Jack Orlando
Eine Rezension von Atanasio Bugliari Goggia: La Santa Canaglia.Etnografia di militanti politici di banlieue; Ombre Corte, Verona 2023, 345 S. €25
Sich dem Thema der politischen Militanz in den Banlieues des 21. Jahrhunderts anzunähern bedeutet, mit einer der heißesten Fronten der sozialen Brüche, die das krisengeschüttelte Europa bewegen, auf Tuchfühlung zu gehen, und es ist unerlässlich, dass ein politischer Wille und nicht eine akademische Absicht die Operation leitet.
Bereits 2022 hatte Bugliari Goggia die Frage mit dem Band Rosso Banlieue 1 angesprochen, dessen Untertitel so eindeutig wie immer lautete: Ethnographie der neuen Klassenzusammensetzung in den französischen Vorstädten.
Der erste Band untersuchte die Form, die die subalterne Zusammensetzung im Laufe der Zeit angenommen hatte: vom Ende der weißen Arbeiter in den roten Zitadellen mit ihren politischen und ästhetischen Repräsentationen bis hin zu einer sozialen Mischform, die auf den ersten Blick eher dem Lumpenproletariat ähnelt, wo es keine Repräsentation gibt und die farbliche Linie die Gemeinschaft durchzieht.
Eine Entwicklung, die ihren Ursprung in der liberalistischen Linie hat, die nach der Niederschlagung des letzten Arbeiteraufstands (wenn wir ihn wirklich Arbeiter… nennen wollen) ihren Krieg gegen die Menschen unerbittlich fortsetzt, mit dem Ziel, eine Welt nach eigenem Gutdünken aufzubauen. Die Banlieue, die von allen von unten errichteten Architekturen der Macht befreit wurde, ist zum Terrain der Krise geworden, auf dem die städtische Geografie, die prekäre Arbeit, der abgebaute Sozialstaat und die polizeiliche Kontrolle die Voraussetzungen für die Entwicklung von Arbeitskräften schaffen, die am Rande des Überlebens stehen und immer wieder bereit sind, in geringen Zahlen und unter allen Bedingungen in die Produktionsmechanismen einzutreten.
Aber auch wenn dies der Plan des Liberalismus ist, so hat die Banlieue auch ein anderes Gesicht. Das des Territoriums, in dem die Gemeinschafts- und Klassensolidarität die Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens zusammenhält, in dem die Bedingungen der Subalternität dank der weit verbreiteten und vielgestaltigen Aktivitäten einer Konstellation von Gruppen und Vereinigungen, die sich von unten her bewegen, verwässert und bekämpft werden, in dem man ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität entwickelt und vor allem in der Lage ist, sich massenhaft gegen die Gewalt der gegenwärtigen Verhältnisse aufzulehnen.
Es ist schließlich eine menschliche Eigenschaft, das Unbewohnbare bewohnen zu können.
Nachdem mit dem ersten Band das Gesamtszenario umrissen wurde, wird La Santa Canaglia als weitere vertiefende Studie vorgeschlagen, die sich perfekt in die vorangegangene Arbeit einfügt und mit ihr in einen Dialog tritt: Nachdem wir das Subjekt identifiziert haben, beobachten wir die Formen und Instanzen seines Widerstands; welche Kräfte in der Lage sind, den parteiischen Gefühlen und Bedürfnissen von unten eine Struktur zu geben, welche Prozesse der Aktivierung und Politisierung im Umfeld der Banlieues möglich sind.
Der rote Faden der Forschung, der sie zusammenhält, ist die Positionierung des Forschers: kein Wissenschaftler, der von außen beobachtet, sondern ein Militanter, der von innen heraus handelt, der politische Arbeit leistet. Dies ermöglicht die Verflechtung von “wissenschaftlichem” Wissen und politischem Willen: eine Fülle von theoretischen Bezügen, Analysen und Interpretationsrastern wird in Gang gesetzt, aber sie werden den Bedürfnissen einer militanten Untersuchung angepasst, deren Ziel im Wesentlichen darin besteht, sich in den Dienst des Kampfes zu stellen, Wissen zu teilen, damit es ein Instrument der Emanzipation und des Kampfes sein kann. Insbesondere durch die Identifizierung und Wiederherstellung der Konturen des Widerstandsprozesses, der die Bewohner der französischen Vorstädte dazu bringt, die aufgezwungene Rolle des Futters für den Markt abzulehnen und ein autonomes kollektives Subjekt zu werden.
Es ist weder zufällig noch ungewollt, dass die gleichlautenden Titel an das Werk von Danilo Montaldi, Militanti politici di base, erinnern.
Die Banlieusard-Jugendlichen, die sich als Lager der “Stimmlosen” etablieren, finden ihre eigene Sprache und setzen sich durch Unruhen, Aufstände oder Revolten in der Welt in Szene. Durch Feuer und Straßenschlachten gelingt es ihnen, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu lenken und sich für ihre Situation zu rächen.
