Giorgio Moroni
Januar 1999. Toni wohnt nicht weit vom Ghetto entfernt, in der Nähe der Tiberinsel. Die Wohnung erstreckt sich über zwei Etagen, inmitten eines Labyrinths von Gängen, Innentreppen und blumengeschmückten Hohlräumen. Ich sitze und warte. Am Abend kehrt er ins Gefängnis zurück und verbringt die Nacht in seiner Zelle, um mit seinen Genossen zu reden. Am Nachmittag ist er oft schläfrig und schlummert. Ich schaue mir die Bücher und Akten in den Regalen an. Ich folge gedanklich Pfaden, die mir vertraut sind. Irgendwo entdecke ich eine alte, ausgefranste Ausgabe der Quaderni Rossi.
Ich denke an die elektrisierenden Vorträge in Genua, im Sitz von Potere Operaio in der Via Rayper in Sampierdarena, nicht weit von dem Haus in der Via Paolo Reti entfernt, in dem Gianfranco Faina ihn während seiner Genueser Episoden beherbergte, zur Zeit der Intervention der Arbeiter in den Fabriken. Und dann an Balbi, das letzte Mal, als Lenin durch seine Lektüre aktuell erschien: die Zeit der Fabrik der Strategie. Und noch einmal: dieser Text, Die kapitalistische Theorie des Staates im Jahr ’29: John M. Keynes, den ich bestimmt mehr als zehn Mal gelesen habe, wenn man von der überraschenden und plastischen Eröffnungspassage absieht: “Paradoxerweise wird das Kapital marxistisch oder lernt zumindest, Das Kapital zu lesen: natürlich von seinem Standpunkt aus. Was, wenn es mystifiziert wird, deshalb nicht weniger wirksam ist.”
Am Rande des ersten Seminars der Autonomia operaia, im August 1973 in Padua, besuchte ich die Feier zu seinem vierzigsten Geburtstag im Mondo de qua, einer Pizzeria zwischen den Flüssen Brenta und Bacchiglione; es war eine Erinnerung an weiße Polenta und Rippchen auf dem Grill, während hinter dem dichten Rauch die strahlenden Gesichter von Emilio Vesce, Toni Liverani, Renzo Ferrari, Gianfranco Pancino und Giorgio Ferrari erschienen.
Einige Zeit später trafen wir uns in Genua wieder, zusammen mit Gianfranco Faina und anderen Genossen, in einer Pizzeria auf der Piazza Barabino, natürlich in Sampierdarena; unter dem Vorwand der besetzten Balbi Rossa hatte ich dieses Bankett mit dem naiven und unmöglichen Ziel organisiert, die Wiederannäherung zweier glühender Intelligenzen zu versuchen; und auch, um zu verstehen, inwieweit die Seelen, die mich bei der Lektüre von Classe Operaia fasziniert hatten, sich als ganz anders erwiesen. Als Stefania und ich ihn 1975 in Mailand besuchten und bei ihm und Paola einen Teller Risi e Bisi aßen, erkannte ich mich nicht mehr in der hegemonialen Idee der Autonomia, die Toni damals vertrat. An diesem Tag war ich enttäuscht und wütend, nachdem ich bemerkt hatte, dass er meine offenen Beschwerden höflich ignorierte und durch einige seiner Fragen verblüfft war (“aber weißt du, dass Oreste und Gianfranco jetzt zusammenarbeiten?”; nein, das wusste ich nicht, und es interessierte mich auch nicht), und ich verglich sein Verhalten mit den lockeren und unangemessenen Praktiken meines Nachbarn Giuseppe Mazzini (ich wohnte gegenüber dem Geburtshaus des Philosophen und Patrioten).
Aber dann stand ich 1976 auf der Straße in Padua, wo ich für einen Soldatensender in der Pierobon-Kaserne tätig war, und hielt an, um ihm vor dem Feltrinelli zuzuhören, wo neue Exemplare von Il Dominio e il Sabotaggio auslagen. Ich habe immer noch die Bücher zu Hause, die ich in jenem Jahr in Politikwissenschaft mitgenommen habe: Rosdolsky, Rosenberg. Damals war die Fakultät eine offene Stadt.
Bald darauf traf ich ihn wieder häufiger in der Via Disciplini in Mailand. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Gespräche immer diskreter, wir sprachen nur noch in Bars, außerhalb der eigenen Räumlichkeiten.
Und schließlich 1977, das Jahr des Wendepunkts, mit Bifo in Guattaris Pariser Haus.
Und dann bin ich in Montecatini, im Bauernhaus von Gianni Giovannelli, nach dem 7. April und dem 17. Mai jenes schrecklichen Jahres, nach seiner Verhaftung und seiner Wahl ins Parlament, mit unseren kleinen Kindern, für die er sich so sehr begeisterte, dass er sie im Tagebuch eines Flüchtigen zitierte.
Und schließlich bin ich in Paris, das erste Mal, nachdem ihm der Pass zurückgegeben wurde, vielleicht 1994, mit Sandro Mezzadra und Agostino Petrillo.
Er kommt hustend und schnaufend an. Er beruhigt mich sofort: Es geht ihm gut, er hat sich in Padua untersuchen lassen, und das hat es bestätigt. Wie immer fällt seine nervöse und immerwährende Vitalität auf. Er ist neugierig, er hört gerne zu. Er hat die Gabe eines lebhaften, beweglichen Kopfes, wie der eines prächtigen imaginären Tieres, und eine durchdringende, frische Stimme. Der Rest ist eine aufsaugende, nervöse Anstrengung, die mühsame Eroberung dessen, was wesentlich und erhellend ist, um es zu lesen und darüber hinaus zu gehen; die Ermüdung des Denkens, ausgestellt und mit Anweisungen versehen.
