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Während der Telekonferenz am Dienstagabend, an dem 21 Genossen teilnahmen, zogen wir Bilanz über den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten.
Der Westen steckt in großen Schwierigkeiten: Er kann die Ukrainer nicht langfristig stützen und muss sich mit dem Pulverfass Naher Osten auseinandersetzen. Die Journalisten tun sich schwer damit, zuzugeben, dass Russland den Krieg gewonnen hat und die Ukraine vom Zusammenbruch bedroht ist. Moskaus Blitzkrieg (Februar 2022) zielte nicht darauf ab, Kiew zu erobern, sondern einen Landstrich zu besetzen, den die Ukrainer faktisch verloren haben. Die Gegenoffensive im ukrainischen Frühling verlief schlecht, und nun weiß die Regierung Zelenskij nicht mehr, was sie tun soll. Sie kämpft mit einer von westlicher Hilfe gestützten Wirtschaft, einem Mangel an Soldaten und Munition und einem internen Konflikt zwischen Politikern und Militärs. Unterdessen bombardieren die russischen Streitkräfte weiterhin feindliche Häfen, Infrastrukturen, Stützpunkte und Kraftwerke, und es gibt bereits Gerüchte über Verhandlungen über die Abtretung von 1/5 der Ukraine an Russland und die Anerkennung des neutralen Status des Landes.
Die USA sehen sich in ihrer Abschreckungsmacht geschwächt. Wenn Russland sich andererseits erlaubt, die Ukraine anzugreifen, dann deshalb, weil es davon ausgeht, dass es unter den gegebenen internationalen Umständen Erfolge erzielen würde. Die Ereignisse im Nahen Osten verlagern die Ressourcen, vor allem aber die internationale Aufmerksamkeit von der ukrainischen Front weg. In Kiew und anderen Städten gingen die Familien der Soldaten auf die Straße (selbst in Russland demonstrierten einige Frauen nur wenige Meter vom Kreml entfernt, um die Rückkehr ihrer Männer von der Front zu fordern). Die Schläge, die die USA einstecken müssen, ermutigen andere Staaten in anderen Kontexten, die westliche Ordnung herauszufordern; man denke nur an die antifranzösischen Putsche in Afrika. Israel, das seit seiner Gründung in kurzer Zeit jeden Krieg gewonnen hat, ist auf seinem eigenen Territorium von nichtstaatlichen Streitkräften angegriffen worden, und jetzt sitzt seine Armee im Gazastreifen fest.
Auf dem G20-Gipfel am 22. November, den Indien zum Ende seiner Amtszeit organisiert, wird der russische Präsident zum ersten Mal seit Beginn des Ukraine-Konflikts anwesend sein. Es ist kein Zufall, dass Putin eingeladen wurde: Indien kauft trotz der Sanktionen große Mengen Öl aus Russland zu günstigen Preisen, um es zu höheren Preisen nach Europa weiterzuverkaufen. Das Problem betrifft nicht nur die Länder, die zu Feinden der USA erklärt wurden, sondern auch die nicht feindlichen Länder wie Indien, Saudi-Arabien und die Türkei, die beginnen, sich zu verselbständigen. Einigen geopolitischen Analysten zufolge würde diese weltweite Situation der zunehmenden Unordnung die Tür zu einem multipolaren kapitalistischen System öffnen. In einer solchen Vision fehlt jedoch die historische Dynamik: Der Kapitalismus kann nicht ewig bestehen, und die Parabel des Mehrwerts beweist dies (die Maschinen verdrängen die lebendige Arbeit und untergraben das auf ihr basierende System).
Der Krieg ist ein Produkt der Gesellschaft und spiegelt die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft wider. Die Türkei hat den ersten Drohnenträger der Welt gebaut. China, das in Bezug auf die Zahl der Flugzeugträger nicht mit den USA konkurrieren kann, wird sich möglicherweise dazu entschließen, sich ebenfalls mit kostengünstigeren Drohnenträgern auszustatten.
Auch Israel hat mehrere offene Fronten: den Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon, das Westjordanland, aber auch den Jemen mit den Huthi, die Drohnen und Raketen abschießen (und die ein israelisches Handelsschiff im Roten Meer gekapert haben). Der Iran greift mit Hilfe schiitischer Milizen US-Stützpunkte in Irak und Syrien an. Es sei darauf hingewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen den Geschehnissen in der Ukraine und dem Konflikt im Nahen Osten gibt, wo Russland sowohl mit privaten Milizen (Wagner) als auch mit Militärstützpunkten (Syrien) präsent ist; außerdem laufen Verhandlungen mit General Khalifa Haftar über den Bau eines Marinestützpunkts in Libyen, in Tobruk.
