Die Waffe auf der linken Seite

Sébastien Navarro

Der Kriminalroman war schon immer eine Quelle von Missverständnissen. Manche beschränken das Genre auf den sogenannten Polizeiroman: den mathematisierenden Verlauf einer mäandernden Ermittlung, eine labyrinthische Lektüre, die mit echten Indizien und falschen Fährten gespickt ist und auf die endgültige Auflösung wartet, bei der der Schuldige überführt wird; andere, die nach Nervenkitzel und Rosinenpickerei lechzen, identifizieren die Gattung mit dem Thriller, in dem ein atemloser Leser den Spuren eines Wahnsinnigen folgt, der Menschen schlachtet, und auf seine Neutralisierung durch einen Gelegenheitshelden wartet. Kurz gesagt, der Kriminal- oder Horrorthriller ist letztendlich immer eine Sache der glücklichen Auflösung. Nach einigen mehr oder weniger nervenaufreibenden Verwicklungen wird eine Rückkehr zur moralischen und rechtlichen Ordnung versprochen; ein Schrecken aus Platzpatronen, der umso köstlicher ist, als er in den Falten seiner Ausführungen die Schlüssel zu seiner künftigen Neutralisierung enthält.

Im Gegensatz zu diesen industriell reproduzierbaren Cluedos gibt es einen anderen Krimi, ein Genre, das aus dem Aufstandsfieber der Zeit nach dem Mai 1968 hervorgegangen ist und alles einer wesentlichen Grundlage verdankt: der Sozialkritik. Auch wenn die Aufmachung mit ihren romantischen Tricks täuschen kann, genügt es, ein wenig daran zu kratzen, um das gleiche düstere Schema zu enthüllen: das, in dem die Figuren nur Spielzeuge einer unbarmherzigen Epoche sind und die Geschichte ein reiner Vorwand, um den laufenden sozialen Krieg heraufzubeschwören. Der Autor Jérôme Leroy erklärte vor einigen Jahren in einem Vortrag an der Universität Lille, dass sich der Kriminalroman von der Polizei-Literatur und anderen Spannungsliteraturen durch das Böse unterscheide: Der Kriminalroman beginne schlecht, gehe schlecht weiter und ende schlecht , selbst wenn eine Gelegenheitsintrige gelöst und einige Schurken auf dem Weg erledigt würden. Das Böse entstammt nicht irgendeiner bigotten Metaphysik, sondern wird von der Gewalt genährt, die von den Handlangern einer immer totaleren und entmenschlichenderen formellen oder informellen Wirtschaft begangen wird.

Ist der Krimi links? In gewisser Weise schon. Wenn die Geschichte, die große Geschichte, immer von den Siegern geschrieben wird, dann ist der Kriminalroman das Werk der Besiegten. Die abgenutzte und listige Stimme der Unterdrückten, der Zerschlagenen, der vagabundierenden Ränder. Die Wiederkehr von Klischees, die ebenso desillusioniert wie hartnäckig sind: billige Privatdetektive, die an ihren Idealen und ihren Weinflaschen hängen, Kriegerinnen, die aus der Unterwelt auftauchen, um fette Pégriots zu entblößen, Halbstarke, die zu jeder Eskalation bereit sind, um im politisch-mafiösen Dschungel zu überleben. Der Kriminalroman ist eine labile Geometrie, die bereit ist, sich in die Ritzen unserer amoralischen Moderne zu fügen. In diesen Ritzen fügt er anhand von Synkopen zusammen, was er von unseren Scherben und Hoffnungen zusammenfügen kann, und er poetisiert auch in der Dunkelheit, da dies seine Farbe ist.