Ich ertappe mich dabei, wie ich aus meinem Untergrund, der Hölle der geistigen Warenproduktion, zu ihm spreche. Ich trage Notarkleidung, die letzte meiner Arbeitskleidung. Ich bin ein Trans-Broker. Ein Selbstausbeuter voller unkontrollierbarer Ressourcen. Er zündet seine erste Zigarette an und wir beginnen. Ich bin derjenige, der reden muss, er weiß nicht mehr, wie dieses Land ist, er braucht viele Zeugnisse, so sagt er mir. Ich rauche ein paar seiner Zigaretten, ich sage ihm, dass ich kurzfristig wenig Hoffnung habe, die regierende politische Klasse ist zu schurkisch und staatsgläubig, Konflikte werden seit Jahren bürokratisch umgangen, die Linke ist die eigentliche konservative Kraft in diesem Land, Kritik wird gesellschaftlich monetarisiert, der Staat finanziert den sozialen Stillstand bis zum Exzess. Es gibt keine mögliche Opposition, Italien ist das Land, in dem unsere Körper am besten leben können, unsere Seelen aber am schlechtesten.
Ja, Italien ist das beste Land zum Leben, sagt Toni, aber bevor wir verstehen können, warum wir unsere Seelen oder unsere Hirne korrumpieren, da wir – er sieht mich lächelnd an – da wir Materialisten sind, müssen wir wissen, woher all dieser Reichtum kommt, wie er produziert wird und wie er verteilt wird. Nun, die Antwort ist natürlich der Staat, und jetzt auch das Enalotto, fügt er hinzu, und ich lache mit ihm. Es ist sowieso Zeit für eine neue Untersuchung, fährt er fort. Es ist nutzlos und schädlich, sich damit zu begnügen, dass unsere Erfahrung – hier schlägt es einem den Boden unter den Füßen weg wie damals auf dem Bürgersteig der Via Boccaccio in Mailand -, unsere Erfahrung, das kritische Denken, zu dem wir fähig waren, es geschafft hat, ins Schwarze zu treffen und das neue Produktionsparadigma zu umreißen. Die Reihenfolge des Denkens muss umgedreht werden. Heute geht es darum, die Kämpfe der Reinigungskräfte, Kellner und der Fahrradkuriere zu organisieren. Unser Bezugspunkt müssen die Klassenkämpfe in Frankreich in den 1990er Jahren sein.
Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass die Kämpfe dieser Figuren viel mit dem zu tun haben, was wir tun können, wir müssen an den Bedingungen für die Entwicklung eines neuen kritischen Denkens arbeiten. Es ist ein neuer und provokanter Kampf der Ideen, den wir führen müssen, und es ist egal, ob die Themen weitgehend mit denen übereinstimmen, für die wir gekämpft haben, solange es keine Selbstgefälligkeit gibt. Es ist die Kritik der Arbeit und des Staates, die wir wieder aufnehmen müssen, jetzt, da alle – von den Arbeitslosen über die Arbeiter bis hin zu Rifondazione all’Ulivo und Alleanza Nazionale – die gleichen Codes, die gleichen geistigen Kategorien, die gleichen geistigen Paradigmen verwenden, ob es nun darum geht, für Arbeitsplätze zu kämpfen oder so vielen Menschen wie möglich einen Arbeitsplatz zu verschaffen.
Kämpfe sind alles, sagt er mir, mach nicht den Fehler, sie zu unterschätzen, sie sind unsere Methode. Wir trinken ein Schnäpschen. Zahlreiche Telefonanrufe gehen ein. Sie werden alle von seinem Begleiter beantwortet. Wenn es um Journalisten geht, wird jede Möglichkeit einer Stellungnahme rundweg abgelehnt. Ich frage ihn nach seiner Arbeit in der Halbfreiheit. Dann erzähle ich ihm schließlich alte Geschichten. Wir sprechen über Gianfranco Faina und auch über Giuliano Naria (“ich schätze ihn sehr, aber in Trani war er ein Arschloch, weil er sich auf ihre Seite gestellt hat”). “Bleib in Kontakt mit Sandro, er ist oft hier, er wird es dir sagen”. Wir umarmen uns innig.
Als wir 2017 in Genua als Archimovi (Associazione per un Archivio dei movimenti, d.Ü.) die Ausstellung über die Achtundsechziger Jahre organisierten, war Toni trotz seines prekären Gesundheitszustands erstaunlich und großartig. Er kam allein mit dem Zug aus Paris und besuchte die Ausstellung. Dann machte er ein paar Stunden Pause im Hotel, um an etwas zu arbeiten, das er gerade schrieb. Am späten Nachmittag nahm er an einer Gesprächsrunde mit Guido Viale und Luciana Castellina teil. Damit nicht genug, bat er darum, bei einem Treffen mit Jugendlichen und Genossen der CSO Zapata sprechen zu dürfen, was ihm mehr Spaß machte als die offizielle Veranstaltung kurz zuvor. Er blieb lange, nahm jede Frage an und schätzte sie in seinen Antworten, mit dem offensichtlichen Ziel, die Gewissen aufzurütteln und sie zum Handeln aufzufordern, versteckt hinter der Decke seiner eigenen Neugier… eingewickelt in seinen Mantel, fest umhüllt von seinem Schal.
Ein Mensch, ein unvergesslicher Genosse. Bewegend, beispielhaft, unwiderstehlich. Revolutionäres Denken kann nicht enden, weil es immer wieder neu beginnt.
Veröffentlicht am 28. Dezember 2023 auf Effimera, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.