Cesare Battisti
Eine weitere Kurzgeschichte von Cesare Battisti, der noch immer, fast 40 Jahre nach jenen Taten, die man ihm zur Last legt, vom italienischen Staat in Kerkerhaft gehalten wird. Der Hölle der Isolationshaft in einem Trakt mit Islamisten, die ihm nach dem Leben trachten, erst mit einem Hungerstreik mit bitterster Entschlossenheit entkommen. Doch noch immer tagtäglich schikaniert, Zellenrazzien, beschlagnahmte Schreibwerkzeuge, beschränkte Besuche, angehaltene Briefe. Aber das Herz pocht weiter und sendet uns immer wieder Zeilen der Poesie, auf dass diese uns berühren und die Gefangenen nicht vergessen lassen.
Der Schein trügt, aber er ist immer noch das, was wir am sichersten wissen. Selbst Vlady, der erst zehn Jahre alt ist, weiß das. Ein Alter, in dem es noch möglich ist, die Momente zu erfassen, die in der Luft, die er atmet, vergehen, und zu erkennen, dass ihm die Gegenwart verboten ist. Er weiß, dass der Krieg nicht nur aus Bomben besteht, die vom Himmel fallen, aus Fliehen, Weinen, zerfetzten Körpern. Er findet sich in den leeren Blicken der Überlebenden, in der gequälten Stille des unterirdischen Schutzraums. Der Krieg liegt in den ernsten Gesten der Erwachsenen, in ihrem unverhohlenen Schrecken.
Jedes Mal, wenn er ins Freie kommt, schaut Vlady auf die Trümmer ringsum und spürt, wie wenig sein Leben wirklich wert ist. Er weiß, dass er sich nicht so sehr aus der Deckung wagen sollte, er wird seine eigenen Leute in Sorge versetzen. Alle in der Unterkunft glauben, dass es draußen nichts mehr gibt, aber sie wissen nichts von dem Baum und den Fluchten, die er unternimmt, um ihm zuzuhören. Vlady ist wachsam, aber er weiß nicht, wer die Feinde sind, von ihnen kennt er nur den Klang der Schüsse. Und eine gesichtslose Angst ist zu vage, um sie zu entwaffnen.
Er spürt den Krieg unter seinen Füßen, als er die Zähne zusammenbeißt und auf den Baum der Geschichten zuläuft. Die Gefahr ist das Pochen des Blutes, das von der Erde aufgesogen wird, sie liegt im schweren Atem der Stille. Vlady rennt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, während die Sonne untergeht, in Erwartung des Klangs der magischen Worte. Sein Baum ist nichts Besonderes, er bietet allen, die zuhören wollen, Schatten. Er erzählt Geschichten von alten und neuen Welten, von (…) der Jagd nach Frieden. Seine Sprache ist universell, sie erzählt von Spielen, von Träumen und Zauberern, von wandernden Engeln ohne Flügel.
Unter seinen Ästen weicht der Krieg zurück, die Häuser werden aus den Ruinen wiedergeboren, die Mutter hängt immer noch ihre Wäsche auf dem Balkon auf, während auf dem Schulhof ein großes Getümmel herrscht. Der Baum sagt uns, dass es schon immer so war, dass der Wunsch, es könnte anders sein, nur eine Illusion ist, ein Irrtum von Tüftlern, die nicht wissen, wie man liebt.
Der Baum weiß, was er sagt, er hat Wurzeln, die stärker sind als der Krieg, und seine Stimme ist nur eine Melodie; er verbindet Worte mit der Musik der Blumen, und jedes Adagio hat einen anderen Duft.
Es bleibt wenig vom Tag übrig, aber Vlady gibt sich nicht mit dem Zuhören zufrieden, er will, dass das überquellende Herz des Lebens den Schutzraum unter der Erde mit Hoffnung überflutet. Er will den Gesang der Vögel mitnehmen, das Kinderlied der Insekten im Frühling, das Leben, das aus der Asche pfeift. Und die Überraschung der Kriegsherren, die sanftmütig an ihren Platz zurückkehren, wie gute Gartenzwerge.
Die Nacht bricht herein, ein Stern ist über der Hütte aufgegangen. Der Geschichtenbaum grüßt ihn mit einer leichten Neigung seines Laubes, als wolle er eine Vereinbarung über etwas besiegeln, das Vlady noch immer nicht versteht.
Der Text erschien auf italienisch am 6. April 2023 auf Carmilla online. Mehr Texte von und zu Cesare Battisti finden sich auf deutsch bei Sunzi Bingfa archiviert.