VOM GEFÄNGNIS ZUM BEWAFFNETEN KAMPF IM ITALIEN DER 1970ER JAHRE: EIN GESPRÄCH MIT PASQUALE ABATANGELO

Fünf Fragen an Pasquale Abatangelo, Autor des Buches ‘Je courais en pensant à Anna, voyage à travers les luttes radicales italienes des années 1970’, das kürzlich bei PMN éditions erschienen ist.

ACTA: Sie wurden sehr jung inhaftiert, zu einer Zeit der starken sozialen Neuzusammensetzung der Gefängnisse in Italien, in die viele derjenigen eingesperrt wurden, die sich der Disziplin in der Fabrik verweigerten. Können Sie auf diesen Kontext Ende der 1960er Jahre und den Beginn Ihres Engagements für die Kämpfe im Gefängnis zurückkommen?

Pasquale Abatangelo: Als ich Ende der 1960er Jahre als sehr junger Mann anfing, in die Gefängnisse einzutauchen, hatte sich Italien grundlegend verändert. Von einem überwiegend ländlichen und bäuerlichen Nachkriegsland hatte es sich zu einem industriellen und städtischen Land gewandelt. Und das veränderte sich nun auch in den Gefängnissen, in den Zellen und auf den Freistundenhöfen. Die soziale Zusammensetzung der Insassen hatte sich grundlegend verändert, nicht aber die immer noch maroden Gebäudestrukturen, das faschistische Strafgesetzbuch und die faschistischen Gefängnisvorschriften.

Jetzt füllten sich die Gefängnisse mit jungen Proletariern, deren Lebensperspektiven stark mit den Bewegungen des Proletariats in den Metropolen übereinstimmten, die 1968/69 zusammen mit den Studenten und den Arbeitern der großen Fabriken die politische Macht der Bourgeoisie und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage stellten. Das Zusammentreffen im Gefängnis zwischen der politischen Avantgarde der Bewegung, die wegen Demonstrationen und Straßenschlachten verhaftet worden war, und dieser neuen rebellischen Klassenzusammensetzung der Gefängnispopulation diente als Sprengsatz für eine ohnehin schon explosive Gefängnissituation.

Das Gefängnis war von der Außenwelt nicht mehr abgeschottet und der Widerspruch zwischen der stürmischen Entwicklung der Gesellschaft und der mittelalterlichen Rückständigkeit des Gefängnissystems konnte nicht mehr innerhalb der Gefängnismauern eingedämmt werden. Und genau vor diesem Hintergrund begannen die Massenrevolten und -unruhen in den Gefängnissen, in deren Verlauf ich mit Hunderten anderer sozialer Gefangener (1) wie mir meine ersten Schritte im Klassenkampf machte.

Anfangs begann ich, mich an den Kämpfen der Gefangenen zu beteiligen, einfach wegen meines rebellischen Geistes, der mich dazu brachte, die schrecklichen Bedingungen des Gefängnislebens und die täglichen Schikanen unserer uniformierten Folterer nicht passiv hinzunehmen. Aber auch, weil ich in einer Besserungsanstalt aufgewachsen war und mich seit meiner Kindheit immer an vorderster Front an der Seite der Schwächsten wiederfand, ohne zu zögern und ohne jemals zurückzuweichen.

ACTA: Die französische extreme Linke tat sich – mit Ausnahme einiger Autonome-Gruppen – sehr schwer damit, das Gefängnis als einen Brennpunkt des revolutionären Kampfes zu sehen. Wie kam es zu dieser Bejahung in Italien? Wie vollzog sich der Übergang von den Gefangenen-Aktionskomitees zu den NAP (Nuclei Armati Proletari)?

Pasquale Abatangelo: In der Tat wurden in diesen Jahren nur in Italien die Gefängnisse zu einem Ort des revolutionären Kampfes. Diese typisch italienische Besonderheit wurde dadurch erreicht, dass die revolutionäre Propaganda und Presse die Kämpfe der Gefangenen unterstützten. Obwohl auch in Frankreich, Deutschland, England und den USA die 68er-Bewegung Worte fand, um die totalen Institutionen zu verstehen, zu beschreiben und abzulehnen, entstand nur in Italien eine gleichberechtigte, horizontale und osmotische Dynamik zwischen Ganoven und Revolutionären.

