Stille und sprache

Arante

1. Dialekte

Es gab eine Zeit, in der Sprache nur eine Möglichkeit unter den unendlich vielen möglichen Dingen war. Auf der Erde begannen einige der Hominiden, wie die Vögel zu singen. Man sang, bevor man sprach. Und das Sprechen war ein Fluss, der eine lange Stille auswusch. Eine erste Stille. Heute möchte ich über eine neue Stille sprechen.

Wie formuliere ich die Frage? Die Intuition scheint mir klar zu sein, aber ihr Erscheinungsbild bleibt rätselhaft. Ich habe Stille gesagt, aber wir werden sofort vom Sprechen sprechen. Von der Sprache, vom Sprechen. Eine gewisse Etymologie des Verbs “beginnen” eröffnet das Bild eines gemeinsamen Weges nach innen. Wir können mit einigen recht aktuellen Worten von Giorgio Agamben beginnen. Ich werde Ihnen drei Auszüge aus seiner Rede auf der Konferenz der Studenten in Venedig gegen den Green Pass, den italienischen Gesundheitspass, vorlesen. Diese Auszüge fassen einige Thesen, die Agamben seit langem formuliert, recht gut zusammen. Doch die Aktualität verstärkt ihre Kraft noch mehr :  

“Die Hypothese, die ich Ihnen nahelegen möchte, ist, dass die Transformation des Verhältnisses zur Sprache die Bedingung für alle anderen Transformationen der Gesellschaft ist. Und wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, dann liegt das daran, dass die Sprache per definitionem in dem, was sie benennt und uns zu verstehen gibt, verborgen bleibt. Wie ein Psychoanalytiker, der auch ein wenig Philosoph war, sagte: ‘Dass man etwas sagt, bleibt hinter dem, was gesagt wird, vergessen’” [1].

Diese erste Hypothese wird der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sein. Halten wir fest, dass sie nicht einfach von der Sprache und ihrer konstitutiven Rolle für eine Kultur spricht. Sie spricht von der Beziehung zur Sprache. Das müssen wir im Folgenden berücksichtigen. Wenden wir uns dem zweiten Auszug zu:

“Und was wird heute als Wissenschaft bezeichnet, wenn nicht eine Sprachpraxis, die dazu tendiert, jede ethische, poetische und philosophische Erfahrung des Sprechens beim Sprecher zu eliminieren, um die Sprache in ein neutrales Werkzeug zum Austausch von Informationen zu verwandeln?”

Agamben zufolge verkörpert die Wissenschaft ein Verhältnis zur Sprache von extremer Relevanz. Für ihn verwandelt die Wissenschaft die Sprache in ein Mittel zum Austausch von Informationen. Behalten wir die Idee eines Verhältnisses zur Sprache im Hinterkopf, das eine formale Transzendenz impliziert. Diese Transzendenz, die die rechte (‘richtige’) Sprache vorgibt, erschafft die Sprache. Die ethische – und poetische – Reduktion ist das Ergebnis einer Operation der Ableitung. Wenden wir uns dem dritten Auszug zu:

“Die erste Aufgabe, die vor uns liegt, ist also, eine frühlingshafte und fast mundartliche, d.h. poetische und denkende Beziehung zu unserer Sprache wiederzufinden. Nur so können wir aus der Sackgasse herauskommen, in die die Menschheit geraten zu sein scheint und die höchstwahrscheinlich zum Aussterben führen wird – wenn nicht physisch, so doch zumindest ethisch und politisch. Das Denken als einen Dialekt wiederentdecken, der unmöglich zu formalisieren und zu formatieren ist”.

Dieser dritte Absatz, der die Rede abschließt, vervollständigt ein Bild, in dem man einige strategische Markierungen hervorheben könnte. Erstens sagt uns Agamben, dass wir ein anderes Verhältnis zu unserer Sprache finden müssten. Während die Idee der Sprache eingefangen und den modernen Vermittlungsinstanzen wie der Schule, den Akademien, den Instituten, den verschiedenen Massenmedien usw. unterworfen wurde, müssten wir ein mundartliches, poetisches und denkendes Verhältnis finden. Ein mundartliches Verhältnis stellt uns bereits gegen den Strom der Idee einer vereinheitlichenden, nationalen und, wenn man so will, Sprache des Souveräns. Der Dialekt fließt über, in seinem mundartlichen Fortbestehen. Der poetische und denkende Charakter eines subversiven Verhältnisses ergibt sich aus der dem Dialekt. In ihm sind primitive Produktionsprinzipien am Werk. Wir ignorieren diese Prinzipien schrecklich. Und das schon seit langer Zeit.

Für Agamben gibt es eine Front innerhalb der Sprache, und es gibt einen Weg, zu einer Offensivität zu finden, indem wir unsere Beziehung zu ihr neu begründen. Die vorgeschlagene Inversion schlägt deshalb eine mundartliche Sprache und den Weg der Dialekte vor. Aber es geht nicht nur darum, die Dialekte zu lesen, zu schreiben und zu sprechen. Der Schlüssel liegt, zumindest teilweise, woanders. Man könnte ein mundartliches Verhältnis zur Sprache haben, auch wenn man Französisch spricht. Wenn man Französisch im Dialekt spricht, sicherlich. Aber was bedeutet das?

Im Folgenden werden wir versuchen, ein wenig zu verstehen, was die Merkmale dieses mundartlichen Verhältnisses sein könnten. Das ist der grundlegende Punkt. Der Faden, dem wir folgen müssen.

Aber bevor wir fortfahren, wäre es gut, ein wenig am Ende des Absatzes zu verweilen, den wir gerade gelesen haben: “Nur so können wir aus der Sackgasse herauskommen, in die die Menschheit geraten zu sein scheint und die höchstwahrscheinlich zum Aussterben führen wird – wenn nicht physisch, dann zumindest ethisch und politisch”.

In dieser Zeit des Endes sind wir mit zwei Auslöschungen konfrontiert. Einer physischen und einer, die man als spirituell bezeichnen kann. Zwei Auslöschungen, die der gleichen Bewegung entspringen. Verstehen wir uns richtig: Zwei bedeuten Eins. Diese Verdoppelung, materiell und geistig, dient dazu, die Rolle der Sprache innerhalb dieser Erzählung einzuordnen. Das heißt, um die Verwüstung und ihre Ursachen besser zu verstehen. Wie bereits gesagt: Weil sich die Sprache hinter dem Gesagten verbirgt, spürt man die Verwüstung nicht direkt und ständig. Die Stille, von der ich ganz am Anfang gesprochen habe, die neue, wachsende Stille, ist das Gegenstück zum Informationslärm. Dieser Lärm, der von der Technik erzeugt wird, wird durch ein Verhältnis zur Sprache bestimmt. In diesem Sinne wäre ein Dialekt, der unmöglich zu formalisieren oder zu formatieren ist, lebenswichtig, wie Agamben sagt.

 2. Ein morbides Verhältnis

Man kann sagen, dass sobald über die Herrschaft des Kapitals nachgedacht wurde, auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Kapital in gewisser Weise bereits formuliert wurde. Von dem Moment an, als man bewusst versuchte, der ideologischen Herrschaft entgegenzuwirken, indem man sich organisierte und gegen das Kapital schrieb. Dies trifft zumindest teilweise zu. Bei Marx ist die Frage bereits bildlich dargestellt. Die Ideologiekritik zeichnete den Umriss eines Kampfraums, in dem die bürgerliche Sprache und Kultur konfrontiert werden sollten. Aber dieser Weg wird im Allgemeinen eminent wissenschaftlich sein. Das bedeutet, dass es darum geht, eine Wahrheit in der Sprache oder eine Sprache der Wahrheit wiederzufinden. Wir leiden noch immer unter den sprachlichen, politischen und emotionalen Auswirkungen davon. Das hindert uns nicht daran, anzuerkennen, was der Marxismus leistet. Die Frage berührt etwas anderes.

Man kann sagen, dass in den Marxismen im Allgemeinen die Produktion von Kritik immer noch die logozentristische Form annimmt. Wobei der Logozentrismus folgendermaßen definiert werden kann: “eine einzige Sprache”, oder aus einer anderen Perspektive “eine übergeordnete Sprache”. Die Probleme, die mit diesem Weg verbunden sind, wurden schon vor langer Zeit angesprochen. Michel Foucault und seine Ontologie unserer Selbst und vor allem die Dekonstruktion, die von Jacques Derrida vorgeschlagen wurde, sind in diesem Sinne unumgängliche Größen. Was jedoch für die Zukunft wichtig ist, ist die Existenz einer Traditionslinie, die die Sprache auf strategische Weise berücksichtigt, indem sie auf ihre konzentrische Form fixiert bleibt. Dies ist das Gegenteil des mundartlichen Weges, von dem wir gerade gesprochen haben. Es ist nachvollziehbar, wie sich aus jeder dieser möglichen Richtung unterschiedliche Ideen des Kommunismus ergeben könnten.

Die sogenannte ontologische Wende liefert uns ein zeitgenössisches Beispiel für ihre eigenen Merkmale. Man spricht von der ontologischen Wende, die von einigen Anthropologien initiiert und von der politischen Ökologie, die mit dieser Bewegung in Verbindung gebracht wird, ausgeweitet wurde. Grundsätzlich geht es um die Dezentralisierung der Menschheit, ausgehend von einigen durchaus mächtigen Thesen, auf dem Feld der westlichen Metaphysik. Was jedoch offensichtlich scheint, ist, dass die Literatur, die sich aus dieser Perspektive ergibt, keinen wirklichen Bruch mit den Strukturen der Sprachproduktion vorantreibt. Wie könnte man der westlichen Metaphysik etwas entgegensetzen, wenn die Struktur der modernen Sprachproduktion selbst bestehen bleibt? Die Produktion einer Poetik und einer Sensitivität ist in der Tat im Gange. “Wir müssen den Planeten retten”. Dort tauchen die totalisierenden Züge auf mehr oder weniger subtile Weise auf. Es bräuchte mehr Zeit, um diese Frage, die heutzutage so entscheidend ist, zu erörtern. Die Ökologie ist eine Sprache, die sich als das Eine denkt. So kann die Herstellung von Stille auch die Etablierung einer neuen Sprache sein.  

Man kann sagen, dass das morbide Verhältnis zur Sprache expandiert, sobald die Frage nach dem Verhältnis als solchem nicht gestellt wird. Um auf Agamben zurückzukommen, müsste man reflektieren, wie das, was man als informationelles Verhältnis zur Sprache bezeichnen könnte, das mundartliche Verhältnis hemmt. Das bedeutet, dass die Auswirkungen dieses informationellen Verhältnisses nicht nur “physische” Zerstörungseffekte zur Folge haben, die wir mittlerweile gut kennen, sondern auch unsere Fähigkeit bestimmen, zusammen zu sein, zu denken und den Dingen selbstständig Bedeutung zu verleihen.

Die Entwicklung der Wissenschaften und der technologisch-wissenschaftlichen Rationalität sind ein grundlegendes Element in der Entwicklung der Sprache in Richtung Information. Dies ist ein Auszug aus Heideggers ‘Was ist Metaphysik?’ Dieses Fragment gibt uns einen Zugang zum Informationsverhältnis. Heidegger spricht über die Wissenschaft :

“In den Wissenschaften vollzieht sich – der Idee nach – eine Bewegung des Kommens in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge.

(…)

Die Wissenschaft hat ihr Unterscheidungsmerkmal darin, dass sie ausdrücklich und ausschließlich, auf eine ihr eigene Weise, der Sache selbst das erste und das letzte Wort gibt.”

Es ist diese Treue zur Sache selbst, die den Kern des Informationsverhältnisses ausmacht. Indem man die Sache für sich selbst sprechen lässt, entsteht Schweigen. Aber, was sind die Merkmale dieses Sprechens? Auf jeden Fall scheint es, dass seine Auswirkungen auf die Sprache über den wissenschaftlichen und technischen Bereich hinausgehen. Wenn Bruno Latour zum Beispiel die Idee des Parlaments der Dinge vorstellt, projiziert dies nichts anderes als eine neue Ökonomie der Repräsentation. Wir können jetzt nicht näher auf Latours Projekt eingehen. Was uns interessiert, ist, was die Treue zur Sache selbst mit dem Latourschen Projekt verbindet, das als Integration in die Repräsentation gilt, die den Anspruch erhebt, die Ebene der Souveränität zu reformieren. Diese Verbindung eröffnet also die Frage nach der Präzisierung. Das heißt mit klaren und genauen Zuschnitt. 

Aber, was bedeutet “präzisieren” eigentlich? Wir müssen uns fragen, wo der Ort der Präzision in unserer Sprache ist. Zunächst einmal sollte man Ordnung nicht mit Präzision verwechseln. Wenn wir von Präzision sprechen, beziehen wir uns nicht unbedingt auf einen bestimmten rationalen Rahmen. Mit anderen Worten: Ein Bemühen um Präzision hat in der Sprache nicht notwendigerweise ein reduktives, d. h. klassifizierendes Ziel. In diesem Sinne eröffnet das wissenschaftliche Sprechen nicht den gesamten Sinn der Genauigkeit. Das treffende Wort wird mit der Sprache geboren. Es hat seine eigene Kohärenz und haftet auf vielfältige Weise an der Sprache. Die Assoziationen sind oft völlig unklar und verlieren sich in der Nacht des Unbewussten.   

Andererseits kann man, obwohl man auf den ersten Blick Präzision mit Eindeutigkeit in Verbindung bringen kann, nicht sagen, dass Präzision einfach auf der Seite des Eindeutigen liegt. Das heißt, der Eindeutigkeit. Ein Wort und ein Satz können hinreichend ungenau sein, um an Präzision zu gewinnen. Die Arbeit an der Präzision ist sicherlich eine Bewegung, die sich ständig vom Eindeutigen zum Mehrdeutigen bewegt. Wir werden gleich sehen, dass diese Plastizität in der Mathematik von grundlegender Bedeutung ist. Was die Wissenschaft betrifft, so kann man leicht die Reduktion erkennen, die die Wissenschaften produzieren, mit dem Ziel, die Dinge zum Sprechen zu bringen, wie wir zuvor gesagt haben. Im Folgenden geht es eher darum, einen genaueren Blick auf die Bewegung zwischen der Wissenschaftssprache und anderen Sprachformen zu werfen.

3.  Mathematik

Wenn man die am weitesten verbreitete Bedeutung von Genauigkeit nimmt, erscheint die Mathematik als die Gruppe von Praktiken, die in dieser Hinsicht am weitesten fortgeschritten sind. Die westliche mathematische Tradition, die vor fünfundzwanzig Jahrhunderten in Griechenland begann, stellt uns vor einen bis dahin unbekannten Ansatz der Präzision. Euklids äußerst präzise Definition des Punktes ist ein gutes Beispiel für die Grundlagen des sogenannten mathematischen Gebäudes. “Ein Punkt ist das, was keinen Teil hat”, schreibt er. “Das Ganze ist größer als der Teil”, hatte er uns kurz zuvor gewarnt. 

Im Allgemeinen wissen wir über Mathematik vor allem das, was wir in unserer Kindheit, in der Schule und später in der Sekundarstufe lernen. Von der Schule bis zum Gymnasium gehört Mathematik zu den Dingen, die man lernen muss. Man zeigt uns, wie man Zahlen schreibt. Wie man sie addiert. Das Multiplizieren ist vielleicht weniger intuitiv. Aber man sieht schnell die Ergebnisse. Später lernt man, den Flächeninhalt eines Kreises zu berechnen. Dann besteht Mathematik aus Formeln. Die Formeln tauchen auf, und wir verstehen nicht, wie viel Zeit und Arbeit die Formulierung gekostet hat. Wir lernen völlig blutleer, was Jahrhunderte der Konstruktionszeit bedeutete. Descartes’ analytische Geometrie und ihre Analyse tauchen ihrerseits viel später auf, aber die Tiefe von Euklids Elementen und die Veränderungen in der Sprache werden uns nicht wirklich erklärt. Wir wissen, dass es immer abstrakter wird und dass es zum Rechnen dient. Das ist alles. Vage Hinweise auf die Flugbahn von Projektilen sind nicht genug, um die Theoreme zwischen den Zeilen zu lesen. Um den Sinn des Berechnens zu verstehen, ebensowenig wie das Schicksal der modernen Wissenschaft. Von der alten Frage, welche Schwierigkeiten das Studium der Mathematik mit sich bringt, wollen wir gar nicht erst reden. Bleiben wir vorerst bei dieser vagen und im Grunde seltsamen Ansammlung von Zeichen und Wahrheiten, die uns als sehr wertvoll präsentiert wurden.