Es liegt auf der Hand, dass ein hegemoniales Narrativ, das sie gefügig und stumm machen will, sofort dazu drängt, sie als kriminelle Banden, als zu bestrafende Delinquenten darzustellen; dass es den Verdacht einer mafiösen oder dschihadistischen Richtung unterstellt, dass es mit dem Finger auf die Familien der jungen Leute zeigt, die sich mobilisieren.
Andererseits ist es in ruhigen Zeiten nicht viel anders, nur die Tonlage ist hinterhältiger und gedämpfter, aber der Inhalt ist der gleiche. Die Kriminalisierung des Protests und die Mystifizierung seiner Forderungen ist der grundlegende Prozess, um den Unterdrückten Raum und politische Legitimität zu entziehen.
Der Politiker, der drastische Dekrete unterzeichnet, der Fernsehkommentator, der Gift spuckt, und der Polizist, der auf der Straße tötet, sind nur kleine Bestandteile eines gefräßigen Räderwerks, das auf Herrschaft und Profit aus ist.
Doch die Aufstände, die scheinbar aus dem Nichts kommen und ins Nichts führen, sind keine sinnlosen Feuersbrünste. Nichts geschieht zufällig oder wird aus dem Nichts erzeugt. Die Möglichkeit von Aufständen beruht auf der ausgeprägten Klassensolidarität, die das gesamte soziale Gefüge in den Vierteln durchdringt.
Ein instinktives politisches Bewusstsein, für das man keine Seminare braucht, ermöglicht es den Menschen, sich als Gleiche zu erkennen, sich zusammenzuschließen und in dieselbe Richtung zu marschieren.
Und tatsächlich nehmen die Banlieues aktiv an den Unruhen teil. Die Komplizenschaft ermöglicht ihre Wiederholung und Fortsetzung: Wenn die Petits auf der Straße mit der Polizei zusammenstoßen, ist der Rest des Viertels da, um sie zu schützen und ihnen Unterschlupf zu gewähren, die militanten Zusammenschlüsse (gemeint sich die ‘klassischen’ pol. Aktivisten vor Ort, d.Ü.) sind präsent, um logistische und politische Unterstützung zu bieten.
Es gibt keine okkulte Richtung, es gibt keine Generäle und Fußsoldaten in diesen Sprüngen nach vorn, ein Traum, der auf groteske Weise die ‘Politiker’ der Antagonisten und die berufsmäßigen Bullen vereinigt.
Es gibt nur eine ständige Dialektik in den Beziehungen des Viertels, in der die Unruhen nur als Beschleuniger wirken. In diesen Phasen ebnet der Instinkt, das politische Verständnis, den Weg zum politischen Bewusstsein, d. h. zu seiner Systematisierung und Kanalisierung in einer organisierten Praxis. Die Klasse an sich und die Klasse um ihrer selbst willen, um die im Band zitierte Marxsche Terminologie aufzugreifen, verlaufen nicht linear und teleologisch, sondern stehen in ständiger Beziehung zueinander und sind Gegenstand hastiger Rückzüge und abrupter Vorstöße. Das eine ist eine konstante und minimalste Grundlage, das andere ist ihr kontingenter und geformter Höhepunkt.
Daraus folgt, dass die Revolte nicht die einzige Sprache ist, die die Banlieue spricht. Die Klassensolidarität nährt sich aus kollektiven Realitäten, die ein dichtes Netz von Beziehungen und Möglichkeiten innerhalb des Viertels weben, die Energien kanalisieren und versuchen, ihm Sauerstoff und Kraft zu geben.
Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich nicht darauf, die Geschichte der Formationen und Modalitäten der Politik von unten in den Vierteln nachzuzeichnen, die immer wieder zwischen Repräsentations- und Autonomiehypothesen, zwischen Unterdrückung und Vereinnahmung gefangen sind, sondern lässt die politischen Aktivisten der Banlieues selbst zu Wort kommen.
Durch Auszüge aus Reden bei öffentlichen Versammlungen oder durch ausführliche Interviews ist sie die direkte Stimme derjenigen, die den Konflikt organisieren, die den Reichtum des Engagements und der Militanz, die verschiedenen Wege, das Aufeinandertreffen und die Konvergenz der Hypothesen wiederherstellt.
Es entsteht eine zerklüftete und vielgestaltige Galaxie, die widersprüchlich ist, manchmal konkurriert, manchmal kollidiert, manchmal konvergiert, in der aber immer wieder der Versuch unternommen wird, eine gemeinsame Kraft aufzubauen. Soziale und auf Gegenseitigkeit beruhende Aktivitäten koexistieren mit schwindelerregenden Kämpfen und direkten Aktionen; Nachbarschaftsvereinigungen und autonome Kollektive bewegen sich unabhängig auf lokaler Ebene, sind aber strategisch in einer Dimension nationaler Netzwerke oder Plattformen angesiedelt.