Damals beanspruchten die inhaftierten jungen revolutionären Aktivisten nicht wie anderswo den Status von politischen Gefangenen. Sie entschieden sich dafür, sich den Kämpfen der sozialen Gefangenen anzuschließen, um dazu beizutragen, den politischen und kulturellen Horizont der Avantgarde der Häftlingsbewegung zu erweitern. Im Gegenzug bereicherten die Räuber und Halunken aber auch den politischen und menschlichen Hintergrund der politischen Gefangenen. Der Einfluss ging in beide Richtungen. Die Straftäter eigneten sich die Kultur und die politische Erfahrung der 68er an, die für die Entwicklung der Bewegung der proletarischen Gefangenen notwendig waren. Während die politischen Häftlinge sich schnell vom konkreten Wissen der Straftäter nährten, das aus ihren Lebenserfahrungen an den Rändern der Gesellschaft resultierte. Auf beiden Seiten gab es eine große Anziehungskraft für die andere Welt, die entdeckt wurde. Die Barrieren wurden zusammen mit der alten Idee der Erlösung des Subproletariats gesprengt und durch die Idee einer Erweiterung, Neuformulierung und Radikalisierung des Klassenhorizonts ersetzt, der in seiner Gesamtheit als metropolitanes Proletariat erfasst wurde.

Auf dieser Grundlage wurden Hunderte von sozialen Delinquenten wie ich zu politischen Delinquenten, zu Revolutionären, die dann zusammen mit anderen politischen und sozialen Subjekten die Bewaffneten Proletarischen Kerne (NAP) ins Leben riefen. Das geschah, als die Massenbewegung der proletarischen Gefangenen die politische Notwendigkeit dafür sah, nämlich nach den Massakern an revoltierenden Gefangenen 1974 in den Murate Gefängnissen in Florenz und Alessandria. Als sie erkannten, dass sie sich nicht mehr vollständig und ausschließlich auf die Aktionen außerparlamentarischer Gruppen stützen konnten und dass sie, um den Kampf fortzusetzen, unbedingt eine eigene revolutionäre Organisation aufbauen mussten, mit einem politischen Programm, das die Verteidigung der Kämpfe der Gefangenen und des marginalen Proletariats in den Mittelpunkt stellte. 

ACTA: Die NAP stellten sich selbst als “eine jener Gruppen vor, die beschlossen haben, den Kampf gegen den Staat der multinationalen Konzerne zu radikalisieren, insbesondere gegen das repressive System: die Gefängnisse und den Justizapparat”, und hatten folgende Parolen: “10, 100, 1000 bewaffnete proletarische Kerne schaffen und organisieren”.  Wie waren die NAP innerhalb der verschiedenen Gefängnisse strukturiert, und welche Formen der Bewegung gab es innerhalb und außerhalb der Gefängnisse?

Pasquale Abatangelo: Die NAP entstanden Anfang der 1970er Jahre als Folge zweier Episoden, die das Niveau der Konfrontation in den Gefängnissen veränderten. Die erste war der mörderische Gegenschlag, den der Staat zur Niederschlagung der Kämpfe der proletarischen Gefangenenbewegung einsetzte, indem er auf Massaker in den Gefängnissen von Alessandria und Murate zurückgriff, wo er auf revoltierende Häftlinge schoss. Zweitens wurde die Unterstützung für die Kämpfe der Gefangenen (die nun einen offensiven und gewalttätigen Charakter angenommen hatten) von den Gruppen der außerparlamentarischen Linken aufgegeben, weil sie eine Gefangenenbewegung, die immer mehr auf das Terrain des bewaffneten Kampfes vordrang, nicht mehr mittrugen und nicht mehr in der Lage waren, diese politisch zu steuern.

In dieser Situation hatten die Gefangenen nur zwei Möglichkeiten: entweder sich der bewaffneten Gewalt des Staates und der fortschreitenden Isolierung der Kämpfe innerhalb der Gefängnismauern zu ergeben oder eine eigene Organisation aufzubauen, die in der Lage war, sich dem vom Staat auferlegten Niveau der Konfrontation auf dem Terrain des bewaffneten Kampfes zu stellen. Und so entstanden die NAP, eine kämpfende Organisation, die die politische Verantwortung übernahm, der Bezugspunkt für die Verdammten dieser Erde zu sein, d. h. für die Gefangenen und das extralegale und marginale Proletariat. Eine Organisation, die die Kämpfe der Gefangenen und des Subproletariats mit Waffen unterstützte und in der Lage war, sich in den revolutionären Prozess zu integrieren, den die Roten Brigaden zusammen mit der norditalienischen Arbeiterklasse eingeleitet hatten, um die verschiedenen sozialen Figuren, die das italienische Großstadtproletariat bilden, von Nord nach Süd, von der Arbeiterklasse bis zu den Gefangenen, den Extralegalen und den Arbeitslosen neu zu formieren.