Normalerweise wird man die Mathematik innerhalb des wissenschaftlichen Bereichs ansiedeln. Wenn man sagt, dass die Mathematik eine Wissenschaft ist, bedeutet das mehrere Dinge, wobei man die Idee der Wissenschaft auf verschiedene Arten definieren könnte. Ohne auch noch über Methoden oder Objekte zu sprechen, kann man sagen, dass die Wissenschaft das Schicksal der Philosophie teilt. Dasjenige, das mit Platon beginnt. In diesem Sinne produziert die Mathematik Wissen. “Alles ist Zahl“, sagte Pythagoras. Und auch heute noch ist die Unterscheidung zwischen der Erschaffung und der Entdeckung des Objekts schwierig, wenn nicht gar unmöglich vorzunehmen. Es ist die Aufmerksamkeit auf die Sprachen, die die mathematische Tradition anbietet, die die Bedeutung des Objekts fast unbegreiflich macht. Letztendlich ist es schwierig, das Objekt von der Sprache zu trennen. Das ist ein grundlegender Punkt.

Vorhin sprachen wir von Eindeutigkeit. Es wurde gesagt, dass sich in der Wissenschaft die Präzision noch immer als ein Hin und Her zwischen Eindeutigkeit und Zweideutigkeit darstellt. Das heißt, trotz des grundsätzlich reduktiven Charakters des wissenschaftlichen Vorgehens steht die Arbeit an der Präzision in gewisser Weise in Kontinuität mit primitiven Operationen in Bezug auf die Produktion von Sprache. Für einige Bereiche der Mathematik gilt dies sogar noch mehr.

Der berühmte amerikanische Mathematiker William Thurston sagt in einem Text aus dem Jahr 1994, der den Titel ‘On proof and progress in mathematics’ trägt, Folgendes:

“Hier sind einige wichtige Einteilungen, die für das mathematische Denken wichtig sind… Und die erste, die auftaucht, ist:

Die menschliche Sprache. Wir verfügen über kraftvolle, spezifische Mittel zum Sprechen und Verstehen der menschlichen Sprache, die auch mit dem Lesen und Schreiben verbunden sind. Unsere Fähigkeit zur Sprache ist ein wichtiges Werkzeug für das Denken, nicht nur für die Kommunikation … Die mathematische Sprache der Symbole ist eng mit unserer Fähigkeit zur menschlichen Sprache verbunden.”

Auf den ersten Blick mag diese Feststellung wie eine Banalität erscheinen. Dennoch offenbart sie etwas, das vielen Vorurteilen widerspricht, die man in Bezug auf die Arbeit der Mathematiker haben könnte. In der Mathematik ist die natürliche Sprache für das Denken von grundlegender Bedeutung. Um der Aufgabe der Mathematik ein Zaumzeug zu geben, stellt Thurston den Begriff des Denkens in den Vordergrund. “Thinking” (Denken). Für ihn stehen die Prozesse der symbolischen Formalisierung dann in Kontinuität mit anderen Sprachproduktionen. Die symbolische Sprache ist eine grundlegende Produktion, die in Kontinuität mit anderen Arten der Sprachproduktion steht und zu den Motoren des Denkens gehört. Allerdings birgt die Formalisierung auch Risiken, insbesondere wenn das Schreiben andere Praktiken überdeckt, die in einer Forschungsgemeinschaft zu finden sind. Thurnston ist sich dessen bewusst und spricht darüber. Ein weiterer Punkt, den man beachten sollte, ist, dass er von “menschlicher Sprache” spricht. Im Gegensatz zur Computersprache sicherlich. In den frühen 1990er Jahren wurde die Arbeit mit Computern für Mathematiker immer mehr zur Normalität.

Was uns im Moment interessiert, ist die Intuition, dass das Denken des wissenschaftlichen Denkens nicht nur reduktiv ist, auch wenn seine globalen Auswirkungen letztlich das Kalkulieren über alle Dinge vorantreiben. Seine Form der Sprachgestaltung kann die Kolonisierung “nicht-wissenschaftlicher” Sprechweisen erklären. Nur wenn wir die Verbindung zwischen den verschiedenen Sprachformen, z. B. der Symbolsprache und der natürlichen Sprache, verstehen, können wir einerseits Zugang zu der reduktiven Bewegung finden, die das mathematische Denken betreibt, andererseits aber auch verstehen, wie die digitalen und Computersprachen ihrerseits die Gesamtheit der Sprachen umwandeln. Und genau an diesem Punkt kann man die Frage nach dem Verhältnis zur Sprache in der Gegenwart ansetzen. Digitalisierung.

4. Sprache und Kommunismus

Wenn die Wissenschaft, vor allem als Motor der modernen Technik, ein informationelles Verhältnis zur Sprache erschließt, haben die Digitalisierung und die Computersprachen dem soeben beschriebenen Bild sicherlich eine neue Dimension hinzugefügt. Über diese Dimension kann man sagen, dass die Eindeutigkeit zur Regel des Codes geworden ist. Heute korrigieren Algorithmen nicht nur die Rechtschreibung, sondern auch den Stil unserer Texte. Und der Code wird zur Sprache, die Operationen aller Art dirigiert. Die Sprache, die unsere Wünsche, Bilder, Fragen bis hin zum kleinsten Detail unserer Existenz in sich trägt, wird in die digitale Sprache übersetzt. Und das Denken wird zunehmend auf der Grundlage von algorithmischen Funktionen, Schlüsselwörtern und einer sichtbaren Auffindbarkeit konstruiert. Wir gewöhnen uns daran, mit Maschinen zu sprechen. Paradoxerweise müssen wir von Zeit zu Zeit erklären, dass wir keine Roboter sind. Vorerst bleibt der menschliche Absender ein Mensch und die künstliche Intelligenz ein Roboter. Die Transhumanisten werden noch warten müssen.

Früher wurden Sprachen in Abwesenheit eines Produktionszentrums produziert. Heute übertrifft die künstliche Intelligenz jede Institution, die sich in der Vergangenheit die Sprache unterwerfen wollte. Aber diese gemeinsame Quelle, die immer noch fließt, die Quelle des immerwährenden dezentrierten Sprechens, ihr verdanken wir die schönsten Wörter, die hässlichsten, aber auch die Sätze, die unser Leben verändern können, und die, die in der unmerklichen Bewegung des Alltags verloren gehen. Intuitiv sehen wir alle, wie eine Verarmung auf die andere folgt. Und wie das Massenaussterben, das als Korrelat dargestellt wird, die Zerstörung der Quelle, die uns heute herbeiruft, nach sich zieht. Denn wir würden gerne über Kommunismus sprechen. Das Schweigen tötet die Freundschaften. Die digitale Sprache, der Code, ist vielleicht die radikalste Reduktion des Werdens von Zeichen. Sie ist die eindeutige Sprache par excellence, in der Mehrdeutigkeiten nicht erlaubt sind. Die Codezeile ist transzendent. Sie ist programmatisch. In diesem Sinne zeigt sich die Wirkung dieser Produktion von Ordnung, in den verschiedenen Dimensionen, die von dieser Formatierung berührt werden. Vor allem aber in der Sprache, dem reinen Medium par excellence, wie Agamben sagen würde, indem er ihr ihr schändliches Potenzial austreibt.

Dieser Umstand erklärt, warum die Äquivokalität der Poesie offensivere Züge annimmt als je zuvor. Im Dialekt zu sprechen bedeutet vielleicht schon, wahr zu sprechen. In dem Sinne, dass man gerecht spricht. Die Gerechtigkeit der Worte wird das Schweigen vielleicht durch eine Ellipse brechen. Da die Ellipse der Mangel ist, der nicht fehlt. Das Hyperbaton ist gerecht. Wenn wir es als den Überschuss definieren, der immer fehlt. Wir sprechen hier vom Sprechen. Nicht davon, ein Gedicht zu schreiben. Dionys Mascolo schrieb in ‘seinem Kommunismus’: 

“Theoretisch müsste der Kommunismus dazu führen, dass das reine Bedürfnis zu sprechen befriedigt wird […] Dieses Sprechen würde dem Bedürfnis entsprechen, unbedingt das zu sagen, worüber geschwiegen wird. 

Es würde nicht mehr so sehr aus dem Wunsch, sondern aus dem Bedürfnis zu sprechen hervorgehen und als solches die höheren Bedürfnisse der Seele nähren (das Bedürfnis zu hören, ein Ziel zu finden).”

Anmerkung: 

[1] Verweis auf Jacques Lacan


Dieser Text erschien im französischen Original am 5. Januar 2023 auf entêtement. Etwaige Ungenauigkeiten in der Übersetzung des doch sehr komplexen Textes bitte ich nachzusehen.

Hundert Brände – Der bewaffnete Kampf im Jahr ’77 [Italien]

Emilio Mentasti 

“Wir veröffentlichen die Einleitung zu “Cento fuochi. La lotta armata nel ’77” von Emilio Mentasti, das gerade bei ‘DeriveApprodi’ erschienen ist. 

Wenn von bewaffnetem Kampf in Italien die Rede ist, geht es meist nur um die Geschichte einiger weniger ‘militanter kommunistischer Organisationen’, wobei übersehen wird, dass es sich um ein viel größeres Phänomen handelte, an dem Tausende von Kämpfern aus der gesamten italienischen revolutionären Bewegung beteiligt waren. Die große Massenbewegung von 1977 war neben den radikalen Unterschieden zu ’68 und dem Bruch mit den reformistischen Organisationen auch durch ihr Verhältnis zur Theorie und Praxis der politischen Gewalt gekennzeichnet. Das Buch dokumentiert die enorme Verbreitung des bewaffneten Phänomens im Jahr 1977, dem Jahr, in dem dieses einen wahren Quantensprung erlebte. Von den Roten Brigaden zu den Bewaffneten Proletarischen Kernen, von der Revolutionären Aktion zur Prima Linea, zu den Kommunistischen Kampfeinheiten, zu den Kommunistischen Brigaden, zu den Politischen Kollektiven von Venetien, zu den Revolutionären Kommunistischen Komitees und zu Dutzenden und Aberdutzenden anderer Akronyme (die “Hundert Feuer”), die die Weite eines Guerillakrieges demonstrieren, der sich in den Territorien, an den Arbeitsplätzen, im Studium und im sozialen Umfeld verbreitet” 

Vorwort Archivio Autonomia

Innerhalb der Klassen-Linken stellte sich bereits Ende der 1980er Jahre das Dilemma, einen politischen Ausweg aus dem Zyklus der Kämpfe des vorangegangenen Jahrzehnts zu finden, der zu diesem Zeitpunkt bereits zu Ende gegangen war. Im engsten Umfeld der Bewegung herrschte ohrenbetäubendes Schweigen, denn ein großer Teil hielt es für unmöglich, die Erfahrungen, insbesondere die bewaffneten, zu verarbeiten, solange nicht alle Genossen aus dem Gefängnis waren.

Stattdessen war es meiner Meinung nach notwendig, die Diskussion sofort anzugehen, um zu verhindern, dass das Schweigen den Reichtum dieses Zyklus von Kämpfen verschluckt, und so die Position derjenigen zu stärken, die sich unmittelbar für die Beseitigung der kollektiven Erfahrung der italienischen revolutionären Bewegung der 1970er Jahre in all ihren Artikulationen einsetzen: Kämpfe, Subjektivität, Kritiken des Bestehenden.

Die Konfrontation mit der Geschichte zielt einerseits auf die Überwindung des Zyklus, insbesondere durch die Erklärung seines Endes, und andererseits auf eine klare Abgrenzung durch verschiedene Formen des Abschwörens, der Verleugnung und des Verrats. In diesem Sinne mache ich mir die Worte eines umstrittenen Dokuments der damaligen Zeit zu eigen: “die Unterscheidung zu markieren, die uns von all jenen trennt, die das regressive Terrain der Distanzierung gefördert oder praktiziert haben [1]. Hier kann man sich nicht auf eine oberflächliche Kritik beschränken, denn es ist notwendig, auf das obskurantistische Prinzip hinzuweisen, auf dem es beruht. Nämlich die opferbereite Verleugnung der eigenen Geschichte und Identität im Dienste der Legitimation des vermeintlichen Siegers”.

In einer komplexen Gesellschaft wie der heutigen kann sich niemand zum absoluten Gewinner erklären oder sich als Verlierer sehen, das beweist die Dynamik dieser Bewegung, man denke nur an die radikalen materiellen und sozialen Veränderungen, die sie hervorgebracht hat, an die Widersprüche, die sie an die Oberfläche gebracht hat, die immer noch lebendig sind oder darauf warten, mit größerer Kraft wieder aufzutauchen.

Man muss davon ausgehen, dass dieser historische Moment, diese Bewegung, diese Beteiligung unwiederholbar sind. Zu viele Dinge haben sich geändert (internationaler Kontext, Arbeitsorganisation und relative Klassenzusammensetzung usw.); dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Reichtum an Subjektivität in Vergessenheit geraten sollte, nur weil er “verloren” hat: Es geht nicht darum, sich von der Vergangenheit zu “distanzieren” und sich für die Sache eines Siegers einzusetzen, der seine ganze Unmenschlichkeit demonstriert. Stattdessen ist es wichtig, diese Erfahrung zu historisieren, um endlich ihren ganzen Reichtum zu erfassen, sie gegebenenfalls zu kritisieren, um ihre Grenzen zu überwinden, eine bessere Zukunft zu planen und sich nicht länger im Namen einer Vergangenheit zurückzuhalten, die nicht mehr existiert.

Wenn man auf diese Zeit zurückblickt, muss man sich klarmachen, dass die italienische Gesellschaft zu dieser Zeit zahlreiche interne und internationale politische Umwälzungen erlebte, die schwer zu interpretieren und/oder zu lösen waren, sowie eine wirtschaftliche Umstrukturierung, deren radikale Folgen bereits in der revolutionären Bewegung deutlich wurden. Angesichts dieser Krise und der offensichtlichen Unfähigkeit des politischen Systems, das zum großen Teil ein Erbe des faschistischen Regimes war, sie zu bewältigen, wuchs eine revolutionäre Bewegung aus Arbeitern, Jugendlichen, Frauen und Gefangenen, die eine andere, eine freiere und gerechtere Gesellschaft forderten, in überwältigender Weise. Die institutionelle Antwort war hart und heftig, ohne jegliche Zugeständnisse, mit dem Einsatz aller möglichen Waffen, um diese Aufstände niederzuschlagen (Massaker, Staatsstreichversuche, P2, compromesso storico, das Gesetz ‘Reale’, Terrorismus-Notstand und Gesetze über Reuige, Regierungen der nationalen Einheit, Sozialpakte, Unterdrückung ‘der Straße’, Sondergefängnisse, usw.).

Der bewaffnete Kampf ist Teil dieser Bewegung und teilt daher ihre Auswirkungen, natürlich auch ihre Misserfolge und Rückschläge. Um die Geschichte dieser Bewegung und die italienische Geschichte dieser Zeit zu verstehen und zu interpretieren, ist es notwendig, ihre unterschiedlichen Dynamiken zu beschreiben.

1977 ist nicht irgendein Jahr für die italienische revolutionäre Bewegung. Wenn man über das Jahr 1977 schreibt, ist es unvermeidlich, vor allem auf das zu verweisen, was die Bewegung in jenem Jahr ins Spiel zu bringen vermochte: eine umwälzende Kraft für die gesamte italienische Gesellschaft. Eine wirkliche Bewegung, die einen beträchtlichen Teil einer Generation umfasste, die sich im ganzen Land auf unglaubliche Weise entwickelte, die politische Thesen aufstellte, die die Relevanz des Kommunismus untermauerten, der Möglichkeit, die Sklaverei der Lohnarbeit angesichts der technischen Möglichkeiten und der Radikalität und Reife der proletarischen Bedürfnisse schnell zu überwinden. Eine Bewegung, die anhand von vier Schlüsseln interpretiert werden kann: ihre Kontinuität/Diskontinuität mit ’68, der totale Bruch mit der KPI, die tiefe Beziehung zwischen Gewalt und Bewegung und insbesondere zwischen Massenbewegung und bewaffnetem Kampf, die Entstehungszeit der Bewegung.

