Im Krieg mit der Welt. Für Mario Tronti

Gigi Roggero

Das Porträt einer großen Persönlichkeit spontan zu schreiben, ist immer eine schwierige Aufgabe. Ein druckfrisches Porträt über Mario Tronti zu schreiben, ist fast unmöglich. In diesem kurzen Text skizziert Gigi Roggero die Konturen einiger seiner Denkansätze und verwebt sie mit lebendigen Erinnerungen, die es uns ermöglichen, einen politischen Giganten zu begreifen. In dem Bewusstsein, dass Tronti kein bloßer Exzess in der Geschichte des Marxismus war, sondern in einem starken Sinne eine Ausnahme. Es gibt ein Davor und ein Danach von ‘Arbeiter und Kapital’. Es gibt ein Davor und ein Danach von Tronti. – Vorwort Machina

Wer nicht sieht, wird sehen. Wer sieht, wird geblendet. Daran erinnerte uns Mario Tronti bei seinem leider letzten öffentlichen Dialog im Rahmen des Festivals DeriveApprodi zusammen mit Adelino Zanini. Die zitierte Figur verdrängt die operaistische und kommunistische Tradition. Es ist Jesus. Ein Jesus, der nicht die andere Wange hinhält. Ein sehr Benjaminscher Jesus, der kämpft, um die Vergangenheit zu rächen. Ein Jesus, der die Welt in zwei Hälften teilt. Reich und arm, für das frühe Christentum. Arbeiter und Kapital, für uns. Freund und Feind, im Lexikon des politischen Realismus. Karl und Carl. Lenin und Paulus. Menschen in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt: das ist der revolutionäre Kämpfer. Er schwebt nie in den utopischen Himmeln von anderswo. Er verkriecht sich nie in den opportunistischen Windungen der Gegenwart. Er ist immer da, in und gegen. Nur dann kann er sagen: Ihr werdet uns niemals fangen.

Wir haben oft von der Existenz verschiedener Tronti gehört. Den bis 1967, den nach 1967. Der operaistische Tronti, der Tronti der PCI. Der von ‘Arbeiter und Kapital’ [Operai e capitale], dann der der politischen Theologie. Wir haben nie verstanden, was er meinte, und wenn wir es verstanden haben, waren wir uns nicht einig. Es gibt auch verschiedene Marx, oder verschiedene Lenin, oder wie auch immer man es nennen will. Wir wissen, dass es von Tronti einen und nur einen gab: den Mann, der uneingeschränkt parteiisch war. Von Anfang bis Ende. Nicht einfach ein politischer Denker, wie er richtig feststellte, sondern ein denkender Politiker. 

Und, wie jemand zu sagen pflegte, verlaufen politische Wege nie so geradlinig wie auf dem Newski-Prospekt. Mysteriöse Kurven und Geraden, denen man folgen muss, das wissen wir alle. Man kann über die Biegungen der Wege diskutieren, vor allem in bestimmten tragischen und entscheidenden Passagen. Natürlich kann und muss man über sie diskutieren. Es ist nicht so, dass dies nicht getan worden wäre. Was für uns nicht diskutiert werden kann, ist die Festigkeit seines Standpunktes, seine Bereitschaft, diese verdammt gerade Linie zu gehen. Wer von außen, d.h. vom Ort der Ideologie (der immer ein bürgerlicher Ort ist), schaut, wird viele Widersprüche sehen, grelle, stechende. Wer diese Widersprüche in seine eigene Geschichte einordnet, wird sie verstehen können, nicht um sie zu rechtfertigen, sondern um ebenfalls politische Fehler zu bewerten. Darin hat er sich nie versteckt oder weggeduckt, unser Mario. Er hat sich für jeden Schritt und jeden Fehler gerechtfertigt, er hat nichts bereut. Seine Widersprüche haben sich jedoch immer auf das Aufwühlen der Taktik, nie auf das Aufweichen der Strategie bezogen.

Der Zukunft den Rücken zu kehren, bedeutete ja nicht, die Gegenwart zu unterwandern. Es bedeutete und bedeutet immer noch, “den Gegner ruhig zu stellen, um ihn besser treffen zu können” – wie er in seinem berühmtesten Buch schrieb. Und wer sich über einen neueren Tronti mokiert, der sich auf sich selbst, auf den Spiritualismus, auf die Innerlichkeit besinnt, zeigt, dass er guckt, ohne zu sehen. Denn darin gründet die Suche nach einem nicht-spiritualistischen Geist, nach der Stärkung der antagonistischen Subjektivität in der feindlichen Zitadelle, nach einer kommunistischen und nietzscheanischen, also nicht-demokratischen Freiheit. Mit sich selbst im Frieden zu sein, um gegen die Welt in den Krieg zu ziehen. Von einer Basilia ohne Basileus, einem Königreich ohne König. Auctoritas versus potestas: da hat er mutig den Gedanken vorangetrieben. Ein prophetischer Gedanke, kein Supermarktwissen der Talkshowschwätzer und derer, die mit dem Strom schwimmen. Es ist die Fähigkeit, das zu sagen, was andere nicht hören wollen, unter die dicke Schicht der Banalität und der öffentlichen Meinung zu blicken.

