaltet, um jene neue Biopolitik zu etablieren, die darauf abzielt, die Zusammenführung zwischen den Sphären Produktion/Reproduktion, Arbeit/Leben, Markt/Lebewesen operationalisierbar zu machen. Das Ziel ist klar: Der Neoliberalismus versucht, aus der Gesamtheit der Sphären des Lebens und des Biologischen Kapital zu schlagen, um seine Finanzialisierung zu ermöglichen. Unter diesem Einfluss hat Reagan die amerikanische Wirtschaft nach postindustriellen Gesichtspunkten umgestaltet. Ganz besonders in der Verknüpfung von neoliberalen Wachstums- und Krisentheorien mit der Entwicklung neuer Technologien in den Biowissenschaften. Zwischen dem Neoliberalismus und der Biotech-Industrie gibt es einen gemeinsam eingeschlagenen Pakt zur Überwindung der ökologischen und ökonomischen Grenzen. Um die Bedingungen für diese Überwindung zu schaffen, ist es notwendig, die biotechnologische Infrastruktur zu entfalten. Daher die alte Idee, den Weltraum zu kolonisieren. Die Kolonisierung des Mars ist nicht nur in den Köpfen von Jeff Bezos und Elon Musk.

Die neoliberale Biopolitik, die durch die Entwicklung der Biotechnologie forciert wird, räumt den Weg für die Entstehung von Biocitizenship frei. Durch die Verwirklichung von Gary Beckers Theorien über das “Humankapital” wird der Körper zu einem Kapital, das es zu pflegen gilt. Die Bildung von  Biocitizenship materialisiert die Bioökonomie, d. h. die Funktion des Bio-Citoyen besteht darin, seine biologischen und körperlichen Möglichkeiten zu optimieren. Diese Logik ermöglicht den Wettlauf von Forschern und Pharmaunternehmen und beschleunigt die Prozesse, die zur Vermarktung ihrer neuen Produkte führen, indem sie die Gesetze zu klinischen Tests umgehen. Dies führt dazu, dass alle Formen des menschlichen Lebens zu Meerschweinchen werden. Das bedeutendste Beispiel dafür ist die Sequenz von Covid-19 und seinen Impfstoffen, in der ein Großteil der Weltbevölkerung zu Laborratten degradiert wurde. Dadurch konnte der revolutionäre Zyklus von 2019 abrupt gestoppt werden, indem die wirtschaftliche Ordnung wiederhergestellt, die Autoritäten (Polizei, Wissenschaft, Medien, Unternehmen, Staaten) wieder eingesetzt und der ausschließliche Horizont –  regiert zu werden -, wiederhergestellt wurde. Das neoliberale Projekt besteht darin, akribisch alle Bifurkationen zu zerstören, d. h. die Verbreitung des Kommunismus materiell und geistig unmöglich zu machen. Dieser Krieg wird seit dem Zweiten Weltkrieg wissentlich geführt. Madsen Piries Mikropolitik zeigt die strategische Vorrangstellung des “politischen Ingenieurwesens”. “Mikropolitik konzentriert sich auf die Schaffung von Strategien, die die Entscheidungen der Menschen verändern, indem sie die Bedingungen für diese Entscheidungen verändern.” Die Ideen folgen den Siegen der neoliberalen Mikropolitik, die die Umrisse des Regierens der Dinge durch die Herrschaft der Umwelt zeichnet.

Erschienen im französischen Original am 15. Juni 2023 auf Entêtement, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.