Eine Bewegung ist jedoch keine Partei, so dass die politischen und organisatorischen Optionen für Veränderungen vielfältig sind, begünstigt auch durch eine territoriale Ausdehnung, die das Verhalten und die Entscheidungen auf der Grundlage von Umgebungsmerkmalen diversifiziert (man denke an die Unterschiede zwischen dem, was in Bologna im Vergleich zu den Erfahrungen in Venetien geschieht, wie es sich in Rom und nicht in Mailand entwickelt). Bei einer Bewegung mit einer starken inneren Dialektik, die durch starke Aggression gekennzeichnet ist, steht viel auf dem Spiel, sogar sehr viel. Wir denken an die Konferenz von Bologna gegen die Repression, an das Kräftemessen zwischen den beiden großen “Seelen” dieser Bewegung: den Überresten der Lotta continua, die sich um ihre Zeitung scharte, und der Autonomia operaia. Die Auseinandersetzung ist nicht nur durch das Streben nach politischer Hegemonie gerechtfertigt, sondern sie ist eine Konfrontation zwischen zwei Urteilen über den bewaffneten Kampf: Lotta continua lehnt ihn ab und verurteilt ihn, die Autonomia operaia verherrlicht ihn. Auf der einen Seite das ständige Ausbluten der Aktivistenbasis von Lotta continua, weil viele sich den bewaffneten Organisationen annähern und sich nicht mehr in der “pazifistischer” Linie wiedererkennen, auf der anderen Seite die offensichtliche Demonstration der Verbundenheit mit dem bewaffneten Kampf, wenn sie auf dem Höhepunkt der dialektischen Auseinandersetzung in der Bologneser Sporthalle massenhaft 10, 100, 1000 Rote Brigaden rufen [2].

Der bewaffnete Kampf im Jahr 1977. Ein offensichtlicher Unterschied zwischen ’68 und ’77 ist das Verhältnis der Bewegung zur Gewaltanwendung, das sich von “symbolisch” zu “praktisch” verändert hat. Bereits im Jahr 1968 ist die Debatte über diese Frage in der Bewegung präsent, die den Pazifismus bald in den Hintergrund drängt, indem sie die Argumentation auf das richtige Maß an auszuübender Gewalt und deren beste Ausprägung verlagert. Alle außerparlamentarischen Gruppen üben irgendeine Form von organisierter Gewalt aus, mehr oder weniger erklärtermaßen, mehr oder weniger behauptetermaßen, sie alle unterstützen die Richtigkeit von Massengewalt, aber auch von Avantgarde-Gewalt.

Die 77er-Bewegung beschwört nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern setzt sie auch intensiv und vor allem massenhaft in die Praxis um. Die Ordnungskräfte treten in den Hintergrund, die Bewegung wehrt sich nicht nur gegen Polizei, Faschisten, Streikbrecher, sondern greift mit dem Gewissen und dem Willen, dies zu tun, bewusst an, um alles zu treffen, was mit Macht zu tun hat. Schusswaffen bei Aufmärschen sind sicherlich nichts Neues, ihre ostentative Zurschaustellung und ihr häufiger Gebrauch schon!

In der revolutionären Bewegung wird der bewaffnete Kampf als ein absolut konsequenter Weg erlebt und mit der Absicht geführt, die unvermeidliche Spontaneität zu überwinden, großherzig, aber ohne wirkliche Perspektiven.

1977 ist das Jahr der Universitätsbewegung, aber es ist auch das Jahr, in dem sich die Roten Brigaden konsolidieren (im folgenden Jahr entführen sie Aldo Moro), der bewaffnete Kampf sich ausbreitet, neue kämpferische kommunistische Organisationen entstehen, der sogenannte “bewaffnete Spontaneismus” breitet sich immer mehr aus: eine Zahl ist vor allem die Zahl der bewaffneten Aktionen (die “Anschläge”), die der Linken zuzuordnen sind, die von 263 im Jahr 1976 auf 777 im Jahr 1977 steigt [3].

Der bewaffnete Kampf als Form der politischen Aktion steht auf der Tagesordnung der 77er Bewegung, er wird in jeder Versammlung, in jedem Kollektiv diskutiert. Dies muss klar sein, um diese Bewegung nicht als von den “Guten” gebildet, aber von einem “bösen Wolf” befleckt erscheinen zu lassen, eine Operation, die schon bei “68” erfolgreich war. Man könnte einwenden, dass die bewaffneten Organisationen dort, wo die Bewegung ihre größten Massenkämpfe ausgetragen hat (z.B. in Bologna und Rom), kaum aktiv waren, aber man darf nicht vergessen, dass sich der “weit verbreitete Guerillakrieg” gerade in diesen Städten enorm ausbreitete und dass in Rom die lokale Kolonne der Roten Brigaden mit dem wesentlichen Beitrag von Kämpfern gebildet wurde, die direkt aus der Bewegung kamen.

Es muss auch mit der Legende aufgeräumt werden, dass die 77er-Bewegung durch die Entstehung des bewaffneten Kampfes (der bereits sehr präsent war, was die Verbreitung der Bewegung sicherlich nicht behinderte, sondern im Gegenteil die Debatte anregte) oder durch die Repression (die Sondergesetzgebung entstand mit dem ‘Reale’-Gesetz, das 1975 nach gewalttätigen Massendemonstrationen erlassen wurde) zerstört wurde. Die Wachstumsprobleme der Bewegung resultierten vielmehr aus ihrer Unfähigkeit, sich selbst zu organisieren, und aus der Unmöglichkeit, für die enorme Massenkraft, die in jenem Jahr zum Ausdruck kam, ein Ventil zu finden. Gerade wegen dieser ausweglosen Situation entscheiden sich viele Kämpfer dafür, die Reihen der bewaffneten Organisationen zu verstärken, ebenso wie viele ihr politisches Engagement aufgeben, sicherlich nicht nur wegen der repressiven Maßnahmen der Macht oder der Verschärfung des Konflikts, den die BR mit der Entführung von Moro ausgelöst haben.

Dieses Buch versucht, die enorme Komplexität der 77er-Bewegung zu erklären, indem es von einem Aspekt ausgeht, der sie stark charakterisiert hat, dem bewaffneten Kampf, in dem Bewusstsein, dass er nur eines der Themen der revolutionären Bewegung ist. Die Lektüre dieses Buches kann sich dem Umfang der Geschichte nicht entziehen; um vollständig zu sein, muss das Werk den Kontext vertiefen, es muss über die Gesamtheit des Phänomens Rechenschaft ablegen. Es ist geplant, die Analyse der Geschichte dieser Periode mit einem weiteren Text fortzusetzen, der die grundlegenden Aspekte des letzten “Angriffs auf den Himmel” in der westlichen Welt behandelt.

Anmerkungen 

[1] Man muss bedenken, dass es zahlreiche Formen der Distanzierung gegeben hat, einige kollektiv (man denke z. B. an Prima linea und das ‘Dokument der 51’), viele andere individuell. Die Grade der Distanzierung sind vielfältig: Es gibt diejenigen, die die gesamte Erfahrung der revolutionären Bewegung ablehnen, diejenigen, die die kämpfenden Organisationen verurteilen, diejenigen, die den bewaffneten Kampf anprangern, diejenigen, die sich bei den Institutionen und der Gesellschaft, die sie bekämpft haben, entschuldigen, und diejenigen, die dennoch einen antikapitalistischen Weg der Befreiung fordern. Diese unterschiedlichen Haltungen führen dazu, dass es auf gerichtlicher Ebene diejenigen gibt, die die Erklärungen der “pentiti” faktisch bestätigen, und diejenigen, die stattdessen eine weniger kooperative Linie vertreten. Der zitierte Satz bezieht sich auf die drastischste Distanzierung  

[2] Laut Piero Bernocchi gab es “im ‘Palasport’ die größte Sympathiekundgebung für die Roten Brigaden und die bewaffneten Untergrundgruppen, die es je in Italien gegeben hat”. P. Bernocchi, Dal ’77 in poi, Massari editore, Roma 1997, S. 59. 

[3] M. Galleni, Bericht über den Terrorismus, Rizzoli, Mailand 1981.

Dieser Beitrag im italienischen Original erschien auf dem wirklich vorzüglichen Blog des ‘Archivio Autonomia’, einem einzigartigen Dokumentationsmedium über die antagonistische Bewegung der 70er in Italien. Das Vorwort stammt aus dem Buch ‘Cento fuochi. La lotta armata nel ’77’ von Emilio Mentasti, es erschien im Oktober 2022 und kostet 20:00 €.

Über die Mutation des Begehrens

Franco ‘Bifo’ Berardi

Ich habe 1974 begonnen, Felix Guattari zu lesen. Ich war in einer Kaserne in Süditalien, als der Militärdienst für junge Männer mit gesundem Geist und Körper Pflicht war, aber der Dienst am Vaterland hat mich schnell genervt, und ich suchte nach einem Ausweg, als ein Freund mir vorschlug, jenen französischen Philosophen zu lesen, der den Wahnsinn als Ausweg empfahl.

Dann habe ich ’Ein Grab für Ödipus gelesen – Psychoanalyse und Transversalität’ (Una tomba per Edipo. Psicoanalisi e trasversalità), das von Bertani veröffentlicht wurde, und ließ mich davon zu einer Aktion des Wahnsinns inspirieren. Der Oberst der psychiatrischen Klinik erkannte mich als geisteskrank an und so ging ich nach Hause.

Von diesem Moment an betrachtete ich Felix Guattari als einen Freund, dessen Vorschläge einem helfen können, aus jeder Art von Kaserne zu entkommen.

1975 veröffentlichte ich die erste Ausgabe der Zeitschrift A/traverse, die schizoanalytische Konzepte in die Sprache der Studenten- und jungen Arbeiterbewegung Autonomia übersetzte.

1976 begann ich mit einer Gruppe von Freunden, im ersten unabhängigen italienischen Radio, Radio Alice, zu senden. Während des dreitägigen Studentenaufstandes in Bologna nach der Ermordung von Francesco Lorusso schaltete die Polizei das Radio ab.

Die ‘Bologna-Bewegung’ von 1977 verwendete den Ausdruck “Wunsch nach Autonomie”, und die kleine Gruppe von Radio- und Zeitschriftenredakteuren nannte sich ‘Transversalisten’ (trasversalisti).

Die Bezugnahme auf den Poststrukturalismus war in den öffentlichen Erklärungen, in den Flugblättern, in den Schlagworten des Frühjahrs ’77 eindeutig.

Wir hatten Anti-Ödipus gelesen, wir hatten nicht viel davon verstanden, aber ein Wort war uns aufgefallen: das Wort “Begehren”.

Wir hatten diesen Punkt gut verstanden: Der Motor des Subjektivierungsprozesses ist das Begehren. Wir müssen aufhören, in Begriffen des “Subjekts” zu denken, wir müssen Hegel und die ganze Vorstellung von Subjektivität als etwas Vorgefertigtes vergessen, das einfach nur eine Frage der Organisation ist. Es gibt kein Subjekt, sondern Ströme des Begehrens, die den Organismus durchziehen und gleichzeitig biologisch, sozial und sexuell sind. Und natürlich bewusst. Aber das Bewusstsein ist nicht etwas, das als rein und unbestimmt betrachtet werden kann. Das Bewusstsein existiert nicht ohne die unablässige Arbeit des Unbewussten, dieses Labors, das kein Theater ist, weil dort nicht eine bereits geschriebene Tragödie gespielt wird, sondern eine Tragödie, die von Strömen des Begehrens durchzogen ist, die wir ständig schreiben und umschreiben.

Andererseits lässt sich der Begriff des Begehrens nicht auf eine stets positive Erregung reduzieren. Das Konzept des Begehrens dient als Schlüssel zur Erklärung der Wellen der sozialen Solidarität und der Wellen der Aggression, zur Erklärung der Explosionen der Wut und der Verhärtung der Identität.

Kurz gesagt, das Begehren ist kein guter, fröhlicher Junge; im Gegenteil, es kann sich verwandeln, es kann sich in sich selbst verschließen und am Ende Gewalt, Zerstörung und Barbarei hervorbringen.

Das Verlangen ist der Faktor der Intensität in der Beziehung zum anderen, aber diese Intensität kann in sehr unterschiedliche und sogar widersprüchliche Richtungen gehen.

Guattari spricht auch von Refrains, um semiotische Verkettungen zu definieren, die sich auf die Umwelt beziehen können. Der Refrain ist eine Schwingung, deren Intensität sich mit der Intensität dieses oder jenes Zeichensystems, d.h. der psychosemiotischen Reize, verketten kann.

Begehren ist die Wahrnehmung eines Refrains, den wir produzieren, um die vom anderen (einem Körper, einem Wort, einem Bild, einer Situation) ausgehenden Reize zu erfassen und uns mit diesen zu vernetzen.

Auch die Wespe und die Orchidee, zwei Wesen, die nichts miteinander zu tun haben, können füreinander nützliche Wirkungen entfalten.

Das Begehren ist kein selbstverständliches Phänomen, sondern eine Intensität, die sich je nach anthropologischen, technologischen und sozialen Bedingungen verändert.

Für eine Rekonfiguration des Begehrens

Es geht also darum, den Begriff des Begehrens im Kontext der gegenwärtigen Epoche zu problematisieren, einer Epoche, die sich durch neoliberale Beschleunigung und digitale Beschleunigung definieren lässt.

Die neoliberale Wirtschaft hat das Tempo der Ausbeutung der Arbeit, insbesondere der kognitiven Arbeit, beschleunigt, die digitale Vernetzungstechnologie hat die Informationszirkulation beschleunigt und damit das Tempo der semiotischen Stimulation, die gleichzeitig eine neurologische Stimulation ist, ins Extreme gesteigert.

Diese doppelte Beschleunigung ist Ursprung und Ursache der Produktivitätssteigerung, die die Erhöhung des Profits und die Kapitalakkumulation ermöglicht hat, aber sie ist auch Ursprung und Ursache der Super-Ausbeutung des menschlichen Organismus, insbesondere des Gehirns.

Wir haben also die Aufgabe, die Auswirkungen dieses Raubbaus auf das psychische Gleichgewicht und die Sensibilität der Menschen als Individuen, aber vor allem als Kollektive zu untersuchen.

Insbesondere müssen wir über die Mutation des Begehrens nachdenken und dabei das Trauma berücksichtigen, das die Erfahrung der Pandemie in der kollektiven Psyche ausgelöst hat. Das Virus mag sich aufgelöst haben, die Infektion mag geheilt worden sein, aber ein Trauma verschwindet nicht über Nacht, es tut seine Wirkung. Und die Traumaarbeit manifestiert sich in einer Art phobischer Sensibilisierung gegenüber dem Körper des anderen, insbesondere gegenüber Haut, Lippen, Sex.

In den beiden Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts haben verschiedene Forschungen gezeigt, dass sich die Sexualität tiefgreifend verändert, und der Virus-Schock hat diesen Trend, der im techno-anthropologischen Wandel der letzten dreißig Jahre wurzelt, nur noch verstärkt.

In dem Buch ‘I-Gen (Why Today’s Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy-and Completely Unprepared for Adulthood-and What That Means for the Rest of Us?’ (2017) analysiert Jean Twenge die Beziehung zwischen der Vernetzungstechnologie und den Veränderungen im psychischen und affektiven Verhalten von Generationen, die in einer digitalen und vernetzten techno-kognitiven Umgebung entstanden sind.

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, die Menschen, die nach der Jahrhundertwende auf die Welt kamen, als die Generation zu bezeichnen, die mehr von einer Maschine gelernt hat als von der einzigartigen Stimme eines Menschen. 

Meiner Meinung nach ist diese Definition nützlich, um die Tiefe der von uns zu analysierenden Mutation zu verstehen: Von Freud wissen wir, dass der Zugang zur Sprache nur von der affektiven Dimension her verstanden werden kann.

Wir sollten auch nicht vergessen, was Agamben in seinem Buch “Die Sprache und der Tod” schreibt: Die Stimme ist der Schnittpunkt zwischen Fleisch und Bedeutung, zwischen dem Körper und der Botschaft. Die feministische Philosophin Luisa Muraro vertritt zudem die Ansicht, dass das Erlernen von Sinn mit dem Vertrauen des Kindes in seine Mutter zusammenhängt. Ich glaube, dass ein Wort das bedeutet, was es bedeutet, weil meine Mutter es mir gesagt hat, sie hat eine Beziehung zwischen dem wahrgenommenen Objekt und einem Begriff hergestellt, der es bezeichnet.

Die psychische Grundlage der Bedeutungszuschreibung beruht auf diesem ursprünglichen Akt der affektiven Teilhabe, der kognitiven Koevolution, die durch die einzigartige Schwingung einer Stimme, eines Körpers, einer Empfindung gewährleistet wird.

Aber was passiert, wenn die Stimme der Mutter (oder eines anderen Menschen, das spielt keine Rolle) durch eine Maschine ersetzt wird?

Der Sinn der Welt wird dann durch die Funktionalität von Zeichen ersetzt, die es uns ermöglichen, operative Ergebnisse zu erzielen, ausgehend von der Rezeption und Interpretation von Zeichen, die keine affektive Tiefe und damit keine intime Gewissheit haben.

