Ghassan Salhab
Revolution über uns-selbst. Diese Worte tauchten zum ersten Mal im Stadtzentrum von Beirut auf. Die letzten zwei Worte, über uns-selbst, waren dem Wort Revolution hinzugefügt worden, das bereits überall, auf mehr als einer Wand, in mehr als einem Viertel, mit Schablonen aufgetragen worden war, zwar aus vollem Herzen skandiert, aber sehr schnell fetischisiert, in seiner eigentlichen Handlung eingefroren, schlichtweg blockiert.
Diese beiden Worte, die mit einer schwarzen Sprühdose hinzugefügt wurden, versuchten, das ursprüngliche (azurblaue) Wort zu erweitern und uns daran zu erinnern, dass das Feld der Revolte ebenso eine persönliche, intime Angelegenheit ist, sie versuchten, das Feld jenseits und innerhalb aller Symbolik zu öffnen. Sie wurden kurz darauf von einem jungen Mann bei einer Versammlung im Oktober 2019 auf dem Al-Nour-Platz (wörtlich: “Das Licht”) in Tripoli im Norden des Libanon artikuliert. Revolution über uns-selbst, diese Infragestellung zunächst und zuallererst, soll er gesagt haben, bevor jemand anderes das Wort ergriff und das berühmte “Das Volk will den Sturz des Regimes” anstimmte. Habe ich diesen jungen Mann gehört, vielleicht auf Video, oder hat man mir berichtet, was er gesagt hat? Habe ich mir das nur eingebildet? Einige Wände in der Hauptstadt sind jedoch noch immer davon geprägt. Eine Frau hatte zum allerersten Mal gehandelt. Was plötzlich in unser Leben getreten war, hatte sofort oder fast sofort alles, was ist und was war, auf den Kopf gestellt. Es war sicherlich keine Lektion, die sie uns erteilen wollte, es war das, was in ihr, für sie, hier und jetzt geschah. Was wirklich geschah, in der Gegenwart. In einem Augenblick. Mehr als ein Mensch, vor allem Frauen, haben an mehr als einer Wand, mehr als einer Fassade, direkt auf dem Asphalt gewütet. Mehr als ein Satz, mehr als ein Lied, mehr als ein Riss. Auf unsere Zügellosigkeit!, beharrten wir.
Auf dieser Mauer ganz am Ende der Hamra-Straße in Beirut steht ein Wort, das direkt darüber geschrieben ist, ein weniger kräftiges Rot, der dritte Buchstabe teilweise verblasst, in einer weniger runden Schrift, und das man übersetzen könnte mit: permanent, immerwährend. Eine permanente Revolution über uns selbst? Oder, ganz einfach, handelt es sich um die Parkzeiten, da es sich um die Wand eines Parkplatzes handelt. Und dann sind da noch diese drei Ziffern: 7-30, dieser Bindestrich dazwischen. Eine sehr frühe Stunde für den Großen Abend, es sei denn, es handelt sich um den Tag nach dem großen Umsturz mit noch klebrigen Mund. Die Determinanten des Morgens. Und wenn diese drei Worte uns ernsthaft dazu auffordern würden, endlich jedem Versuch der Machtergreifung den Rücken zu kehren, den Begriff der Macht selbst umzukehren und ihn gegen sich selbst zu wenden. Das war die Herausforderung der Zapatisten in Chiapas und ist es immer noch. “Man sagt uns, dass man das nicht tun kann, dass es in keiner politischen Theorie existiert, dass es unmöglich ist, eine politische Revolution zu planen, ohne die Übernahme der Macht zu wollen”, schrieb Subcomandante Marcos.
Die Leute lachten ihn aus, nannten ihn einen Schelm, einen Komiker vom Dienst und sogar einen Betrüger. Man hätte ihm entgegnen können, dass dies in einer homogenen Gesellschaft wie der der indigenen Bevölkerung in diesem Teil Mexikos weitaus weniger kompliziert zu bewerkstelligen ist. Doch so komplex unsere moderne Lebensweise auch sein mag, wir können nicht länger umhin festzustellen, dass jede Machtübernahme unweigerlich das Ende der politischen Revolutionen bedeutet und sie sogar auslöscht. Ein mehrfach wiederholtes Begräbnis. Es ist undenkbar, auf demselben Weg zu beharren und die bisherigen Misserfolge als Fehler in der Strategie, in den Bündnissen oder ähnlichem zu betrachten. Ebenso unvorstellbar ist es für uns, nicht festzustellen, dass die wenigen Gegenbeispiele seit (mindestens) der unheilvollen industriellen Revolution jene sind, in denen eine echte politische Horizontalität praktiziert wurde, alle Verantwortlichkeiten geteilt wurden, egal auf welcher Ebene, aber dass diese Gegenbeispiele sich nie lange genug halten konnten, um eine praktikable Alternative anzubieten, es sei denn, man lebt weit weg von jeglicher “Zivilisation” und den damit verbundenen unersättlichen Begierden.