Was das Ganze in der Praxis zusammenhält, ist die Orientierung an den Bedürfnissen: Man bewegt und organisiert sich in Bezug auf die materiellen Bedürfnisse, die auf der Straße entstehen, seien es Wohnungs-, Gesundheits- oder soziale Bedürfnisse. Darauf konzentriert sich die Hauptintervention der Zusammenschlüsse, um die Territorien auf die Ebene des Kampfes zu bringen.
Aber, und dieses “aber” wiegt so schwer wie der Berg Tai, die Perspektive ist nicht auf das Unmittelbare beschränkt. Die Begrenzung des Handelns auf die Not ermöglicht eine Osmose mit dem eigenen sozialen Gefüge, aber sie wird zum Selbstzweck, wenn sie nicht mit einem Plan zur Entwicklung von Stärke übereinstimmt, der kleine Mobilisierungen in Prozesse radikaler Veränderung zu verwandeln weiß. Und deshalb gibt es das ständige Bestreben, ein immer breiteres, dichteres und entschlosseneres Netz zu knüpfen, wie es auch der Grund für die Präsenz der ‘politischen Aktivisten’ in den Unruhen ist.
Diese Beziehung zwischen Spontaneität und Organisation ist es, die das Fortbestehen eines kollektiven Humus ermöglicht, der in der Lage ist, den Kurven der Krise, den schrumpfenden Räumen der Legitimität zu trotzen, und immer neue Unruhen zu kreieren, die immer breiter und tiefer werden.
Der letzte Aufstand war derjenige, der in diesem Sommer ganz Frankreich nach der Ermordung eines 17-jährigen Jungen durch einen Polizisten in Aufruhr versetzte und einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt der Radikalität sowohl in den Praktiken auf der Straße als auch in der militärischen Reaktion des Staates markierte.
Es sind Splitter einer fortgeschrittenen Gegenwart oder einer bereits vergangenen Zukunft, die in der Banlieue wieder zusammengesetzt werden. Hierin liegt die Erfüllung der politischen Absicht der Untersuchung.
Was gezeichnet wird, ist kein Bild, das zum Vergnügen eines militanten Orientalismus betrachtet wird.
Die Banlieue wird eingehend untersucht, weil sie eines der fortschrittlichsten Labore ist, in denen ein Modell sozialer Herrschaft getestet und dann serienmäßig angewendet wird. Ebenso wirft die Beobachtung ihrer Kampfformen ein Licht auf die kommenden Widerstände.
Es ist kein Zufall, dass die historische französische Trennung zwischen den städtischen Bewegungen, die in der Regel weiß und bürgerlich sind, und den Bewegungen in den Vorstädten in den letzten Jahren immer mehr verschwindet. Je mehr die liberalistische Umstrukturierung in die schwächsten Viertel der Stadt eindringt und ihre Bewohner in den Abgrund zieht, desto mehr nähern sich materielle Bedingungen und Formen des Widerstands an.
Die Cité in Flammen, die Cité, die sich selbst organisiert, ist nur ein Fragment der Wirklichkeit. Aber gerade in den Fragmenten spiegelt sich ein ganzes Universum wider.
Es versteht sich von selbst, dass die Besonderheit der französischen Vorstädte nicht einfach in andere Realitäten kopiert werden kann. Das koloniale Erbe, die identitäre Unbeweglichkeit der République, die Geschichte des Niedergangs der Arbeiterklasse und die Geschichte der schwarzen und Beur-Gemeinschaften, die Sozialpolitik und die repressive Politik sind keine Elemente, die man umschiffen kann; im Gegenteil, sie sind die Elemente, die analysiert werden müssen, um das Phänomen zu verstehen.
Paris ist nicht Mailand, das nicht Los Angeles oder Berlin ist.
Dennoch kann niemand leugnen, dass Kolonie, Gefängnis, Ausbeutung und Kontrolle die Eckpfeiler einer allgemeinen Architektur sind, die keine Grenzen kennt.
Eine Analyse, die die konkreten und spezifischen Elemente der Situation berücksichtigt, ist unerlässlich, um das Handeln zu lenken, aber mehr noch, um das Allgemeine im Besonderen zu erfassen, um Brücken zu bauen, die über das Lokale hinausgehen. Wenn man ein Stück Paris in Mailand einfangen kann, dann können sich auch ihre Kämpfe treffen. Dialog, Annäherung, Akkumulation von Macht.
La Santa Canaglia (Heilige Schurken) ist eine umfassende Betrachtung, die Methode und Intention, Alltagswirklichkeit und theoretische Tiefe miteinander verbindet und ein Werk hervorbringt, das als Ausgangspunkt für weitere und verwandte Studienversuche dienen kann, das aber auch als Leitfaden für die Arbeit an der Umwälzung des Bestehenden gelesen werden kann.
Andererseits sind die Straßen voller Schurken, die sich mit einer gemeinsamen Sprache ausstatten müssen, die ihre Kraft “heiligt”.
Veröffentlicht am 27. November 2023 auf Carmilla Online, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.