Der Begriff der Prekarität zeigt hier seinen psychologischen und kognitiven Sinn als Fragilisierung und Des-Erotisierung der Beziehung zur Welt.

Es geht um Erotik als fleischliche Intensität des Erlebens und um das Begehren in seiner (nicht ausschließlichen) Beziehung zur Erotik. 

Begehren und Sexualität

Im Allgemeinen assoziieren wir Begehren mit dem Fleisch, mit Sexualität, mit dem Körper, der sich dem anderen Körper nähert. Es muss jedoch betont werden, dass die Sphäre des Begehrens nicht auf ihre sexuelle Dimension reduziert werden kann, auch wenn diese Implikation in der Historik, Anthropologie und Psychoanalyse eingeschrieben ist. Begehren ist nicht mit Sexualität gleichzusetzen, und in der Tat kann man sich Sexualität durchaus auch ohne Begehren vorstellen.

Der Begriff und die Realität des Begehrens gehen über den Sex hinaus, wie uns das Freud’sche Konzept der Sublimierung zeigt, das sich mit den nicht direkt sexuellen Aspekten des Begehrens selbst befasst.

Die Pandemie hat einen Prozess der De-Sexualisierung des Begehrens zum Abschluss gebracht, der sich seit langem vorbereitet hatte, seit die Kommunikation zwischen bewussten und empfindsamen Körpern im physischen Raum durch den Austausch von semiotischen Reizen in Abwesenheit eines Körpers ersetzt wurde. Diese Entmaterialisierung des kommunikativen Austauschs löschte das Begehren nicht aus, sondern rückte es in eine rein semiotische (oder vielmehr hyper-semiotische) Dimension. Das Verlangen entwickelte sich dann in eine nicht-sexuelle oder, wenn man so will, post-sexuelle Richtung, die sich in der Isolation manifestierte, die durch die Pandemie zur Regel und nahezu institutionalisiert wurde. Die gesamte Theorie und Praxis der Psychologie, der Psychoanalyse und sogar der Politik muss neu überdacht werden, weil die subjektive Subjektivität irreversibel gestört und verändert  wurde. 

Der italienische Psychoanalytiker Luigi Zoja hat ein Buch über die Erschöpfung (und das tendenzielle Verschwinden) des Begehrens veröffentlicht (der Titel lautet in der Tat ‘Der Niedergang des Begehrens’ ; ‘Il declino del desiderio’). Es handelt sich um einen Text voller interessanter Daten über den dramatischen Rückgang der Häufigkeit sexueller Kontakte und generell der Zeit, die dem Kontakt und der Beziehung in der Gegenwart gewidmet wird. Aber die zentrale Hypothese des Buches (das Verschwinden des Begehrens) erscheint mir fragwürdig. Meiner Meinung nach verschwindet nicht das Begehren selbst, sondern der sexualisierte Ausdruck des Begehrens. Die Phänomenologie der zeitgenössischen Affektivität ist zunehmend durch eine dramatische Verringerung des Kontakts, des Vergnügens und der psychischen und physischen Entspannung gekennzeichnet, die der Hautkontakt ermöglicht. Dies bedeutet einen Verlust an sinnlichem Vertrauen, einen Verlust des Gefühls tiefer Verbundenheit, das das soziale Leben erträglich macht: das Vergnügen der Haut, die den anderen durch Berührung erkennt, die Sinnlichkeit, der süße Genuss der Intimität des Blicks. 

Perversion des Begehrens und zeitgenössische Aggression

Die De-Sexualisierung birgt die Gefahr, dass das Begehren zu einer Hölle der Einsamkeit und des Leidens wird, die nur darauf wartet, auf die eine oder andere Weise ausgedrückt zu werden. Die sinnlose Gewalt, die immer häufiger in Form von bewaffneten und mörderischen Angriffen auf mehr oder weniger unbekannte Unschuldige ausbricht (die Amokläufe, die sich seit Columbine 1999 überall häufen und deren Hauptschauplatz die Vereinigten Staaten sind), ist nur die Spitze des Eisbergs eines Phänomens, das auf politischer Ebene die Geschichte des gesamten Netzwerkes durcheinanderbringt. Wie kann man die Wahl einer Person wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro durch die Hälfte des amerikanischen oder brasilianischen Volkes erklären, wenn nicht als Ausdruck von Verzweiflung und Selbsthass?

Die Wahl eines ignoranten Idioten, der offen rassistische oder kriminelle Ansichten vertritt, hat (auf psychischer Ebene, aber auch auf politischer Ebene) große Ähnlichkeit mit Morden, die sich nur durch schmerzhafte Demenz und Selbstmordabsichten erklären lassen. Was wir nach wie vor als Faschismus, Nationalismus oder Rassismus bezeichnen, lässt sich nicht mehr mit politischen Begriffen erklären. Die Politik ist lediglich das spektakuläre Terrain, auf dem sich diese Bewegungen manifestieren, aber die Dynamik der gegenwärtigen sozialen Aggression hat fast nichts mit den selbsternannten idealen Werten des Faschismus des vergangenen Jahrhunderts, mit dem Nationalismus der neuzeitlichen Jahrhunderte zu tun. Die Rhetorik ist oft ähnlich, aber der Inhalt hat nichts politisch Rationales an sich. 

Nur der Diskurs über das Leiden, die Demütigung, die Einsamkeit, die Verzweiflung kann das Phänomen erklären, das heute den überwiegenden Teil der Weltgeschichte in dieser Phase der Erschöpfung der psychischen Energie und in der Erwartung einer Auslöschung charakterisiert, die sich zunehmend als unvermeidlicher Horizont präsentiert.

Die Generation, die mit bitterer Ironie als “letzte Generation” (oder auch “Generation Z”) bezeichnet wird, die Generation, die mehr Wörter von einer Maschine als von der Stimme ihrer Mutter oder eines anderen Menschen gelernt hat, ist in einer zunehmend unerträglichen physischen und psychischen Umgebung herangewachsen. Die Kommunikation dieser Generation hat sich fast ausschließlich in einem immersiven-technologischen Umfeld entwickelt, dessen Konsistenz rein semiotisch ist.

Wir bereiten uns darauf vor, das Aussterben selbst in einer immersiven Simulation zu erleben. Die Medienproduktion ist zunehmend mit den Zeichen dieser Verzweiflung gesättigt, die sowohl als Symptome eines Unbehagens als auch als Faktoren für die Ausbreitung der Pathologie fungieren: Ich denke dabei an Filme wie Joker, Parasite, aber auch an Serien des globalen Neo-Fernsehsenders Netflix: Squid Game und tausend andere ähnliche Produkte.

Das virale Trauma von Covid hat den hyper-semiotischen Effekt nur vervielfacht, aber die technologischen und kulturellen Voraussetzungen waren bereits vorhanden. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur versuchen, diese Mutation zu verstehen, und wir können sie als eine entsexualisierende Mutation definieren, die das Begehren beeinflusst. 

Das Begehren hat nicht aufgehört, die treibende Kraft hinter dem Prozess der kollektiven Subjektivierung zu sein, aber diese Subjektivierung manifestiert sich nun als Angst, als Selbstverstümmelung oder manchmal als Aggression, weil sie sich nicht entfalten und ausdrücken kann und in aggressiven Ausdrucksformen pervertiert. 

Die Entgeschlechtlichung des Begehrens, von der wir überall Spuren finden, übersetzt sich auf gesellschaftlicher Ebene in eine Enthistorisierung der Motivationen für kollektives Handeln. Wir sind Zeugen eines massiven Phänomens des Rückzugs und der Desertion: mehrheitliche Abstinenz von der Politik, Desertion von der Fortpflanzung, Vernachlässigung der Arbeit. Dieses Phänomen muss Gegenstand einer theoretischen (diagnostischen) Analyse sein, die diskursive und politische Handlungsstrategien (und Therapien) ermöglichen kann, an denen es derzeit völlig mangelt.


Dieser Text erschien im italienischen Original am 15. Dezember 2022 auf Not | Nero Editions, die Verlinkungen im Text entstammen teilweise dem Originaltext, teilweise wurden sie vom Übersetzer ersetzt oder hinzugefügt.

Der ‘Jina-Aufstand’: über Widersprüche, Chancen und die rechte Opposition

Shoresh Rozapour 

Der seit dem 17. September stattfindende ‘Jina-Aufstand’ konnte sich selbst am Leben halten, indem er an vielen Stellen den Weg für neue kollektive Kämpfe ebnete. Dieser Aufstand, der die Solidarität unter den unterdrückten nationalen Minderheiten schuf, konnte viele soziale Gruppen unter der Führung der Frauen zusammenbringen. Arbeiter, Angestellte, Ladenbesitzer und die verarmte Mittelschicht beteiligten sich engagiert an den Protesten und organisierten Streiks. Auch Schüler und Studenten beteiligten sich an diesem Kampf und trugen zur Radikalisierung des Prozesses bei. Der Volksaufstand und der Widerstand gehen nun trotz aller Rückzüge und allen Drucks in den dritten Monat, und in diesen drei Monaten hat er in gewissem Maße seine unterschiedlichen Potenziale und Widersprüche gezeigt.

Es scheint, dass das größte Problem des Aufstandes, trotz all seiner neu entwickelten Solidarität und inspirierenden Aspekte, generell mit der Desorganisation zusammenhängt. Dieses Problem könnte dem Aufstand einen zunehmend zermürbenden Prozess aufzwingen. Arbeiter, Ladenbesitzer und Schüler und Studenten beteiligten sich von Beginn der Proteste an den Streikwellen und sorgten für die Fortsetzung des Aufstands. Die Demonstranten auf den Straßen und in den Stadtvierteln leisteten während all dieser Tage auf unterschiedliche Weise Widerstand gegen die verschiedenen Sicherheitskräfte des Staates. Frauen legten ihre Kopftücher ab und tanzten, wo immer sie sich versammelten, und zündeten die Kopftücher an, und Schülerinnen schlossen sich dieser Bewegung an, indem sie ihre Haare in den Schulen bleichten. Trotz all dieser mutigen Aktionen wurden die Aufrufe zu Streiks und Generalstreiks oft nicht umgesetzt. Dies hing mit dem Problem der mangelnden Organisation des Aufstandes insgesamt zusammen. 

Da verschiedene Klassen und soziale Gruppen versuchten, sich in diesem Volksaufstand zusammenzuschließen, dominierten nicht die Ideologie oder die Organisationsvorstellungen einer bestimmten Klasse. Komplexe Aktionspläne wurden erstellt, denn jeder erwartete von jedem, dass er sich an den Protesten und Streiks beteiligte. Die spontane Entstehung des Aufstandes ist nicht in ein organisierteres Stadium übergegangen. Darüber hinaus verlief die Entwicklung der Proteste im ganzen Land nicht einheitlich. So unterschieden sich die Demonstrationen und Massaker in Kurdistan und Belutschistan hinsichtlich ihrer quantitativen und qualitativen Dimensionen von denen in Teheran und anderen zentralen Städten. In jedem Fall wurden bei diesen Widerstandsaktionen mehr als 400 Demonstranten getötet, und einigen Quellen zufolge wurden zwischen 20.000 und 60.000 Menschen verhaftet. Große Massaker wurden in den Provinzen Belutschistan, Mazandaran und Kurdistan verübt, und die Demonstranten haben diese Gräueltaten in anderen Städten des Landes verurteilt und sich mit den Rufen “Jin, Jiyan, Azadi”, der kurdischen Version von “Frauen, Leben, Freiheit”, fast drei Monate lang solidarisch gezeigt.

Auf der anderen Seite setzte die Islamische Republik ihre Politik der Verleugnung und Unterdrückung dieser Proteste vom ersten Tag an wie üblich fort. Von Anfang an trennte der staatliche Diskurs den “echten Protestler” vom “egteşaşgar” (Provokateur). In den Augen des Staates sind die “echten Demonstranten” diejenigen, die keine regimefeindlichen Parolen schreien, die keine Vandalen sind und die die Straße sofort wieder verlassen. Aber die Demonstranten, die es riskieren, auf der Straße zu bleiben und Widerstand gegen die Sicherheitskräfte zu leisten, werden vom Regime nur noch als Provokateure dargestellt. Der nächste Schritt bestand darin, die Demonstranten als “Spione”, “Fälscher” und “Terroristen” darzustellen. Indem das iranische Regime diese Proteste und Demonstranten mit der Opposition und ausländischen Mächten im Ausland in Verbindung brachte, erklärte es oppositionelle Medien wie Iran International, BBC Persian und ähnliche Organisationen zu den Akteuren hinter diesen Ereignissen und erklärte, es befinde sich in einem hybriden “kognitiven Krieg” mit diesen. In dieser Richtung wurde in den Nachrichtensendungen der nationalen iranischen Sender und in den staatlich gelenkten Zeitungen ständig Propaganda betrieben und den regimetreuen Kräften die Ereignisse aus ihrer eigenen Perspektive vor Augen geführt. Massaker, Erschiessungen mit scharfer Munition, ermordete Kinder, unrechtmässige Verhaftungen und Gerichtsverfahren, Folter, erzwungene Geständnisse vor laufender Kamera, physische Gewalt, Schikanen und Vergewaltigungen während der Haft und in den Gefängnissen sowie Todesurteile haben das iranische Regime in den Augen des iranischen Volkes zum Hauptfeind gemacht, der besiegt werden muss. 

Kürzlich erregte der erste Demonstrant dieser Rebellion, Mohsen Shakeri, der zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde, nachdem er beschuldigt worden war, “Krieg gegen Gott” zu führen, großes Aufsehen im Iran und in der Welt. Leider wurde die Tradition der Verhängung der Todesstrafe gegen Dissidenten während der Islamischen Republik systematischer und wurde gegen verschiedene “Kriminelle” unter unterschiedlichen Vorwänden eingesetzt. Allein 1988 wurden im so genannten Schwarzen Sommer mindestens 5.000 linke politische Gefangene in den Gefängnissen auf der Grundlage von Khomeinis Fatwa hingerichtet. Die Erinnerung an die 1980er Jahre ist in der iranischen Gesellschaft lebendig geblieben. Dessen ist sich auch das bürgerliche Mullah-Regime bewusst.

Bei einem Treffen mit den Verantwortlichen des Justizwesens am 28. Juni 2022, also noch vor dem Aufstand, wies der Oberste Führer des Iran, Ali Khamenei, darauf hin, dass die Islamische Republik die 1980er Jahre überleben konnte, und sagte: “Diese göttliche Tradition kann in jeder Periode wiederholt werden, und wir sollten wissen, dass der Gott von 2022 derselbe Gott wie von 1980 ist.” Obwohl diese Worte vor dem Aufstand gesagt wurden, können sie die Entwicklungen der letzten drei Monate angemessen beschreiben. Die Islamische Republik beschwört wieder einmal mit Nachdruck den “Gott von 1980”. Doch der Volksaufstand, der von Zeit zu Zeit versucht, revolutionäre Schritte zu realisieren, zieht irgendwie immer wieder den Kopf aus der Erde wie der Maulwurf der Geschichte. Auch wenn diese Revolte jetzt endet, kann sie jederzeit wieder aufflammen. Die offene Gewalt des Staates hat heftige Reaktionen in der Gesellschaft ausgelöst, und diese Reaktionen bedingten einander und hielten den Aufstand lebendig. Das ‘Abwerfen der Turbane’ der Mullahs durch viele einfache Menschen ist ein Zeichen dafür, wie sehr das Fundament der Islamischen Republik erschüttert worden ist. Da dieser Aufstand wirklich ein großes gesellschaftliches Erwachen bewirkt, aktiviert er jeden Tag andere gesellschaftliche Gruppen und kann die Reihen der Protestierenden erweitern. Da sie jedoch noch nicht ausreichend organisiert sind, um eine revolutionäre Kraft zu entfalten, befinden sie sich noch im Stadium des permanenten Aufstandes. Vielleicht braucht es mehr Zeit, um diesen Widerspruch aufzulösen. Die neuen Nachbarschaftskomitees, die während des Aufstands entstanden sind, sind zwar klein, haben aber das Potenzial, die Menschen während der Revolte zusammenzubringen, und können als Teil eines kollektiven Kampfes eine Rolle spielen, indem sie die Menschen für die nächsten Phasen organisieren. Darüber hinaus bieten die Nachbarschaftskomitees auch eine Lösung für das Kommunikationsproblem und verbinden die Demonstranten durch persönliche Kontakte, Wandmalereien und die Verteilung von Flugblättern in Zeiten des Internetausfalls.