Uns war bewusst geworden, dass sich unser Zustand als Verdammte dieser Erde nur durch eine proletarische Revolution ändern konnte. Wir ließen uns von der Black Panther Party und den Kämpfen der schwarzen Gefangenen in den amerikanischen Gefängnissen inspirieren. Es ist kein Zufall, dass die ersten Kollektive, die vor der Entstehung der NAP innerhalb der Gefängnisse organisiert wurden, sich nach diesen Bewegungen “Red Panthers” oder auch “George-Jackson-Kollektiv” nannten. Das politische Programm und die Organisationsstruktur der NPA lassen sich in den Slogans zusammenfassen, die in ihren Kommuniqués mehrfach wiederholt wurden: “Organisiere 10, 100, 1000 bewaffnete proletarische Kerne” und “Revolte in den Gefängnissen und bewaffneter Kampf draußen”.

Ursprünglich waren die NAP in territorialen Kernen organisiert, die im Rahmen einer gemeinsamen politischen Strategie völlig autonom agierten. Später strukturierten sie sich jedoch stärker zentralisiert, ohne jemals die taktische Autonomie der Kerne aufzugeben. Die Aktivisten der NAP lebten sowohl im Untergrund als auch halb im Untergrund und waren hauptsächlich Gefangene und ehemalige Gefangene, aber es gab auch Studenten und Arbeiter, die Lotta Continua verlassen hatten und sich dafür entschieden, die Kämpfe der Gefangenen und des marginalisierten Proletariats auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes gegen den Staat und seine Repressionsapparate weiterhin zu unterstützen.

ACTA: Am 1. März 1976 unterzeichneten die Roten Brigaden und die NAP ein gemeinsames Kommuniqué mit dem Titel “Für die Einheit der Guerilla” und führten gemeinsam mehrere Aktionen durch, wie den gleichzeitigen Angriff auf Kasernen und Fahrzeuge der Carabinieri in Mailand, Turin, Genua, Rom, Neapel, Florenz und Pisa. In welchem Kontext kommt es zu diesem Bündnis? Welche Beziehungen unterhielten die NAP Ihrer Erfahrung nach zu anderen Gruppen des bewaffneten Kampfes?

Pasquale Abatangelo: Das Bündnis zwischen den NAP und den BR entstand in einem sozialen und politischen Kontext, in dem der bewaffnete Kampf und die revolutionäre Bewegung in die Offensive gingen. In diesem Zusammenhang sei nur an die zahlreichen bewaffneten Aktionen der kämpfenden Organisationen erinnert, an wilde Streiks, improvisierte Umzüge innerhalb der Fabriken, Arbeiterdemonstrationen, Schulbesetzungen, die zentrale Rolle der Frauen (‘protagonismo’; Anm. von ACTA) (2) in den Organisationen, von außen unterstützte Aufstände und Gefangenenbefreiungen.

Nach Angaben des Innenministeriums gab es 1976 über tausend bewaffnete Aktionen und über vierhundert Gefängnisausbrüche. Vor diesem Hintergrund waren für die NAP die Beziehung zu den Roten Brigaden von strategischer Bedeutung, sowohl um die Einheit der Guerilla zu erreichen als auch um die politische und geografische Neuzusammensetzung des großstädtischen Proletariats im revolutionären Prozess aufzubauen. Die gleichzeitigen bewaffneten Angriffe auf Kasernen und Fahrzeuge der Carabinieri, die am 1. März 1976 in verschiedenen italienischen Städten durchgeführt wurden, müssen unter diesem Gesichtspunkt gelesen werden. Was die Beziehungen zwischen den NAP und anderen Gruppen des bewaffneten Kampfes betrifft, so gab es eine politische und auch theoretische Dialektik, aber keine nennenswerten operativen Verbindungen, abgesehen von der mit der BR.

ACTA: Im März 2020 hatten in Italien Tausende Gefangene zu Beginn des Corona Ausnahmezustandes rebelliert, da ihre Gesundheit im Gefängnis nicht gewährleistet war. Die Repression stoppte die Bewegung sehr schnell, 14 Menschen wurden getötet und Hunderte verletzt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in den Gefängnissen und mögliche kollektive Bewegungen angesichts der Repression?

Pasquale Abatangelo: Die Unruhen und Gefängnisausbrüche vom März 2020 in verschiedenen italienischen Gefängnissen während der Covid-19-Pandemie und des Lockdowns weisen in mancher Hinsicht und auf den ersten Blick viele Ähnlichkeiten mit den Unruhen der 1970er Jahre auf. Zum Beispiel in Bezug auf ihren Massencharakter, die Verwüstung der Gefängnisse, das Bild von Häftlingen auf den Dächern, die Schläge und Morde an Häftlingen als Vergeltung für die Unruhen, die Toten usw., aber auch wegen der Fluchten, die während dieser Unruhen stattfanden. Doch bei näherer und tieferer Betrachtung gibt es neben diesen phänomenalen Ähnlichkeiten auch enorme Unterschiede zwischen den Gefängnisunruhen der 1970er Jahre und den neueren Unruhen im Jahr 2020.

