Ivan Segré
Am Samstag, dem 7. Oktober, startet die Hamas im Morgengrauen den größten bewaffneten Angriff auf israelisches Gebiet, der seit dem Jom-Kippur-Tag im Jahr 1973 unternommen wurde.
Die ewigen Stellungnahmen der einen, die den Angriff der Hamas verurteilen und das Recht Israels auf Selbstverteidigung bekräftigen, und der anderen, die den israelischen Siedlungsbau verurteilen und das Recht der Palästinenser auf Selbstverteidigung bekräftigen, sind bereits zu hören.
Es ist also besser, den Ton abzustellen. Und die Augen zu öffnen.
Seit Monaten erhebt sich die Zivilgesellschaft in Israel gegen die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte des Landes. Zunächst konzentrierte sich der Protest auf die von dieser Regierung angestrebte Justizreform, begann sich aber seit mehreren Wochen auch auf die Palästinafrage auszuweiten. Auch hochrangige Armeeangehörige und Tausende von Reservisten schlossen sich der Bewegung an, und zwar in einer Weise, die noch vor wenigen Monaten unvorstellbar gewesen wäre. Eine mögliche Revolution war im Gange.
Nun wollen weder der Iran der Ayatollahs noch die Hamas, die Hisbollah, Assads Syrien usw. eine Revolution, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie verstehen. Was sie wollen, ist, dass der Konflikt zwischen der arabisch-muslimischen Welt und Israel alle Kräfte und Köpfe in dieser Region der Welt in Anspruch nimmt, damit es keine Revolution in unserem Sinne gibt, sondern nur die Konterrevolution.
Das ist der Sinn des Angriffs der Hamas am Vorabend des Festes Sim’hat Tora (Freude an der Tora), das auf einen Schabbat fällt, an diesem Samstag, dem 7. Oktober 2023.
Sie wählen immer ein symbolträchtiges Datum, egal ob die Angreifer Nationalisten der Konterrevolution sind, wie an Jom Kippur 1973, oder Islamisten der Konterrevolution, wie an Sim’hat Tora 2023, 50 Jahre und einen Tag später.
Nichts wird dem Zufall überlassen. Alles setzt ein Zeichen. Die “Flut von Al-Aqsa” bricht am Sim’hat Torah über den jüdischen Staat herein. Es soll ein Krieg des Islam gegen die jüdische Präsenz in Palästina, wenn nicht sogar gegen das Judentum als solches sein.
Netanjahu wird also mit dem Finger auf die Hamas zeigen und den Protestierenden sagen können: “Euer Feind ist die Hamas, nicht ich”.
Und er wird Recht haben.
Denn der Angriff der Hamas richtete sich nicht gegen die Politik der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte des Staates Israel. Es war ein Angriff auf die Zivilgesellschaft, die deren Legitimität auf eine Weise in Frage stellte, die es seit Januar 2023 nicht mehr gegeben hatte.
Viele von uns ahnten, dass ein Angriff der Hamas das sofortige Ende der möglichen Revolution bedeuten würde…
Bei diesem Angriff der Hamas geht es kurz-, mittel- und langfristig darum, den Protest zum Schweigen zu bringen, ihn buchstäblich irrelevant zu machen, sowohl innerhalb Israels als auch innerhalb Palästinas, damit nur noch die Waffen das Wort haben, als in Israel das Wort begann, die Oberhand über die Waffen zu gewinnen.
Die Baath-Partei in Syrien, die Hisbollah im Libanon, die Hamas in Palästina, die Ayatollahs im Iran etc.: Sie streben nach der gleichen Welt; sie betreiben die gleiche Politik.
Sich vorzustellen, dass Widerstand gegen die kapitalistische Verwüstung der Welt heute im Namen des “Hauptwiderspruchs” erfordert, punktuell die Sache dieser tyrannischen Obskurantismen zu umarmen, bedeutet also entweder, sich die Revolution unter grundlegend nihilistischen Begriffen vorzustellen, oder einen Weg gefunden zu haben, den Namen Israel zu hassen, oder beides gleichzeitig, untrennbar miteinander verbunden.
Erschienen am 9. Oktober 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.