Im letzten Aspekt dieses Beitrages geht es darum, wie der ‘Jina-Aufstand’ von der rechten Gegnerschaft des iranischen Regimes genutzt wurde. Der Sohn des gestürzten Schahs, Reza Pahlavi, ist der Anführer der rechten Mainstream-Opposition. Die Monarchisten befinden sich seit 1979 im Exil, hauptsächlich in den USA. Alle Mainstream-Medien haben sie 43 Jahre lang irgendwie gefördert. Die Volksmudschaheddin-Organisation (MEK), eine ehemals linksgerichtete, aber inzwischen konservative islamistische Organisation, stellt den anderen Flügel der Opposition dar. Im Zuge des Aufstands haben diese beiden Strömungen erneut Lobbyarbeit bei westlichen Ländern betrieben und ihre Pläne für eine andere “Exilregierung” und eine “Übergangsregierung” nach einem möglichen Regimewechsel aufgestellt. Die Bemühungen dieser Opposition, sich als Führungskraft zu profilieren, stießen jedoch beim iranischen Volk auf keinerlei Resonanz. So führten beispielsweise weder die Aufrufe der Monarchisten noch die der MEK zu Versammlungen oder Protesten im Iran. Darüber hinaus hat das Auftauchen neuer Figuren in der rechten Opposition den Raum für die so genannten Hauptoppositionsführer wie Reza Pahlavi und Maryam Rojavi, die jahrelang angepriesen wurden, eingeengt.

Andere Persönlichkeiten der iranischen Rechts-Opposition haben in den letzten Jahren auf internationaler Ebene Bekanntheit erlangt, und insbesondere in den letzten Monaten sind wir auf Personen gestoßen, die sich gegenüber westlichen Staaten als “Sprecher”, “Organisatoren” oder “Anführer” des iranischen Aufstands präsentieren. In diesem Zusammenhang sind Masih Alinejad, Hamed Esmaeilion und Nazanin Boniadi die neuen Gesichter der rechtsgerichteten Opposition gegen das iranische Regime. Masih Alinejad hat aufgrund der in den letzten Jahren durchgeführten Kampagnen gegen die Zwangsverschleierung den Mut gefunden, sich als “Sprecherin” der iranischen Frauen und “Anführerin” des laufenden Aufstandes vorzustellen. In diesem Sinne traf sich Alinejad im November 2022 mit Emmanuel Macron und erklärte: “Bei meinem Besuch bei Emmanuel Macron habe ich ihm gesagt, dass das, was im Iran geschieht, eine Revolution ist. Frankreich kann das erste Land sein, das diese Revolution offiziell anerkennt. Frankreich muss sich mit der iranischen Opposition anstelle der Regimevertreter treffen und die EU auf einen säkularen Iran vorbereiten”.

Hamed Esmaeilion ist zu einer einflussreichen politischen Figur geworden, da er nach dem Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs PS752 im Jahr 2020 durch die IRGC, bei dem alle 176 Passagiere ums Leben kamen, die Vereinigung der Familien der Opfer gegründet hat. Esmaeilion, der Präsident und Sprecher der Vereinigung der Familien der Opfer, rief während des ‘Jina-Aufstands’ zu Aktionen von Dissidenten im Ausland auf und konnte die größten und weitreichendsten weltweiten Aktionen durchführen, die die Gegner des iranischen Regimes in 43 Jahren nicht zustande gebracht haben. Diese Aktionen gegen die Islamische Republik fanden in mehr als 150 Städten auf der ganzen Welt statt. Esmaeilion veranstaltete am 22. Oktober eine Demonstration in Berlin und rief die Iraner in Europa dazu auf, die Stimme der Demonstranten im Iran zu sein. Die Zahl der Demonstranten wird auf 80.000 bis 100.000 geschätzt. Für einige Iraner und einige westliche Staaten ist Esmaeilion daher die am besten geeignete Figur der Opposition gegen das iranische Regime. Außerdem vertritt er im Vergleich zu den iranischen Monarchisten modernere Werte, was ihn zu einem geeigneteren Kandidaten macht. Vor kurzem nahm er zusammen mit Masih Alinejad am internationalen Sicherheitsforum 2022 in Halifax teil.

Eine weitere Figur ist Nazanin Boniadi, eine iranisch-britische Schauspielerin und Aktivistin, die von 2009 bis 2015 als Sprecherin von Amnesty International und von 2015 bis 2021 als Vorstandsmitglied des iranischen Zentrums für Menschenrechte tätig war. Nach Beginn des jüngsten Aufstands rief Boniadi im September 2022 ausländische Staaten zur Unterstützung der Demonstranten auf. Im Anschluss an die Proteste im Iran traf sie am 14. Oktober 2022 mit Kamala Harris (Vizepräsidentin der USA, d.Ü.) zusammen. Außerdem nahm sie im November 2022 als ‘Stellvertreterin’ der iranischen Opposition an einer informellen Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen teil. Danach begannen einige Aktivisten der iranischen Opposition, sie als künftige iranische Premierministerin zu sehen.

Die rechtsgerichtete Opposition des iranischen Regimes im Ausland hat immer wieder versucht, unter dem Deckmantel der Unterstützung des Aufstandes die Macht an sich zu reißen, und das ist keine neue Entwicklung. Diesmal jedoch hat die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für die Proteste der rechten Opposition ein Feld neuer Beziehungen, Lobbying-Möglichkeiten und Versuche eröffnet, sich an den Ereignissen zu beteiligen. Da die linke Opposition im Ausland keine nennenswerte Reaktion organisiert hat, hat die pro-imperialistische rechte Opposition Raum gefunden, sich den Aufstand zu eigen zu machen. Dies ist eine weitere Gefahr für den ‘Jina-Aufstand’ und zeigt, wie einsam er wirklich ist. Die Volksmassen und die fortschrittlichen Akteure, die gegen das iranische Regime vorgehen, müssen sich in diesem Kampf nicht nur der Islamischen Republik, sondern auch der gesamten rechten Opposition und den imperialistischen Staaten entgegenstellen, denn wenn sie dies nicht tun, könnten dieser Aufstand und die sich abzeichnende Revolution, die sie unter Einsatz ihres Lebens fortsetzen, in den Händen der rechten politischen Kräfte im Ausland mit Hilfe der imperialistischen Staaten verloren gehen. 


Der Beitrag wurde ursprünglich auf türkisch auf Gazete Karinca veröffentlicht und dann ins Englische übersetzt und am 18. Dezember 2022 bei Slingers Collective veröffentlicht. Diese deutschsprachige Version ist eine Übersetzung des Textes, wie er auf Slingers Collective erschien. Die Übersetzung dieses Beitrags ist vor allem von Bedeutung, weil hierzulande eine fast grenzenlose Naivität in Bezug auf jene iranische Exil-Opposition vorherrscht, wie es sich z.B. auch in der Mobilisierung zu der auch im Beitrag angesprochenen Großdemo in Berlin gezeigt hat. Bzw. ständig die Stimmen der immer gleichen prominenten Exil-Oppositionellen geteilt werden, aber nicht wahrgenommen, bzw. verschwiegen wird, wie diese permanent mit dem Parteien- und Machtapparat des westlichen Imperialismus zusammenarbeiten. 

Freiheit und Ungewissheit

Giorgio Agamben

John Barclay definierte in seinem prophetischen Roman Argenis (1621) das Sicherheitsparadigma, das die europäischen Regierungen später nach und nach übernehmen sollten, folgendermaßen: “Entweder gib den Menschen ihre Freiheit oder gib ihnen Sicherheit, wofür sie die Freiheit aufgeben werden”.

Freiheit und Sicherheit sind also zwei gegensätzliche Paradigmen des Regierens, zwischen denen sich der Staat jedes Mal neu entscheiden muss. Wenn er seinen Untertanen Sicherheit versprechen will, muss der Souverän ihre Freiheit opfern, und umgekehrt, wenn er Freiheit will, muss er ihre Sicherheit opfern. Michel Foucault hat jedoch gezeigt, wie die Sicherheit (la sureté publique) zu verstehen war, die die physiokratischen Regierungen, beginnend mit Quesnay, im Frankreich des 18. Jahrhunderts als erste ausdrücklich zu ihren Pflichten zählten. 

Damals wie heute ging es nicht darum, Katastrophen zu verhindern, die im Europa jener Jahre im Wesentlichen Hungersnöte waren, sondern darum, sie zuzulassen, um dann sofort einzugreifen und sie in die sinnvollste Richtung zu lenken. Regieren erhält hier seine etymologische Bedeutung zurück, nämlich “kybernetisch”: Ein guter Lotse (kibernes) kann Stürme nicht vermeiden, aber wenn sie auftreten, muss er dennoch in der Lage sein, sein Schiff gemäß den eigenen Interessen zu steuern. 

In dieser Perspektive ging es vor allem darum, den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, in dem Glauben, dass die Regierung über ihren Seelenfrieden und ihre Zukunft wacht.

Was wir heute erleben, ist eine extreme Entfaltung dieses Paradigmas und gleichzeitig seine zeitgemäße Umkehrung. Die Hauptaufgabe der Regierungen scheint darin zu bestehen, unter den Bürgern ein Gefühl der Unsicherheit und sogar der Panik zu verbreiten, das mit einer extremen Einschränkung ihrer Freiheiten einhergeht, die gerade in dieser Unsicherheit ihre Rechtfertigung findet. Die gegensätzlichen Paradigmen sind heute nicht mehr Freiheit und Sicherheit, sondern, um es mit Barclays Worten zu sagen: “Gib den Menschen Unsicherheit, und sie werden die Freiheit aufgeben”

Es ist daher nicht mehr notwendig, dass sich die Regierungen als fähig erweisen, Probleme und Katastrophen zu regieren: Unsicherheit und Ausnahmezustand, die jetzt die einzige Grundlage ihrer Legitimität sind, können keinesfalls beseitigt werden, sondern – wie wir heute mit der Ablösung des Krieges gegen das Virus durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine sehen – nur auf eine Art und Weise artikuliert werden, die konvergiert, aber jedes Mal anders ist. 

Eine solche Regierung ist im Wesentlichen anarchisch in dem Sinne, dass sie keine anderen Prinzipien hat als den Ausnahmezustand, den sie produziert und unterhält. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die kybernetische Dialektik zwischen Anarchie und Ausnahmezustand eine Schwelle erreichen wird, über die hinaus kein Lotse mehr in der Lage sein wird, das Schiff zu steuern, und die Menschen werden in dem nun unvermeidlichen Schiffbruch wieder die Freiheit in Frage stellen müssen, die sie so unbedacht geopfert haben.

Der Beitrag erschien im Original am 8. Dezember 2022 auf Quodlibet. Die Übersetzung ist R. gewidmet, der dieser Tage Geburtstag feiert.

Die gegenwärtige Krise und Revolte im Iran

Ein Interview mit Shirin Kamangar

Frage (Warren Montag und Joseph Serrano) : Sie haben argumentiert, dass der jüngsten Revolte im Iran, die sich zunächst auf den obligatorischen Hidschab konzentrierte, eine Reihe früherer Revolten (von 2017 bis 2022) vorausging, deren Kernpunkt die Aufhebung der Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel und Treibstoff war und die zu einer Delegitimierung des Regimes beitrugen. Hat sich die aktuelle Bewegung einige der wirtschaftlichen Forderungen der früheren Bewegungen zu eigen gemacht oder vielleicht einfach nur die Wut der Menschen über die anhaltenden neoliberalen Reformbemühungen zum Ausdruck gebracht? Welche Bereiche der Gesellschaft sind in der Bewegung am stärksten vertreten und wächst sie weiter?

Antwort (Shirin Kamangar): Es besteht die allgemeine Tendenz, die breite kämpfende Masse auf die “junge Generation” zu reduzieren, was ihr eine Homogenität oder eine Identität auferlegt, die sie in Wirklichkeit nicht hat. An den laufenden Protesten beteiligen sich verschiedene soziale Gruppen aus unterschiedlichen geografischen Gebieten und Klassenpositionen. Es ist wichtig, das Zusammenspiel verschiedener Kräfte und Forderungen zu erkennen, die vorübergehend um das gemeinsame Ziel des Sturzes des bestehenden Regimes vereint sind. Wenn die derzeitige Bewegung in den Sturz des Regimes mündet, wird die Vielfalt und Heterogenität der Kräfte deutlicher sichtbar werden.    

Was die wirtschaftlichen Forderungen betrifft, so weigern sich die Mainstream-Medien im Westen zuzugeben, dass die Krise und die Widersprüche im Iran die des Kapitalismus sind, der in seiner uneinheitlichen Entwicklung seine heutige Form angenommen hat. Stattdessen versuchen sie, sie in die spezifischen Widersprüche eines islamischen Staates zu übersetzen. Ich bezeichne den Iran in Anlehnung an Lenin als “schwächstes Glied” in der Kette der kapitalistischen Staaten, da er gleichzeitig das “rückständigste” und das “fortgeschrittenste” in seinen kapitalistischen Beziehungen ist, was zu starken Widersprüchen führt. Seine Rückständigkeit ist auf das Fehlen von Gewerkschaften, repräsentativen Organisationen und Berufsverbänden zurückzuführen, die als Vermittler zwischen Kapitalisten und Lohnempfängern fungieren und die Klassenspannungen abbauen. In diesem Sinne kann er als eine fortgeschrittene Form des neoliberalen Kapitalismus angesehen werden, da der Staat nicht in den Markt eingreift, indem er die Preise kontrolliert, Wohlfahrtsleistungen erbringt oder in Zeiten der Knappheit Lebensmittel verteilt. Noch wichtiger ist, dass alle staatlichen Industriebetriebe an die Streitkräfte verkauft worden sind. Während in anderen kapitalistischen Gesellschaften die Einmischung des Staates als repressiver Instrument zur Sicherung der Kapitalakkumulation unsichtbar gemacht wird, wird das Kapital im Iran direkt von den Streitkräften kontrolliert. Das Kapital ist so vollständig mit dem Repressionsapparat verschmolzen, dass die Illusion entstanden ist, dass der Staat in die Wirtschaft eingreift. Wir haben es jedoch nicht mit einer staatlich gelenkten Wirtschaft zu tun, sondern mit einem neuen Phänomen, das durch einen “privatisierten Staat” und ein “militarisiertes Kapital” gekennzeichnet ist, das dem Nutzen einer Minderheit dient, die eng mit dem Regime verbunden ist und den Forderungen der enteigneten Massen absolut keine Beachtung schenkt. Dies ist ein kapitalistischer Staat in seiner gewalttätigsten Form. Aus dieser Perspektive kann der Iran nicht mehr als eine “irrationale” Nation verstanden werden, die der Welt des mittelalterlichen Islam angehört; vielmehr handelt er unfehlbar nach der “Irrationalität”, die dem freien Markt und dem Neoliberalismus in seiner vollsten Ausprägung eigen ist.  Die kapitalistischen Verhältnisse bieten hier eher ein Bild der Zukunft des Kapitalismus als eine Ordnung, die in den frühen Stadien des kapitalistischen “Fortschritts” stecken geblieben ist.

Im Gegensatz zum vorherrschenden Diskurs der westlichen Mainstream-Medien, der den laufenden Massenkampf auf einen spontanen Protest gegen den aufgezwungenen Hidschab reduziert, ist der Volksaufstand ein vielschichtiger Prozess, der eine Geschichte von mindestens zwei Jahrzehnten aufeinander folgender Kämpfe von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Krankenschwestern, Studenten und anderen Gruppen gegen Armut, hohe Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, einen niedrigen Lebensstandard, den Verfall der Kaufkraft und politische Unterdrückung umfasst. Obwohl die wirtschaftlichen Forderungen des aktuellen Aufstands von der rechten Opposition im Iran und im Ausland sowie von den Mainstream-Medien weitgehend übersehen werden, bedeutet die Tatsache, dass über 70 Prozent der Bevölkerung im Iran der Arbeiterklasse angehören, dass der Massenaufstand heute untrennbar mit dem Klassenkampf verbunden ist. Was die öffentliche Wut über die Ermordung Jinas durch das Regime erregt, ist die allgemeine Unzufriedenheit nicht nur mit den nekro-ideologischen Mechanismen des Regimes, sondern auch mit der Nekro-Ökonomie, die durch die groß angelegte Privatisierung von Staatsbetrieben hervorgerufen wurde, die ein Jahrzehnt nach der Revolution von 1979 gemäß den von “Dr. IWF” und “seiner Majestät der Weltbank” entwickelten Programmen begann. Ziel war es, das Fehlen eines Staatshaushalts durch die Streichung staatlicher Subventionen zu beheben, was die Arbeitslosigkeit verringern und die wirtschaftliche Effizienz steigern sollte, die angeblich durch staatliche Eingriffe behindert wurde. In der Praxis wurden jedoch Tausende von Arbeitnehmern entlassen, und die verbleibenden mussten Lohnkürzungen hinnehmen und wurden der Arbeitsplatzsicherheit und traditioneller Leistungen wie Versicherungen oder Beihilfen zur Deckung von Transport-, Lebensmittel- und Bekleidungskosten beraubt, wie in den Forderungen der Arbeitnehmerkämpfe deutlich zum Ausdruck kommt. Die vier Volksaufstände in den letzten fünf Jahren, die als Aufstand der “Hungrigen” und “Durstigen” bekannt sind, Dutzende von Streiks und Straßendemonstrationen von Arbeitnehmern in verschiedenen Branchen und sieben landesweit organisierte Demonstrationen von Lehrern in 180 Städten allein im Jahr 2021 sind ein deutlicher Beweis für die verheerenden Auswirkungen der Streichung staatlicher Subventionen, durch die einer Mehrheit der Menschen die grundlegenden Mittel zum Lebensunterhalt entzogen wurden.