Erstens ist der soziale und politische Kontext, der sie hervorgebracht hat, ein anderer: In den 1970er Jahren gab es eine revolutionäre Bewegung, die in der Offensive war und die Unruhen von außen unterstützte, während die Häftlinge im Jahr 2020 in der Defensive und völlig isoliert sind und nur von ihren Familienmitgliedern und kleinen Gruppen von Kameraden unterstützt werden. Zweitens waren die Gefängnisaufstände der 1970er Jahre Teil einer revolutionären Perspektive der Klassenkritik am Staat und an der kapitalistischen Gesellschaft und als solche als offensive Kämpfe charakterisiert, während die Gefängnisunruhen von 2020 das Ergebnis der Verzweiflung von Häftlingen waren, die ohne jeglichen Gesundheitsschutz der Covid-19 Pandemie ausgesetzt waren, die die Lebensbedingungen der Häftlinge mit bestimmten Maßnahmen erheblich verschlechtert hatte, die die Isolation mit der Aussetzung der Besuchszeiten sowie der Lebensmittel- und Kleiderpakete, die von Familienmitgliedern geschickt und gebracht wurden, noch weiter verschärften. Drittens: die Dauer der Unruhen. In den 1970er Jahren entwickelten sie sich zu Kampfzyklen und dauerten mehr als ein Jahrzehnt, während die Unruhen im Jahr 2020 eine Explosion von wenigen Tagen waren. Schließlich haben sich die Lebensbedingungen der Häftlinge, die sich trotz der Gefängnisreform erheblich verschlechtert haben, noch weiter deutlich verschlimmert und erschweren die kollektive Organisation der Häftlinge erheblich.

Trotz all dessen sind die Gefängnisunruhen von 2020 ein Zeichen dafür, dass das Gefängnis ein Pulverfass ist, das jederzeit explodieren kann, auch wenn heute die Strategie der Strafdifferenzierung als Erpressungswaffe gegenüber den Häftlingen eingesetzt wird und sie eine Individualisierung der Gefängnissituation sowohl bei der Verhängung von Strafen als auch bei den Lebensbedingungen im Gefängnis erreicht hat. Heute, mit der willkürlichen Klassifizierung von Verbrechen und Vergehen und der Subjekte, die sie begehen, werden für jeden Einzelnen eine Strafe und die Haftbedingungen durch drei verschiedene Stufen des speziellen Gefängnisregimes festgelegt. Sie reichen von Hochsicherheitsstufe 1 über Hochsicherheitsstufe 2 und 3 bis hin zur 41bis-Folter (3) und der tatsächlichen lebenslangen “zivilen Todesstrafe” (ergastolo ostativo … ohne die Möglichkeit einer Bewährung; Anm. von ACTA), die die Gefangenen von jeglichen möglichen Vorteilen sowohl bei der Strafe als auch bei den materiellen Bedingungen des Gefängnislebens ausschließt. Und vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass die Kämpfe der Häftlinge über Hungerstreiks und verzweifelte Explosionen wie die von 2020, die mit 14 Toten und hunderten Verletzten unter den Häftlingen teuer bezahlt wurde, hinausgehen, wenn die Kämpfe außerhalb des Gefängnisses nicht wieder an Kraft gewinnen.

Fußnoten

  1. Während es in Italien üblich ist, den Begriff “sozialer Gefangener” für die ‘allgemeinen Rechte’ zu verwenden, die diesen zustehe, wird diese Bezeichnung im Französischen von vielen Häftlingen beansprucht, um den üblichen Gegensatz zwischen ihnen und politischen Gefangenen zu unterlaufen und damit die Tatsache zu markieren, dass Kriminalität ein Produkt der bestehenden Gesellschaftsordnung ist.
  2. Das Konzept des politischen Protagonismus wurde von Haïm Burstin, Professor für moderne Geschichte an der Universität Mailand und Spezialist für die Französische Revolution, entwickelt und bezeichnet die Art und Weise, in der gewöhnliche Menschen zu Akteuren einer außergewöhnlichen historischen Epoche werden.
  3. Der Artikel 41-bis des Gesetzes Nr. 354 der italienischen Strafprozessordnung vom 26. Juli 1975 führt die Anwendung eines speziellen Haftregimes ein, das sowohl auf Häftlinge abzielt, die wegen mafiöser Vereinigungen verurteilt wurden, als auch auf Verbrechen, die zu terroristischen Zwecken begangen wurden (und besonders auf politische Aktivisten abzielt), und das die Grundrechte und -freiheiten der Häftlinge einschränkt (völlige Isolation, Videoüberwachung, Verbot von Gruppenspaziergängen usw.).

Dieses Interview erschien im französischsprachigen Original am 26. Dezember 2022 bei ACTA ZONE.