In einem Artikel der Zeitschrift Analisi Difesa (“Quale futuro per Gaza?“) wird über einen Plan berichtet, den Italien, Frankreich und Deutschland dem Chef der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, vorgelegt haben, um eine endgültige Lösung der Palästina-Frage herbeizuführen. Der Plan, dem auch die USA zustimmen könnten, sieht vor, dass Israel den Gazastreifen nicht dauerhaft besetzt, dass das Schicksal des Streifens mit dem des Westjordanlandes verbunden bleibt (“umfassende Lösung”) und dass die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen vermieden wird. Um diese Lösung zu erreichen, müsste eine palästinensische Administration eingerichtet werden, die von westlichen Ländern unterstützt wird und an der arabische Staaten beteiligt sind. Der Rückzug der Israelis aus einem Teil des Westjordanlandes und die Möglichkeit der Errichtung eines palästinensischen Staates sind nichts anderes als der alte Plan von General Moshe Dayan. Derzeit ist der größte Teil der Bevölkerung des Streifens in den Süden umgesiedelt worden und befindet sich in einer prekären hygienisch-sanitären Situation. Was mit ihr geschehen wird, ist noch unklar, vielleicht sogar für Israel nicht. Auf jeden Fall ist es schwer vorstellbar, dass die Bewohner des Gazastreifens eine palästinensische Behörde akzeptieren würden, die mit israelischen Panzern in den Streifen einmarschiert.
Innerhalb Israels ist die gesellschaftliche Situation alles andere als stabil. Die Demonstrationen der Familien der Geiseln gehen weiter: Einerseits fordern sie die Freilassung ihrer Angehörigen, andererseits kritisieren sie die Regierung Netanjahu für ihre Unfähigkeit. Würde der Krieg fortgesetzt, würde die Zahl der Todesopfer unter den israelischen Soldaten (und Geiseln) steigen, die Wirtschaft würde einbrechen und die Unzufriedenheit im Lande würde wachsen.
In Argentinien hat der Anarchokapitalist Javier Milei die Stichwahl um die Präsidentschaft gewonnen: Sein Programm sieht die vollständige Dollarisierung der Wirtschaft, die Privatisierung mehrerer Sektoren und die Abschaffung von zehn Ministerien und der Zentralbank per Dekret vor. Die internationale Front, die Milei unterstützt, reicht von Bolsonaro in Brasilien über Trump in den USA bis hin zu Elon Musk, der aus seinen Sympathien für den neuen argentinischen Präsidenten nie einen Hehl gemacht hat. In einem Artikel aus dem Jahr 2002 (“Il fallimento argentino“) haben wir über Argentinien geschrieben und darauf hingewiesen, dass das Land aufgrund der Schwierigkeiten seiner Wirtschaft, sich dem internationalen Kapital anzupassen, mehrmals in Zahlungsschwierigkeiten geraten war. Milei verweist auf ein weit verbreitetes Missfallen gegenüber der gegenwärtigen Situation und führt dies auf eine Reihe von Liberalisierungsmaßnahmen zurück, die vor einigen Jahren von Carlos Menem eingeleitet wurden. Argentinien ist ein riesiges, modernes Land mit 45 Millionen Einwohnern, von denen die überwiegende Mehrheit in städtischen Gebieten lebt. Die Idee, die Wirtschaft zu dollarisieren, während sie sich in einer tiefen Krise befindet, ist nicht neu: Menem hat dies getan, um die Inflation zu bekämpfen, aber die Krise wurde dadurch noch schlimmer. Das Land hat eine außer Kontrolle geratene Verschuldung, eine explodierende Inflation und eine Währung im freien Fall, aber es ist immer noch von zentraler Bedeutung für Südamerika.
Die wirtschaftliche Polarisierung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften führt auch zu einer politischen Polarisierung, die unliebsame Figuren wie Trump oder Milei ins Rampenlicht rückt. The Economist argumentiert, dass es eine Katastrophe wäre, wenn der Tycoon bei den Präsidentschaftswahlen 2024 erneut gewinnen würde, da die amerikanische Demokratie schon jetzt in Schwierigkeiten steckt (“Donald Trump poses the biggest danger to the world in 2024“). In der Vergangenheit haben wir uns mit der anarchokapitalistischen Strömung befasst, die in ihren verschiedenen Ausprägungen Vertreter wie Tim O’Reilly und Peter Thiel hervorbringt. Diese “Schule” hat im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologie und des Web 2.0 an Stärke gewonnen und sich selbst erneuert, indem sie all jene Technologien favorisiert, die den Status quo stören (man denke an Bitcoin oder den neuesten ChatGPT). Libertäre Theoretiker wollen einen minimierten Staat, die Abschaffung der Wohlfahrt und einen Übergang zu digitalen Währungen sowie die Bildung von 2.0-Regierungen. Ray Kurzweil, transhumanistischer Libertärer, Autor des Essays The Singularity is Near, argumentiert, dass die Entwicklung der künstlichen Intelligenz eine Singularität in den Regierungsformen, aber auch in den Produktionsweisen und den sozialen Beziehungen hervorbringen wird, mit anderen Worten einen Paradigmenwechsel. Marx stellt in der Vorrede zu Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) fest, dass an einem bestimmten Punkt die materiellen Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen in Konflikt geraten und dann eine Epoche der sozialen Revolution beginnt.
Der Beitrag erschien im Original am 21. November 2023 auf Quinterna Lab, diese Übersetzung von Bonustracks hat nur die wichtigsten Verlinkungen übernommen und in zwei Fällen durch die Verlinkung zu deutschsprachigen Quellen ersetzt.