 Angesichts der beispiellosen Inflation und des Rückgangs des realen Werts ihres Einkommens können sich die Beschäftigten des informellen Sektors und die Arbeitslosen keine Wohnung leisten, und Phänomene wie “Grabschläfer”, “Busschläfer”, “Dachmieter” und “Müllschlucker” sind alltäglich geworden. Am schockierendsten ist das jüngste Aufkommen eines boomenden Marktes für “Körperorgane”, die von Mittellosen verkauft werden, die keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In diesem Jahr haben in weniger als drei Monaten 10 Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen Gründen Selbstmord begangen, und jährlich verlieren 800 Arbeitnehmer ihr Leben bei “Unfällen” am Arbeitsplatz, die die Arbeitgeber leicht hätten verhindern können, wenn es einheitliche Arbeitsschutzvorschriften gegeben hätte.

Liest man das Fehlen jeglicher Berichterstattung über die wirtschaftlichen Forderungen der Demonstranten in den westlichen Mainstream-Medien symptomatisch, werden die Ursachen für dieses Fehlen deutlich. Die rechte Opposition hat richtig erkannt, dass das neoliberale Programm, vor allem die dafür notwendige Privatisierung, zu katastrophalen Folgen geführt hat. Angesichts der verschlossenen Tür versucht die Rechte, die Öffentlichkeit durch eine andere Tür, die der “Demokratie”, anzusprechen, indem sie die aktuelle Bewegung auf eine “demokratische” Bewegung reduziert. Das Modell der westlichen parlamentarischen Demokratie, das die Rechte zu importieren versucht, um die gegenwärtige Situation als einen Kampf für die Demokratie oder vielmehr für die mit dem Kapitalismus kompatible Demokratie darzustellen, verliert seine Legitimität, wenn man sich die Ereignisse des letzten Jahrhunderts in der Region vor Augen führt: die Kriege und Staatsstreiche, die von der CIA und dem MI6 geplant wurden, um die Regierung von Mohammad Mossadegh zu stürzen (der mit einer großen Mehrheit des Parlaments zum Premierminister des Iran ernannt wurde), die die Ölindustrie verstaatlichte, und in jüngerer Zeit die US-Invasionen im Irak und in Afghanistan. Diese wenigen Beispiele von vielen sollten ausreichen, um jegliche Illusionen über das Engagement der westlichen Mächte für Freiheit und Demokratie zu zerstreuen. Nicht die “Spezialisten”, “Kapitalisten” oder hochrangigen Manager, die Reza Pahlavi zu unterstützen verspricht, werden den Preis für die neoliberale Demokratie zahlen, sondern die Werktätigen, die Arbeiter, die Arbeitslosen, Unterbeschäftigten und prekär Beschäftigten.

Ich denke, das Beharren der Rechten auf der “Heiligkeit” des Säkularismus und der Demokratie und ihre Weigerung, den Aufstand der “Hungrigen” und “Durstigen” als unwürdig der politischen Anerkennung und unvereinbar mit den Idealen der Menschenwürde anzuerkennen, ist symptomatisch für ihr Bewusstsein, dass die von ihnen vorgeschlagene neoliberale wirtschaftliche Umstrukturierung notwendigerweise weiteres Elend, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hunger mit sich bringt, die nicht einmal die unsichtbare Hand von Adam Smith wegzaubern kann.

Frage: Angesichts der Intensität der Repression muss es sehr schwierig sein, die Bewegung oder auch nur einen Teil der Bewegung zu organisieren, um Aktionen zu planen, die eine strategische Funktion haben, und zu einem gemeinsamen Forderungskatalog zu gelangen. Inwieweit war es möglich, die Universitäts- und Nachbarschaftsgruppen zu koordinieren und Diskussionen über die nächsten Schritte zu führen?

Antwort: Die Studentenbewegung ist seit Beginn des Aufstandes eine der beharrlichsten. Trotz Massenverhaftungen und Suspendierungen ist es den Studenten aus den Großstädten gelungen, täglich Campus Proteste zu veranstalten und die ideologischen Mittel der Unterwerfung zu untergraben, indem sie gegen die Regeln der Geschlechtertrennung verstoßen, sich weigern, am Unterricht teilzunehmen, und die Türen der Klassenzimmer rot anmalen, um das Blut zu kennzeichnen, das von den Demonstranten vergossen wurde. Sie reagieren unmittelbar auf alle gesellschaftspolitischen Themen, vom Massaker an den Baluchi-Demonstranten bis zur Massenverhaftung der Studenten. Die Kontinuität ihrer Bewegung bewahrt nicht nur die revolutionäre Atmosphäre, sondern fungiert auch als Knotenpunkt, der die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen miteinander verbindet und sie mobilisiert.

Nachdem die Studenten der Sharif-Universität in Teheran von Beamten in Zivil in der Tiefgarage eingeschlossen und mit Tränengas, Gummigeschossen und Farbkugeln beschossen und schließlich festgenommen worden waren, veröffentlichte die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter Haft Tappeh eine Erklärung, in der sie den gewaltsamen Angriff auf die Studenten verurteilte. Sie erinnerte an die Unterstützung der Studenten für die Arbeiterbewegung in den vergangenen Jahren und versprach, ihnen beizustehen. In der Erklärung wurde der Einsatz von Tränengas, elektrischen Viehtreibern, Gummigeschossen und anderen staatlichen Repressionsmitteln gegen die Studenten als eklatantes Verbrechen verurteilt, dessen Täter ermittelt und die verhafteten Studenten unverzüglich freigelassen werden müssen.

Die Koordinations-Shura (Rat) der Kulturgilde des Iran reagierte ebenfalls auf die Ereignisse von Sharif und kündigte einen Lehrerstreik zur Unterstützung der Studenten und gegen die gewaltsame staatliche Repression an. Am folgenden Tag streikten die Lehrer an einer Reihe von Schulen, vor allem in der Provinz Kurdistan.

Auch die Rentnergewerkschaft veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die harte Repression an der “Sharif-Universität” verurteilte und die Zusammenarbeit zwischen dem Universitätsvorstand, dem Sicherheitszentrum des Campus und studentischen Mitgliedern der regierungsnahen paramilitärischen Basiji-Gruppe bei dem Angriff auf die protestierenden Studenten kritisierte.

Auch die Gymnasiasten und Studenten der großen Hochschulen unterstützten die Studenten der Sharif-Universität. Sie nahmen ihre Kopftücher ab, zerrissen die Porträts von Ayatollah Khomeini und Khamenei auf der ersten Seite ihres Buches, zerbrachen ihre an den Klassenwänden hängenden Bilder und ersetzten sie durch Slogans wie “Frauen, Leben, Freiheit”.  

Rund 600 Universitätsprofessoren unterzeichneten eine Erklärung, in der sie die Behörden aufforderten, die inhaftierten Studenten freizulassen und die Militarisierung der Universität zu beenden.

Neben den täglichen Streiks, Sitzstreiks, Demonstrationen und Erklärungen haben die Studierenden Strategien zur Überwindung der bestehenden Hindernisse und zur Vorbereitung kurz- und langfristiger kollektiver Aktionen formuliert. In einer in den sozialen Medien veröffentlichten Erklärung der Studierenden wurde auf die Bedeutung der Bildung von Streikkomitees, Verteidigungskomitees für die Verhafteten und die suspendierten Fälle, Rechtsberatungskomitees, Komitees zur Suche nach Unterkünften für die aus den Wohnheimen verwiesenen Studierenden sowie für die Familien der Inhaftierten, die aus anderen Städten anreisen, hingewiesen. Die Studierenden haben auch die Notwendigkeit erkannt, sich innerhalb und zwischen den Universitäten zu solidarisieren, um eine Massenbewegung aufzubauen und Übergangsforderungen zu stellen, wie die Aufhebung der Hidschab-Pflicht, die Abschaffung der Geschlechtertrennung an der Universität, die Auflösung der Disziplinarausschüsse und die Freilassung der verhafteten oder inhaftierten Studierenden.

In den Stadtvierteln haben die Infiltration und die massiven Verhaftungen durch das Regime eine Haltung des Misstrauens und der “Angst vor dem Nachbarn” gefördert, in der “jeder ein Agent in Zivil sein kann”, was die Bildung größerer Nachbarschaftsgruppen verhindert. Gleichzeitig hat der wirtschaftliche Druck viele Menschen zu einem Nomadendasein gezwungen, da sie ständig auf der Suche nach erschwinglicheren Gegenden sind. Auf diese Weise wird ihnen die Möglichkeit genommen, ihre Nachbarn kennen zu lernen oder ihnen in kritischen Zeiten zu vertrauen. In den sozialen Medien werden jedoch immer mehr Erklärungen von Nachbarschaftsgruppen veröffentlicht, die eine Massenmobilisierung durchführen.

Interessant ist, dass sich die Massen nun nicht mehr ins Privatleben zurückziehen, sondern die revolutionäre Atmosphäre auf verschiedene Weise ausweiten: Sie vermeiden unnötige Einkäufe, beschränken ihre Aktivitäten in den sozialen Medien auf die Verbreitung von Nachrichten über den täglichen Kampf und boykottieren Geschäfte, die mit den Repressionskräften zusammenarbeiten. Die massenhafte Teilnahme an den Beerdigungen der im Straßenkampf Getöteten führt zu massiven Umwälzungen, die Protest-Kunst, -Lieder und -Gedichte, Graffiti an den Stadtmauern und Transparente sowie die Verteilung von Zeitungen mit den neuesten Nachrichten über den Aufstand hervorbringen. Diese Formen des täglichen Kampfes sind im ganzen Land zu finden.

Frage: Können Sie erklären, welche Rolle die Unterdrückung ethnischer Minderheiten (Kurden, Belutschen, Turkvölker usw.) und ihr Widerstand gegen diese Unterdrückung in den aktuellen Kämpfen gespielt hat?

Antwort: Ich werde den Begriff “nationale Minderheiten” anstelle von “ethnischen Minderheiten” verwenden, da ersterer die Unterordnung verschiedener Minderheiten unter die hegemoniale Farsi-Nation anerkennt. Der Iran bestand seit seinen alten Ursprüngen immer aus einer Vielzahl von Nationalitäten, aber als Reza Schah 1925 Monarch wurde, führte er ein “Modernisierungsprogramm” durch, demzufolge die Definition des Nationalstaates als Farsi die anderen Nationalitäten in eine untergeordnete soziopolitische Position brachte. Seitdem gibt es jedoch bei jeder Schwächung der staatlichen Macht Widerstand, der sich häufig in der Bildung autonomer Gemeinschaften äußert. Als Reza Schah 1941 durch eine kombinierte britische und sowjetische Invasion zur Sicherung der iranischen Ölversorgung vom Thron gestürzt wurde, gründeten die türkischen und kurdischen Nationalitäten unabhängige Republiken, die als Republik Aserbaidschan und Republik Mahabad (oder Kurdistan) bekannt wurden, obwohl beide bald von der Regierung des wiederhergestellten Schahs mit Gewalt unterdrückt wurden.

Nach der Revolution von 1979 erkannten sich alle nationalen Minderheiten als selbstorganisierte und autonome Gemeinschaften an, nur um erneut von dem neuen Regime unterdrückt zu werden. Khomeinis Regime setzte nicht nur die frühere Politik des farsischen Nationalstaats fort, sondern lieferte auch eine neue Rechtfertigung für die Vorherrschaft des Farsi: Der Schiismus. Dieser Schritt, die unmittelbare Politik des neuen Regimes, vertiefte die bereits bestehende Unterdrückung der nicht-farsischen, nicht-schiitischen Minderheitsvölker, darunter Aserbaidschan, Belutschistan, Chuzestan, Kurdistan und die Türkaman Sahra.

Die Vorstellung eines Rechts auf Selbstbestimmung während und nach der Revolution von 1979 wurde von einem Großteil der antiimperialistischen Linken nicht anerkannt, die befürchtete, dass das Fehlen eines mächtigen zentralisierten Staates den imperialistischen Mächten eine Gelegenheit bieten würde, Spaltungen herbeizuführen, die zum Sturz des neuen Regimes führen und es ihnen somit ermöglichen würden, die Ausplünderung unserer natürlichen Ressourcen wieder aufzunehmen. Die Reden von der Verteidigung der Nation gegen den äußeren Feind und vom “Antiimperialismus” wurden zur Rechtfertigung einer Politik, die auf eine interne Kolonisierung hinausläuft, die darauf abzielt, die nicht-farsische und nicht-schiitische Bevölkerung (die zusammen einen bedeutenden Prozentsatz der Bevölkerung des Landes ausmachen) in Nicht-Bürger zu verwandeln, deren Existenz als “Andere” mit ihrer eigenen Sprache und Kultur zunehmend als inakzeptabel angesehen wird. Das Regime hat verschiedene Mittel der kulturellen und sprachlichen Assimilierung eingesetzt, um die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in eine einheitliche Nation aufzulösen, und zwingt ihnen durch die ungleiche Verteilung von Reichtum und Ressourcen sowie durch verschiedene Mittel der Entbehrung und Unterdrückung eine doppelte Ausbeutung auf. Die Linke im Iran muss ihren “antiimperialistischen” Diskurs neu definieren, und zwar so, dass er sich klar von der kalkulierten Manipulation des Antiimperialismus-Konzepts durch das gegenwärtige Regime unterscheidet, um seine Kontrolle über das Leben der Menschen auszuweiten. Die Linke muss in der Lage sein, die regionalen Interventionen des iranischen Regierungsregimes in Syrien, im Irak, im Jemen und im Libanon sowie die neuen Imperialismen, die von China und Russland repräsentiert werden (die beide extraktivistische Unternehmen im Iran betreiben), zu erklären und ihnen entgegenzutreten, um die Probleme, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, angehen zu können.

Die historischen Lektionen, die die kurdischen Massen gelernt haben, und die politischen Erfahrungen, die sie gesammelt haben, sind heute in ihren Kämpfen deutlich sichtbar. In der Provinz Kurdistan, wo der Einfluss der kurdischen Befreiungsbewegung im Irak, in Syrien und in der Türkei stark ist, lehnen die Menschen die Idee ab, dass ein zentralisierter Staat, ob islamisch oder säkular, neoliberal oder patriarchalisch, eine Notwendigkeit ist. In einigen Teilen Kurdistans herrscht heute so etwas wie eine Doppelherrschaft, in der die Kräfte des Volkes Verwaltungsaufgaben wie die Regelung des Verkehrs und die Bewältigung von Notfällen übernommen haben, während sie gleichzeitig die Aktivitäten der Agenten des iranischen Staates überwachen. Es ist ihnen sogar gelungen, die Moschee, einen der wichtigsten ideologischen Apparate des Staates, in einen Ort der Vermittlung revolutionärer Kultur zu verwandeln, indem sie über dieselben Lautsprecher, über die fünfmal täglich der Gebetsruf übertragen wird, revolutionäre Lieder spielen.

Abschließend möchte ich anmerken, dass das Problem nicht nur bei einem intoleranten schiitischen Klerus liegt. Sunnitische Kleriker in der Provinz Sistan und Belutschistan, einer der ärmsten Regionen des Landes, reduzieren die Vielzahl der bestehenden sozialen und politischen Widersprüche auf den Unterschied zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam und übersehen dabei die wirtschaftliche Entbehrung und Ausbeutung, die ihnen durch die bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse auferlegt werden. Obwohl diese Kleriker Unterstützung und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung genießen und in der Lage sind, eine große Zahl von Menschen gegen das Regime zu mobilisieren, wenn sie sich dafür entscheiden, darf die Linke im Iran nicht die Fehler von 1979 wiederholen und sie als verlässliche Verbündete im aktuellen Kampf betrachten. Dieselben Kleriker sind Unterstützer der Taliban (die Provinz grenzt sowohl an Afghanistan als auch an Pakistan) und stellen in vielerlei Hinsicht eine Bedrohung für jede wirklich antikapitalistische Bewegung dar. Sie sind mitverantwortlich für das derzeitige Elend der belutschischen Bevölkerung.