Unsere Gegner waren schon immer furchterregend, und heute sind sie es mehr denn je. Sie untergraben unermüdlich jedes Terrain, vervielfachen alle Arten von Waffen, von den traditionellsten bis zu den fortschrittlichsten, überwachen unsere Handlungen und Gesten, entschlüsseln den kleinsten Hauch unserer Versuche, das geringste Zögern. Die größte Bedrohung durch unsere Gegner geht jedoch von ihrer unerschöpflichen Fähigkeit aus, jeden Hauch des Unvorhergesehenen, des Unberechenbaren an der Quelle aufzuspüren, wo immer es auftreten könnte, nicht um es auszurotten, sondern um es umzuleiten und so schnell wie möglich in dem Räderwerk dieser gewaltigen Maschine, der Gesellschaft des Spektakels, zu recyceln, eine Maschine, die immer noch quer durch alle Formen politischer Regimes verläuft, die sich technologisch immer wieder erneuert und sich von allem und seinem Gegenteil nährt, einschließlich der schärfsten, radikalsten Kritik, ganz zu schweigen von der neuesten: dem politischen “Washing” in jeglicher Hinsicht.
Und wenn sich die Umleitung als unpraktisch erweist, wenn das Unvorhergesehene hartnäckig bleibt und zum Widerstand wird, wird die Reaktion einfach unerbittlich sein, Revolution über uns-selbst, oder wir werden wieder und wieder an denselben Riffen scheitern, wieder und wieder unsere Toten zählen, wieder und wieder unsere Tränen und unseren Groll hinunterschlucken müssen. Und es reicht leider nicht aus, Horizontalität und Vertikalität einander gegenüberzustellen. Ohne eine starke, klare und offene politische Linie droht, so paradox es auch sein mag, die Gefahr, dass die Dinge im Sande verlaufen. Wir erleben es immer wieder, hier wie überall und gleichzeitig: Jede starke politische Linie hat die unangenehme Tendenz, uns schnell die Schwelle zwischen Autorität, die, wie man meint, “natürlich” am Anfang steht und die richtigen Entscheidungen ermöglicht, und Autoritarismus überschreiten zu lassen. Wir wissen nur zu gut, dass die Tyrannei nie weit entfernt ist und auf der Lauer liegt, vor allem in Ausnahmesituationen. Alles geht dann so schnell, dass wir kaum Zeit haben, uns der katastrophalen Überschreitung bewusst zu werden.
Die Heterogenität der rebellierenden Gruppen an diesem berühmten Ende des Jahres 2019 hätte (sich) eine echte Infragestellung anbieten, jede Gewissheit über den Haufen werfen und umstoßen können. Sicherlich war auch hier die abgerungene Zeit nicht ausreichend, da neben den auf allen Ebenen grassierenden Gegnern aller Art auch die Covid-19-Pandemie den Schwung abrupt gebremst hat. Sicherlich haben die schreckliche Explosion am 4. August 2020 und der Schwanengesang der Großdemonstration am 8. August den Tiefpunkt markiert. Die einfache Wahrheit ist, dass es uns nicht gelungen ist, eine vorwiegend aus dem Bauch heraus entstandene Revolte in ein politisches Projekt umzuwandeln (außer in der “Mitte”, indem wir den ewigen Rechtsstaat fordern, als ob diese beiden Worte, die angeblich eins sind, ein Sesam-öffne-dich wären, als ob sie nicht beliebig interpretierbar und biegbar wären), in ein anderes Leben, zunächst einmal ein gemeinsames. Sehr schnell übernahm die beklagenswerte Machtfrage die Oberhand und schränkte jede Debatte ein.
Revolution über uns-selbst, drei Wörter, mit denen sich niemand mehr aufhält, niemand hat sich wirklich damit beschäftigt, aber sie bleiben trotz allem in der Schwebe. Eine Mauer würde genügen, könnte man sich sagen. Ist das ein schwacher Trost?
In diesen beispiellosen Zeiten der Verwüstung des Lebens kann ich nur auf das 1902 erschienene Hauptwerk von Peter Kropotkin “Gegenseitige Hilfe, ein Faktor der Evolution”, zurückgreifen, in dem er den Pseudo-Sozialdarwinismus und den sogenannten “Kampf ums Dasein” widerlegt: Es ist nicht die Liebe zu meinem Nachbarn – den ich oft gar nicht kenne -, die mich dazu bringt, einen Eimer Wasser zu ergreifen und zu seinem brennenden Haus zu eilen; es ist ein viel umfassenderes, wenn auch vageres Gefühl: ein Instinkt der menschlichen Solidarität. So verhält es sich auch bei den Tieren. Es ist nicht Liebe oder gar Sympathie (im strengen Sinne des Wortes), die eine Herde von Wiederkäuern oder Pferden dazu bringt, einen Kreis zu bilden, um einem Wolfsangriff zu widerstehen: noch die Liebe, die Wölfe dazu bringt, sich zu Rudeln zusammenzuschließen, um zu jagen; noch die Liebe, die kleine Katzen oder Lämmer dazu bringt, miteinander zu spielen, oder ein Dutzend Arten von Jungvögeln, im Herbst zusammenzuleben; und es ist weder Liebe noch persönliche Sympathie, die Tausende von Rehen, die über ein Gebiet so groß wie Frankreich verstreut sind, dazu bringt, Herdenverbände zu bilden, die alle zum selben Ort marschieren, um an einer bestimmten Stelle einen Fluss zu überqueren. Es ist ein Gefühl, das unendlich viel weiter reicht als persönliche Liebe oder Sympathie, ein Instinkt, der sich bei Tieren und Menschen im Laufe einer extrem langsamen Evolution entwickelt hat und der Tiere und Menschen gelehrt hat, wie stark sie sein können, wenn sie sich gegenseitig helfen und unterstützen, und welche Freuden ihnen das soziale Leben bereiten kann.
Erschienen am 27. Juni 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.