Verwirren, sagten wir am Anfang. Wie unsere großen Meister, die lehren, ohne sich das anzumaßen, hatte Tronti immer die Fähigkeit, einen zu verunsichern. Wenn man an einem vermeintlich festen Ankerplatz ankam, stellte man fest, dass er in Wirklichkeit in Bewegung war, und man musste erneut einen Sprung machen, um einen weiter entfernten Ankerplatz zu erreichen. Er liebte das Oxymoron, so wie er sich selbst als “konservativen Revolutionär” bezeichnete. Nein, das hat nichts mit einer Vorliebe für Provokationen zu tun, es geht um nichts anderes als das Mario l’épater la bourgeoisie. Es ist die riskante Fähigkeit, sich dort zu bewegen, wo die Gefahr am größten ist, wie es der geliebte Hölderlin vorschlägt. Im Widerspruch, eben, um ihn zum Motor des subversiven Denkens zu machen. “Vom Äußersten ausgehend werde ich bis zum Ende wiederholen: diese Form des Lebens und der Welt ist nicht zu akzeptieren!”. Die Politik des Sonnenuntergangs war nicht gleichbedeutend mit Verzicht, ganz und gar nicht. Noch einmal: Man kann darüber diskutieren, ob dort, wo Mario einen tragischen Sonnenuntergang sah, nicht auch die Möglichkeit für neue Morgenröte bestand. Und doch ist wieder einmal eines sicher: Wir müssen leninistisch bereit sein. Die neuen Widersprüche erkennen, die zentralen. Und bereit sein, sich von den Clinamen verrücken zu lassen, vorwärts zu springen. Mit der Entschlossenheit eines Menschen, der den Feind besser kennenlernen will, als der Feind sich selbst kennt. Mit der Neugierde, seine Freunde auch an Orten zu suchen, die weit von dem Ort entfernt sind, an den man sich begeben hat. Vor allem, wenn man dort immer weniger Freunde vorfand, wo man sich wiederfand.

Abschließend noch einige persönliche Erinnerungen. Die, wie Mario über das Buch sagte, “unter einer Bedingung eine gewisse Wahrheit enthalten können: wenn alles in dem Bewusstsein geschrieben wurde, eine schlechte Tat zu begehen”.

Es war der 8. August 2000, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Wir recherchierten über den Operaismus. Es passiert nicht jeden Tag und auch nicht in jedem Leben, dass man die Verkörperung nicht eines Buches, sondern ‘des Buches’ trifft. Ein Buch, das so außergewöhnlich ist, dass es sich selbst geschrieben zu haben scheint. Jeder Satz ein Satz gegen die Bosse und die bürgerliche Lebensweise. Ja, denn Tronti war der unumstößliche Hass auf die Bosse und die bürgerliche Lebensform. Am 8. August vor dreiundzwanzig Jahren war ich überrascht, als ich ihn mit einem kleinen schwarzen Kätzchen namens Pasquale spielen sah. Dann erzählte er uns, dass Pasquale einmal mit einer Maus im Maul aufgetaucht war und alle bürgerlichen Frauen in der Umgebung davonliefen. Die Bourgeoisie hatte Angst, kommentierte er zufrieden und streichelte Pasquale..

Dieser Hass in Mario war nicht zu mindern, schon immer. Es war ein konstituierender Hass, die Politik begann dort. Im Jahr 2004 nahm er an einer Tagung über Gewalt und Gewaltlosigkeit teil, ein schreckliches Thema, das er schnell abtat: Der Gegensatz besteht nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern zwischen Gewalt und Zwang. Wieder einmal steht die eine Seite gegen die andere Seite. Es geht darum, sich für ein Lager zu entscheiden. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Dann, nachdem er sich geduldig das Geschwafel über den nach Opportunismus stinkenden Pazifismus angehört hatte, schaltete er sich mit seiner kraftvollen Ruhe ein. Ohne zu schreien, das ist nicht nötig, wenn es Worte sind, die explodieren. Er füllte jedes Wort mit Gedanken, denn Tronti wiederholte nie das bereits Bekannte: er sprach mit Gedanken, er sprach denkend. Und das ist eine außerordentliche Seltenheit, selbst in unseren Kreisen. Er sagte nur: “Es geht darum, wie wir sie zur Rechenschaft ziehen können”. Der Frost fiel in das Blut der Vielen, das Feuer entfachte sich in den Köpfen der Wenigen. Ja, denn Mario kam immer auf den Punkt. Er hat die Dinge immer an der Wurzel gepackt. Und die Wurzel, das wissen wir inzwischen, liegt ganz oben. Man muss dorthin gelangen, um zu entwurzeln und neu zu pflanzen.

Das letzte Mal, dass ich von ihm hörte, war am vergangenen Freitag, als er mir einige Hinweise zu seinem letzten großen Projekt, ‘Per un atlante della memoria operaia’, gab. Bis zuletzt kultivierte er seine Rüben im Garten, wie in seinem Zitat von Montaigne: “meine Rüben sind die Konflikte zwischen den Menschen, frei und antagonistisch organisiert, entweder um die Welt zu erhalten, wie sie ist, oder um sie von unten nach oben zu stürzen”.

Mario Tronti war nicht nur ein Exzess in der Geschichte des Marxismus, sondern in einem starken Schmittschen Sinne eine Ausnahme. Operaist und Marxist, also nicht marxistisch. Es gibt ein Davor und ein Danach, Operai e capitale. Es gibt ein Davor und ein Danach von Tronti. Zwischen jenem bahnbrechenden 8. August und diesem schrecklichen 7. August, davor, danach und vor allem für das, was du geschrieben hast, für das, was du gesagt hast und für dein nachdenkliches Schweigen, danke ich dir, dass du uns gelehrt hast, das zu werden, was wir sind. Dass du uns gelehrt hast, die Welt anzuschauen. Sie erneut zu betrachten, sie neu zu betrachten, sie zum ersten Mal zu betrachten. Zu sehen, was wir vorher nicht gesehen haben. Und zu verstehen, dass allein der Blick auf diese Welt genügt, um sie radikal zu hassen.

Der wohl schönste Nachruf auf Mario Tronti erschien, wenig verwunderlich, auf Machina, und wurde von Bonustracks nach bestem Wissen und Gewissen ins Deutsche übertragen.