Frage: Während es noch nicht ausgemacht ist, dass das Regime in seiner endgültigen Krise steckt, stellt sich die Frage, wer an seine Stelle treten wird, auch außerhalb des Irans, wo die Zeichen auf einen Kandidaten mit zumindest einiger Glaubwürdigkeit im Iran hinweisen, der die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen und die vom IWF und der Weltbank geforderten neoliberalen Reformen beschleunigen kann. Der Sohn des ehemaligen Schahs, Reza Pahlavi, ist eine solche Figur, und es gibt noch andere. Wie gedenkt die Bewegung und insbesondere ihr linker Flügel, dieser Herausforderung zu begegnen?

Antwort: Die rechte Opposition ist in ihrer Dummheit so weit gegangen, dass sie ein Datum für den Sturz des Regimes festgelegt hat. Angesichts des gigantischen Repressionsapparats, über den das Regime verfügt, kann niemand wirklich vorhersagen, wann es zusammenbrechen wird. Die Rechten bevorzugen einen schnellen Sturz des Regimes, vorzugsweise durch die inneren Kräfte, denn das Chaos und das Machtvakuum, das folgen würde, würde ihre Machtergreifung definitiv erleichtern, während ein längerer Prozess den verschiedenen oppositionellen Kräften, einschließlich der explizit antikapitalistischen, die Möglichkeit geben würde, sich zu formieren, zu organisieren, zu koordinieren, zu planen und Strategien zu entwickeln. Sobald eine solche Bewegung eine gewisse Schwelle erreicht hat, wird es für sie sehr schwierig, die Macht zu übernehmen und zu halten.

Soweit ich sehen kann, ist Reza Pahlavi für die Aktivisten der Bewegung im Iran absolut nicht glaubwürdig. Einer der wichtigsten Slogans des derzeitigen Aufstands, der in den Berichten der Mainstream-Medien völlig außer Acht gelassen wird, lautet: “Nieder mit dem Tyrannen, sei es der Oberste Führer oder der Schah”. Der Sturz des Schah-Regimes ist noch gar nicht so lange her, und es gibt immer noch viele Familien, deren engste Angehörige von der SAVAK, der Geheimpolizei des Schahs, inhaftiert, brutal gefoltert und getötet wurden.

Aber wie Sie sagen, stellt die Rechte einfach andere mögliche Führungspersönlichkeiten vor, wenn sie merkt, dass einer von ihnen an Popularität verloren hat. Wie die historische Erfahrung zeigt, geht es der Rechten darum, die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse zu garantieren, sei es unter einem islamischen Regime, dessen Führer, Ayatollah Khomeini, vor und nach der Revolution von 1979 von den westlichen Mächten unterstützt wurde, oder unter einem säkularen Regime.

Jede Alternative zum gegenwärtigen Regime muss in der Lage sein, auf die konkreten Forderungen einzugehen, die in den Kämpfen der Menschen zum Ausdruck gekommen sind; die Tatsache, dass bestimmte Probleme zu solchen Kämpfen geführt haben, ist ein objektiver Beweis für deren Bedeutung. Ich werde einige dieser Probleme erwähnen, um zu verdeutlichen, warum die rechte Opposition nicht in der Lage ist, sie zu lösen.

Eine der Hauptforderungen ist die Abschaffung eines zentralistischen farsischen und schiitischen Nationalstaates und damit der fiktiven Identität, die den Menschen der unterdrückten Nationalitäten im Iran aufgezwungen wurde und die sie daran hindert, sich an der Politik zu beteiligen und sie dem Elend überlässt. Obwohl die rechte Opposition behauptet, einen demokratischen Staat errichten zu wollen, beruft sie sich unweigerlich auf eine glorreiche Vergangenheit, auf das Achämenische Reich vor dem Aufkommen des Islam, auf eine arische Rasse, die der arabischen Rasse überlegen ist und mehr mit den Europäern als mit den Völkern des Nahen Ostens gemein hat. Es liegt auf der Hand, dass die von der Rechten geforderte Gleichheit im Widerspruch zu einer historischen Identität steht, die nicht nur die arabische Bevölkerung im Süden Irans ausschließt, sondern auch alle Türken, Kurden, Loren und Belutschen, die nicht zu der “überlegenen Rasse” gehören, die sie im Sinn haben. Auch der Wunsch, das erste glorreiche Reich wiederzubeleben, das ihrer Meinung nach durch die “arabische Invasion” ruiniert wurde, wird mit Sicherheit weitere imperialistische Interventionen und Projekte in der Region hervorrufen.

Zweitens kann die “repräsentative Demokratie”, die sie einführen wollen, keine wirkliche Gleichheit der verschiedenen Nationen gewährleisten, denn eine rein formale oder juristische Demokratie lässt “tausend Hindernisse” (Lenin) zu, die den Weg zur wirklichen Gleichheit versperren. Die Lösung für den gegenwärtigen Despotismus besteht nicht darin, eine Reihe von Gesetzen zu formulieren, um die Rechte der Minderheiten in bloßen Worten zu garantieren, sondern in einer tatsächlichen Demokratie in Aktion. Deshalb muss die Linke im Iran den Begriff der Demokratie selbst abgrenzen und seine inneren Widersprüche und Konflikte aufzeigen. Sie muss herausarbeiten, welche Art von Demokratie die direkte Beteiligung der Massen an der Entscheidungsfindung und der Verwaltung der Angelegenheiten anerkennt. Die in den letzten zwei Jahrzehnten vorgeschlagene Alternative ist die “Shura-Demokratie”, eine Demokratie von unten, die in den Betrieben und Stadtvierteln verwurzelt ist und sich nicht auf Repräsentanten stützt, deren einziges Interesse der Nutzen der Herrschenden und die Kapitalakkumulation ist.

Es steht fest, dass der etablierte Dualismus zwischen “islamistischem Staat” und “säkularem Staat” die großen Probleme des Irans nicht erkennen, geschweige denn angehen kann, denn die sozialen Wurzeln der Unzufriedenheit des Volkes liegen nicht in den Lehren des Islam, sondern in der systematischen Korruption, die unter dem “Banner des Islam” betrieben wird, was ebenso gut unter dem Banner einer anderen Religion möglich ist. Wenn die Ursache des Problems auf den Islam reduziert wird, entsteht die fiktive Vorstellung, dass ein säkulares Regime die Lösung für die Probleme wäre, vor denen wir stehen. Wenn wir jedoch unsere Aufmerksamkeit auf säkulare Regime im Westen richten, wird deutlich, dass der “Autoritarismus” zunehmend für den Neoliberalismus notwendig ist und nicht für islamische Staaten im Besonderen. Der säkulare Staat erscheint nun zunehmend als das Spiegelbild des islamistischen Staates, und die Bedingung für die Freiheit des Marktes ist die soziale und politische Unterwerfung.

Eine weitere Forderung der kämpfenden Massen ist Beschäftigung und wirtschaftliche Gleichheit. Welches neoliberale Regime in der Geschichte hat der gesamten Bevölkerung die Mittel zum Lebensunterhalt garantiert? Der Neoliberalismus lehnt solche Garantien prinzipiell ab. Nahrung, Kleidung und Unterkunft sind Privatangelegenheiten, für die allein der Einzelne verantwortlich ist. Die rechte Opposition führt die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme auf “staatliches Missmanagement” oder Einmischung in den Markt zurück, aber Tatsache ist, dass die bestehenden wirtschaftlichen Probleme ihren Ursprung in der Irrationalität des Neoliberalismus selbst haben, der von jeder iranischen Regierung seit 1989 unermüdlich verfolgt wurde.

Mit anderen Worten: Die von der Rechten entwickelte Alternative, die von Saudi-Arabien und anderen Weltmächten großzügig finanziell unterstützt wird, wird nichts an den bestehenden Produktions- und Machtverhältnissen ändern. Wie Reza Pahlavi selbst öffentlich erklärt hat, wird dasselbe Spiel gespielt werden, nur mit neuen Karten.

Lehrkräfte und Arbeitnehmer aus verschiedenen Wirtschaftszweigen haben ausdrücklich kritisiert, dass die Privatisierung des Bildungswesens und der staatlichen Unternehmen nicht nur für die betroffenen Arbeitnehmer, sondern für die Gesellschaft insgesamt eine Reihe von Krisen verursacht hat. Wie der Direktor der Koordinations-Shura (Rat) der iranischen Kulturgilde erklärte, hat die Privatisierung des Bildungswesens mehr als 5 Millionen Studenten daran gehindert, ihre Ausbildung fortzusetzen, weil sie sich die grundlegenden Bildungsmittel nicht leisten konnten, insbesondere während der Covid-Pandemie, die elektronische Geräte und den Zugang zum Internet erforderte. Darüber hinaus erhalten die Schüler in den überfüllten staatlichen Schulen eine sehr schlechte Ausbildung, und nur diejenigen, die Privatschulen besuchen, haben eine realistische Chance, die Hochschulaufnahmeprüfungen zu bestehen. Die Kommodifizierung der Bildung hat diese öffentliche Chance auf die Kinder der Bourgeoisie beschränkt.

Frage: Das Konzept der Schura, ein Begriff, der Konsultation oder gegenseitige Beratung bedeutet und der im Koran vorkommt, wurde von den Gelehrten natürlich unterschiedlich interpretiert. Im 20. Jahrhundert jedoch, insbesondere im Iran während der Revolution von 1979 und unter den Kurden im Iran, Irak und Syrien, haben die Arbeiter und die städtischen Armen den Begriff verwendet, um Formen der Selbstorganisation zu bezeichnen und die bereits im Islam vorhandene Idee der Selbstorganisation von Gemeinschaften, die durch gegenseitige Konsultation und somit durch direkte Demokratie geregelt werden, weiterzuentwickeln. In den Jahren 1978-79 drängte die Linke die Bevölkerung erfolgreich dazu, Shuras zu bilden, aber sie wurden bald von Khomeini-treuen Klerikern unterwandert und neutralisiert.  Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Schura-Form im heutigen Kampf im Iran?   

Antwort: Entgegen der landläufigen Meinung im Westen sind die Lehren des Islam in der Lage, die Massen sowohl gegen den Imperialismus als auch gegen despotische Machthaber zu mobilisieren. Die Bewegung der Tabakarbeiter beispielsweise war ein nationaler Protest schiitischer Muslime in den Jahren 1890-92 gegen die Tabakkonzession, die der Qajar-Schah einem britischen Unternehmen erteilt hatte und die den Briten die Kontrolle über Anbau, Verkauf und Export von Tabak sicherte. Der Schiismus und die Religion spielten damals eine oppositionelle Rolle und entwickelten einen Diskurs des Widerstands gegen den britischen Imperialismus. Wenn der Islam jedoch wie jede andere Lehre als Mittel zur Rechtfertigung der herrschenden Macht und der kapitalistischen Verhältnisse benutzt wird, verliert er seine oppositionelle Funktion und wird gegen sich selbst gewendet.

Das Konzept der Schura, das, wie Sie sagen, aus dem Koran abgeleitet ist, hat in der zeitgenössischen Geschichte Irans eine dynamische und widersprüchliche Rolle gespielt, je nachdem, wie es sich mit anderen Elementen und Kräften verband.

Zwei bis drei Monate vor der Revolution von 1979 spielten die Arbeiter eine wichtige Rolle bei der Ausrichtung der Massenproteste auf einen revolutionären Sieg, indem sie landesweite Streiks organisierten, die von den von der Linken entwickelten “Streikkomitees” geleitet wurden. Unmittelbar nach der Revolution wurden aus den “Streikkomitees” in fast allen Büros, Unternehmen, Industriebetrieben, Fabriken und Gemeinden Arbeiter-Schuras gebildet, um die volle Kontrolle über die Fabriken zu übernehmen, deren Besitzer und leitende Angestellte aus dem Land geflohen waren oder um die SAVAK-Agenten in diesen Orten zu identifizieren. Sie übernahmen die Fabriken mit außerordentlichem Verantwortungsbewusstsein, aber die provisorische Regierung lehnte die Fortsetzung ihrer Tätigkeit entschieden ab und erklärte, dass der Sieg ihre Existenz überflüssig und ihre Tätigkeit ungesetzlich gemacht habe. Sie wurden massiv unterdrückt, demontiert, gesäubert und durch “islamische Schuras und Vereinigungen” ersetzt, die eine völlig andere Rolle spielten. Diese Schuras stellten die Verwaltung von oben wieder her und zerstörten die Autorität der Arbeiter, indem sie ihnen jegliche Verwaltungs- und Entscheidungsbefugnis absprachen.

Trotz aller unerbittlichen Repressionen wurde die Idee der Selbstorganisation der Arbeiter durch die Bildung unabhängiger Schuras jedoch nie ganz beseitigt, und sie wurde zwei Jahrzehnte später in der Lehrerbewegung und in den Kämpfen der Arbeiter der Haft-Tappeh Zuckerrohrfabrik, der HEPCO (Machine Industry Company) und der Khouzestan Steel Company wiederbelebt. Diese Shuras waren in der Lage, Forderungen zu formulieren, die das bestehende Regime und die kapitalistische Weltordnung in Frage stellen. Sie gehen über ihre unmittelbaren Anliegen hinaus und verbinden die Verwirklichung ihrer Forderungen mit Gleichheit und Gerechtigkeit für die gesamte Gesellschaft. Neben ihrem Kampf gegen die neoliberale Wirtschaft, die alle sozialen Beziehungen zur Ware gemacht hat, haben sie Forderungen wie das Recht der Kinder auf Unterricht in ihrer Muttersprache und das Recht auf hochwertige und kostenlose Bildung für alle formuliert.

Am wichtigsten ist vielleicht, wie Mohammad Habibi, der Direktor der Koordinations-Shura (Rat), in einem Interview sagte “Eine der wichtigsten Errungenschaften der Lehrerproteste ist die Rückeroberung der Straße von der Staatsgewalt und die Normalisierung der Straßendemonstration. Die endgültige Veränderung findet auf der Straße statt, was eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Zivilgesellschaft spielt”.

Frage: Sie haben argumentiert, dass wir, um den Demonstrationen gegen das erzwungene Tragen des Hidschabs einen Sinn zu geben, dieses Thema als eine Variante der Herrschaft über den Körper der Frau betrachten müssen, die sich ebenso deutlich in den Verboten des Hidschabs und des Burkini in Frankreich oder dem Versuch, die Abtreibung (auch erzwungene Schwangerschaft genannt) zu verbieten, ausdrückt. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, der durch die allgemeine Islamophobie des Westens in Vergessenheit zu geraten droht. Könnten Sie erläutern, inwiefern diese Politiken Ihrer Meinung nach grundlegend miteinander verbunden sind? 

Antwort: Wie viele herausragende Denker argumentieren, sind die Machtverhältnisse eng mit der Beherrschung des Körpers verbunden. In der Tat werden die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Disziplinierung von Körpern und die Produktion von unterwürfigen Subjekten reproduziert.

Ich denke, wir müssen Macht nicht nur in ihrem negativen Sinne verstehen, d. h. in den Verboten, die verschiedenen Aspekten unseres Lebens auferlegt werden, sondern auch in ihrem positiven Sinne, d. h. in der Art und Weise, wie ideologische Apparate “normale Körper” produzieren. Während die Ausübung von Macht durch das Verbot bestimmter körperlicher Handlungen leicht zu erkennen ist, werden die ideologischen Instrumente, die entwickelt wurden, um gehorsame Subjekte zu produzieren, die sich an die festgelegten Regeln und Vorschriften halten, unsichtbar gemacht.

Selbst im ersten Fall werden die von islamischen Staaten oder vielen Gesellschaften des globalen Südens auferlegten Verbote in Nordamerika und Europa als typische Merkmale “rückständiger” Staaten hervorgehoben und angesprochen. Die Rückständigkeit solcher Staaten wird als Unfähigkeit verstanden, sich in dem vom IWF und der Weltbank geforderten Maße zu modernisieren, oder, wie im Fall des Iran, als stures Festhalten am vormodernen Islam. Die gleichen Verbote und die Überwachung der Kleidung von Frauen im Falle Frankreichs werden dagegen als notwendig für die Assimilation muslimischer Flüchtlinge und Einwanderer an die herrschende Kultur angesehen.

Was die Machtausübung im positiven Sinne betrifft, so kann man auf die riesige Kosmetikindustrie verweisen, deren Hauptabnehmer die iranischen Frauen sind. In den westlichen Medien wird diese Art der Körperdisziplinierung jedoch nur als Zeichen des Fortschritts gepriesen. Ein weiteres Beispiel ist die Herstellung eines “normalen Körpers” mit einem bestimmten Gewicht, einer bestimmten Haarfarbe, einer bestimmten Körperform und einer Reihe spezifischer körperlicher Merkmale, die nur durch einen schmerzhaften und kostspieligen Prozess der plastischen Chirurgie erreicht werden können. Der Iran hat die höchste Pro-Kopf-Rate an kosmetischen Eingriffen in der Welt, aber dieser Aspekt der Körperdisziplinierung bleibt für die westlichen Medien unsichtbar.

Die rechte Opposition hört nicht auf, das derzeitige iranische Regime für die Entwicklung einer Reihe von Verboten zu kritisieren, die sich aus islamischen Doktrinen ableiten und alle Bereiche des Privatlebens kontrollieren und disziplinieren sollen. Sie verschweigen jedoch die von Reza Schah eingeleitete Kampagne der Zwangsentschleierung, die dazu führte, dass Frauen aus Angst, auf der Straße entblößt zu werden, in ihren Privathäusern eingeschlossen wurden. 

Eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Linken ist es, sich dagegen zu wehren, dass nur die Körper von Frauen in den Gesellschaften des Nahen Ostens unterdrückt werden, und die Unterwerfung von Körpern in ihren vielfältigen Formen überall dort in Frage zu stellen, wo sie vorkommt, von der Zwangsverschleierung bis zur Zwangsentschleierung und allen anderen Praktiken, die den Körper von Frauen für wirtschaftliche Vorteile oder politische Interessen zur Ware machen.

Frage: Wie können Menschen außerhalb des Irans am effektivsten ihre Solidarität mit der Bewegung im Iran ausdrücken und ihr die nötige Unterstützung geben?

Antwort: Die internationale Linke muss helfen, den Prozess des Wandels zu beschleunigen, indem sie betont, dass Autoritarismus, Unterdrückung, Elend und Armut notwendige Merkmale des kapitalistischen Weltsystems sind und nicht nur in islamischen Staaten vorkommen. Die Ursachen der Revolte im Iran gehen über den Iran hinaus, da die Entfesselung des Neoliberalismus die “demokratische” Maske des “freien Marktes” abreißt und die objektiven Bedingungen für die Revolution vorbereitet. Die Massenkämpfe hier sind untrennbar mit denen aller Unterdrückten in allen kapitalistischen Staaten verbunden. Wenn die Linke die Probleme hier als exklusiv für den Iran und ohne Bezug zur kapitalistischen Ordnung betrachtet, wird es ihr nicht gelingen, jemals eine internationale Bewegung gegen die kapitalistische Weltordnung zu entwickeln, und es würde beim ” Ende der Geschichte ” bleiben. Durch die Anwendung einer materialistischen Analyse müssen wir die Beziehung zwischen den Bewegungen im Globalen Süden wie den aktuellen Protesten im Iran, dem Arabischen Frühling, den Aufständen im Sudan und denen im Globalen Norden wie den Gilet Jaunes-Protesten in Frankreich oder den Occupy Wall Street und Black Lives Matter-Bewegungen in den USA finden. Die Forderungen und Bewegungen aller unterdrückten Bevölkerungsschichten müssen von der Linken begrüßt und gefördert werden.

Es ist auch von enormer Bedeutung, Sanktionen als wirksames Mittel zur Schwächung der etablierten Regierung abzulehnen. Die Machthaber werden sich immer Taktiken einfallen lassen, um das zur Finanzierung ihrer militärischen Projekte benötigte Kapital aufzutreiben, und nur die arbeitenden Massen leiden unter den Folgen.

Schließlich muss die internationale Linke jede ausländische Intervention unter dem Vorwand der “humanitären Intervention” radikal ablehnen, da solche Interventionen in Afghanistan und im Irak nur unermessliche Todesopfer und soziopolitische Katastrophen zur Folge hatten.


Shirin Kamangar ist das Pseudonym einer in Teheran lebenden Aktivistin, insofern handelt es sich bei diesem Interview um die Wiedergabe einer Stimme aus dem iranischen Widerstand selbst. Der Beitrag erschien ursprünglich auf englisch am 28. November 2022 auf Partisan

Die Selbsterhaltung des Kapitals und die Uhr der Apokalypse

Ezra Riquelme

“Nichts kann die gesamte Menschheit hindern, aus ihrer angestammten Isolierung herausgerissen und in die Weltwirtschaft der voneinander abhängigen Spezialisten gezerrt zu werden. Denn die neue Produktionsweise ist unvergleichlich effektiver im Kampf ums Überleben”.

Walter Lippmann, The Good Society 

Im August letzten Jahres prognostizierte eine Studie der HSBC-Bank für das Jahr 2100 einen drastischen Rückgang der Weltbevölkerung, d. h. das Verschwinden von mehr als 4 Milliarden Menschen. Die Gründe, die dieses Studieninstitut uns auftischt, um dieses Verschwinden der Hälfte der Menschheit zu rechtfertigen: der Rückgang der Geburtenrate und die Überalterung der Bevölkerung. Die Ankündigung eines solchen Szenarios dient einzig und allein dem Zweck, den Druck auf die Menschen aufrechtzuerhalten und sie auf eine weitere Zuspitzung des Horrors vorzubereiten. Es kommen wieder die Winterjahre! Die Kälte des Kapitals breitet sich unter dem Anschein des Friedens aus, das Kapital führt einen Krieg auf allen Ebenen und die Verwüstungen, die ihm folgen, werden nicht heruntergespielt. Insbesondere die Zerstörung der Tier- und Pflanzenwelt. Das Kapital verspricht mehrere mögliche Weggabelungen, einen selbstregulierten grünen Kapitalismus, einen mehr cyberdemokratischen Kapitalismus; all diese Möglichkeiten werden von einer Weiterentwicklung der Technologie des Kapitals als Antwort auf seine eigene Katastrophe gesteuert. Davon zeugt die Möglichkeit, ausgestorbene Wesen (Tiere und Pflanzen) durch Simulakren zu ersetzen. Ein Beispiel für dieses Bestreben ist eine Werbung für eine Automarke, in der eine Welt ohne Tiere durch freundliche Roboter ersetzt wird. Dies entspringt der westlichen Matrix, die darin besteht, sich alles, was vor ihr existiert, anzueignen und zu zerstören. Folglich ist das Kapital eine Abstraktions- und Vernichtungsmaschine, ein technologisches System, das eine Vielzahl von Rechen- und Verwaltungsgeräten installiert, die es ermöglichen, die Lebensweise der Arten neu zu konfigurieren. Auch die Beschränkung auf das Prisma von Produktion, Reproduktion und Herrschaft hat nur eine bestimmte Funktion, nämlich die einer bedeutsamen Mutter im Getriebe dieser Maschine zu sein. 

Die Debatten über den Ursprung des Kapitalismus sind nach wie vor hitzig. Jeder bringt seinen eigenen Ausgangspunkt als Standpunkt der Totalität ein, ohne jedoch den Reichtum der vielfältigen Genealogien zu sehen. Jede Historie des Kapitalismus birgt wertvolles Material, um einen Plan für die Wahrnehmung der Realität zu entwickeln und eine Macht zu schaffen, die zu ethischer Wahrheit fähig ist und bereit ist, sich mit dieser Abstraktionsmaschine anzulegen. Wir halten es für wichtig, das Wort Kapital selbst als Ausgangspunkt zu nehmen und auf die Etymologie des Begriffs zurückzugreifen. Im Lateinischen kommt das Wort Kapital von capitalis, was sich auf den Kopf bezieht, der den Tod bringt, abgeleitet vom Begriff caput, der sich auf den Viehbestand, d. h. die Herde, bezieht. Das Kapital führt seine Herde an der Spitze zum Schlachthof. Um dies zu erreichen, musste sich das Kapital außerhalb der Warensphäre materiell konstituieren, und zwar in seiner wertvollsten Ressource: der Menschheit. Die Geschichte des Kapitals vollzieht durch sein hegemoniales Prinzip, die Wirtschaft, eine doppelte Kolonisierung: die Eroberung des gesamten Planeten als Ressourcenraum und die Eroberung seiner Bewohner. Heute sind wir voll und ganz der neoliberalen Planung unterworfen, die die Ausweitung der Sphäre der Rentabilität auf alle Dinge, sogar auf Abfall, einen neuen Markt und eine Operation der totalen Neugründung der Menschheit durch die vollständige Integration in eine radikal neue Lebensweise [way of life] (“…sie hat Sitten, Institutionen und Traditionen erschüttert und so die Gesamtheit des menschlichen Horizonts verwandelt” Walter Lippmann; The Good Society) in Gang setzt. Ein bekanntes Motiv aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften wird wieder aufgegriffen, indem eine weitere Schicht wirtschaftlichen und sozialen Asphalts auf die bestehenden Beziehungen aufgetragen wird, die inzwischen in weite Ferne gerückt sind. Der Kapitalismus ist das Aufkommen einer Lebensform mit einem Willen zur zerstörerischen Macht, “er ist die Vernichtungsvorrichtung, in der sich der Nihilismus entfesselt” (Jean Vioulac, L’époque de la technique). 

Das Unterfangen des Kapitals setzt die früheren Operationen fort, die von der Republik, der Familie, dem Staat, der Nation usw. durchgeführt wurden, um den Kommunismus zu überwuchern. Tatsächlich ist der Kommunismus keineswegs ein Produkt der Moderne, geschweige denn ein wirtschaftliches oder politisches System. Der Kommunismus ist höchstens eine Ethik, wobei er auch seine Notwendigkeit anerkennt, ein Bedürfnis zu sein, vielleicht sogar das erste Bedürfnis. Der Kommunismus hat in der Geschichte eine Vielzahl von Formen angenommen. Das 20. Jahrhundert war jedoch das große Manöver, um ihn zu vernichten. Das Emporkommen der Atombombe, wie Jean-Marc Royer in “Die Welt als Manhattan-Projekt” berichtet, hatte nie zum Ziel, das Dritte Reich zu besiegen, sondern die UdSSR, die für die USA den Kommunismus darstellte. Es wird sehr wohl und zu Recht eingeräumt, dass die UdSSR nie kommunistisch war, die Eigentümer ihrer Welt aber hatten einen Feind, den es auszurotten galt, im Visier: den Kommunismus. “Das Kapital als gesellschaftliche Produktionsweise verwirklicht seine tatsächliche Herrschaft, wenn es ihm gelingt, alle vorher bestehenden sozialen oder natürlichen Voraussetzungen durch die eigenen Organisationsformen zu ersetzen, die die Unterwerfung allen physischen Lebens vermitteln” (Giorgio Cesarano & Gianni Collu, Apokalypse und Revolution). Daher die entscheidende Bedeutung für die kapitalistische Maschine, jede Möglichkeit zu zerstören, ohne sie zu leben. Wie Marx 1867 definierte, ist das Kapital ein Prozess der Zerstörung, das Kapital gründet seine Abstraktion auf den Kadavern der Formen, die ihm vorausgingen. Daher entspricht seine unendliche Expansion einem Selbsterhaltungsmechanismus, der auf der Aufrechterhaltung eines permanenten Ausnahmezustands beruht, der das tatsächliche Risiko des Aussterbens des Lebens beinhaltet. 

Das Auftreten des Kapitals in der Moderne aktualisiert die moderne Geste par excellence, die menschliche Totalität nach dem Modell einer bestimmten Lebensweise und der Unterwerfung unter einer ‘Welttechnik’ zu vereinen. Tatsächlich vereint das Kapital die Welt durch seine technologische Entfaltung, seine materielle Infrastruktur bedeckt die Welt, durch eine logistische Rechtfertigung des Fortschrittsmythos. Walter Benjamin entlarvt diesen Mythos durch seine Einsicht in die Ontologie des Fortschritts, die auf der Idee der Katastrophe beruht: “Dass die Dinge so weitergehen wie bisher, das ist die Katastrophe” (Walter Benjamin, Charles Baudelaire). Die wesentliche Substanz jedes Fortschrittsdiskurses konstituiert sich über Katastrophen, diese Arten von Diskursen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hegemonial, gerade über das Scheitern des Ideals der technischen Perfektion und die daraus resultierenden Verwüstungen werden sie wiederholt. Die Opfer dieser Katastrophen liefern somit die Rechtfertigung für das Versprechen einer “besseren Zukunft”. Die Entstehung des “Anthropozäns” oder “Kapitalozäns”, die Rückkehr der politischen Ökologie in den Vordergrund wäre das Ergebnis der Selbstreflexivität der Moderne, die von den Postmodernen durch diese Bewusstwerdung der “Grenzen” so sehr geschätzt wird, doch die Moderne ist nur die ständige Aktualisierung der Katastrophe. Die ontologische Substanz des Fortschritts artikuliert sich dann im neuen Horizont der Selbsterhaltung des Kapitals und stellt damit die Bedingungen für ein makabres Spiel: Kapitalismus oder Aussterben. Kurz gesagt ist es eine Geiselnahme der Welt: Entweder wir verschwinden oder wir beteiligen uns an der Selbsterhaltung des Kapitals. Das Kapital wird seine zerstörerische Logik bis zum Ende durchziehen. Während es seine Selbstkritik produziert, zum Beispiel mit dem Global Assessment Report 2022, der am 26. April vom Büro der Vereinten Nationen für Katastrophenvorsorge veröffentlicht wurde. Laut ihnen muss man lediglich “wissen, wie sich Regierungssysteme weiterentwickeln können, um den systemischen Risiken der Zukunft besser begegnen zu können”. Das ist die Katastrophe!  

Der Notstand der Katastrophe ist die Homogenisierung der Zeit. Die Zeit rast, von allen Seiten! “Ich habe keine Zeit” ist der allgemein akzeptierte Satz aller, die Zeit läuft uns davon, wir stehen ständig unter Druck. Dieses Gefühl einer ständigen Beschleunigung der Zeit ist ein Symptom für die Verwischung der Unterschiede zwischen Produktion und Zirkulation. Die Kolonisierung jedes einzelnen Moments des Lebens durch das Kapital lässt die “Arbeit” verschwinden, indem die Messung auf die gesamte gelebte Erfahrung ausgeweitet wird. Die Zeit des Kapitals ist überall, Mobiltelefon, angeschlossene Uhr etc.. Die technologischen Ökosysteme sind die Mittel, um die permanente Messung durch Rückkopplung zu bestimmen: Produzent, Produkt, Verkäufer des Produkts und Verbraucher. Die Uhr ist mit den Körpern und den Köpfen verschmolzen. Die Zeit als unveränderliches, messbares System ist durch die Entwicklung der mechanischen Uhr in Europa Ende des 19. Jahrhunderts noch vor der Säkularisierung entstanden. Die Uhr hat laut Mumford “die Zeit von den menschlichen Ereignissen abgekoppelt” (Lewis Mumford, Technik und Zivilisation). Die Technik der mechanischen Uhr wird die Art der Buchführung und Bilanzierung im Laufe der Jahrhunderte ständig weiterentwickeln. Die Zeiträume jeder Technologie, jedes Lebensumfeldes und jeder Lebensform werden auf die eine, totalisierende Zeit reduziert, die die Wirtschaft darstellt.  

So ermöglicht es die Vereinheitlichung der Zeit durch das Kapital, den einzigen Horizont dieser Epoche zu zeichnen: die Katastrophe. Von ihr aus werden wir regiert und das Kapital kann seine Selbsterhaltung optimieren. Es nimmt sich die Prophezeiungen der Apokalypse und ihre Ankündigung der Katastrophe zum Vorbild, deren einziges Ziel es ist, Passivität und Unterwerfung aufrechtzuerhalten. Die immer stärkere Zerstörung der Lebensformen und ihrer Umwelt lässt in den Momenten der existenziellen Zweifel eines jeden das latente Gespenst des Weltuntergangs wieder aufleben. Und die Governance wirkt bis in unsere Körper, in die Tiefen unserer Ängste. Der Kapitalismus ist der Krieg gegen den Kommunismus, weshalb der Kalte Krieg nie aufgehört hat und die Doomsday Clock (Uhr der Apokalypse) auch nie stillsteht. Die Uhr stammt aus dem Jahr 1947 und wird mithilfe der NGO Bulletin of the Atomic Scientist nicht mehr weiterlaufen. Es ist an der Zeit, sich an den weisen Rat eines Zeugen des Juli-Aufstandes von 1830 zu erinnern: “sie schossen auf die Zifferblätter, um den Tag anzuhalten” (L’Insurrection. Poème dédié aux Parisiens, von Auguste Marseille Barthélemy und Joseph Méry).

Dieser Text erschien am 5. Dezember 2022 auf Entêtement.