In diesem Spiel mit den Obskuren war Jean-Patrick Manchette (1942-1995) eine schillernde Stimme. Von dem Schriftsteller, der von einer modebesessenen Kritik als „Papst des Néo-Polars“ (1) bezeichnet wurde, glaubte man, alles gelesen zu haben. Seine zehn Romane, seine cinephilen und spielerischen Kolumnen, sein Tagebuch, seine Korrespondenz, und nun bringt der Verlag La Table ronde seine „Interviews“ heraus. Na gut, dann eben nicht. Man lächelt, man misstraut diesem x-ten Manchetti-Objekt, da die Ausbeutung des Néo-Geistes unerschöpflich zu sein scheint. Der Herausgeber Nicolas Le Flahec versichert im Vorwort, dass die Fans von Manchette in dieser neuen Sammlung „den ganzen Charme seines Werks“ finden werden, während die Neulinge „eine Stimme entdecken werden, die sie lange begleiten wird, denn dieser einzigartige Schriftsteller hat noch nicht aufgehört, zu uns zu sprechen“. Ein solches Versprechen macht nachdenklich. Sobald das Buch ausgelesen ist, muss man jedoch feststellen, dass Le Flahec uns nicht verarscht hat. Diese Interviews kann man nicht genießen, man muss sie regelrecht durchbeißen. Man schlürft sie und schlägt sich auf den Bauch, denn es ist ein Genuss, sich erneut mit den kreativen Arkana des Schriftstellers auseinanderzusetzen. Manchette war kein Genie, er war ein Arbeitstier. 

Von der ärgsten Sorte: zwanghaft, schlau, strategisch. Ein Schöpfer mit vielen Referenzen: Flaubert, Marx, Western, Hard-Boiled-Krimis in der Version von Hammett und Chandler, die Situationistische Internationale, Jazz (eher East Coast im Gegensatz zum ‘blauen Gerfaut’) (2), und so weiter und so fort, aber wir müssen trotzdem zugeben, dass solche desperate Interessen in einem einzigen Kopf zusammenkommen, das kann nur gut gehen. Ein Arbeitstier, das sagten wir bereits. Er war in der Lage, jahrelang über den Plot eines zukünftigen Romans zu brüten und die Entwürfe, die er für unbefriedigend hielt, schaufelweise zu entsorgen. Seine Bibel? The Book of Pistols and Revolvers von W.H.B. Smith. Ein 800 Seiten starker Wälzer mit 3-D-Illustrationen. Alles, was Sie jemals über „Pistolen und Revolver vom Tod von Königin Victoria bis zur Trennung der Beatles“ wissen wollten, ist darin zu finden. Einige haben sich vorsichtig und respektvoll über Manchettes Fixierung auf Schusswaffen lustig gemacht, einige Pasticheure, denen es an Inspiration fehlte, haben ihn grob imitiert und ihre Texte mit „Colt 45 mit einer Kapazität von 7 Schuss, Kammern im Kaliber 11.43“ gespickt, um Stil zu beweisen, aber die Wahrheit ist, dass viele nichts von Manchettes Beziehung zu Knarren verstanden haben. Wenn er Marken und ihre technischen Daten nannte, dann nicht aus einem persönlichen Verlangen nach Waffen („Ich habe noch nie eine echte Waffe gesehen, außer einer ausgedienten 45er Colt Automatik eines Zeichners“, sagte er 1973 in einem Interview für das Mystère-Magazine), sondern weil alles um ihn herum zur Ware geworden war: Waschmittelfässer, Autos, Zigaretten, Waffen, Kino, Literatur. Wenn also alles eine Ware ist, kann man den Kelch auch gleich bis zur Neige austrinken und die Marken ausbreiten. Bis zur Übelkeit, bis zum Absurden, bis die Überfülle einer verarbeiteten Realität die Seiten überschwemmt und sich in ihrer krassesten Vulgarität zeigt. „Ich suche in der Literatur nach den Auswirkungen der Zerstörung der Realität und der Gewalt, die sie hervorruft“, erklärt der Schriftsteller in seiner Absichterklärung. So viel zum Schuss und dem störenden Geruch von Kordit.

Gabin + der Slang

Diese achtundzwanzig Interviews, die sich über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren (1973 bis 1993) erstrecken, bilden das explosive Material von Derrière les lignes ennemies. Zwei Jahrzehnte, in denen Manchette von revolutionärer Euphorie zu einer gewissen Niedergeschlagenheit angesichts der Einführung einer „Neuen Weltordnung“ wechselt, dieser „wahnsinnigen Wirtschaft“, die fest entschlossen ist, „ schrittweise, aber schnell und ziemlich vollständig mit der menschlichen Spezies und den anderen lebenden Arten, an die wir seit einigen Jahrtausenden gewöhnt sind, Schluss zu machen“, prophezeite er im Februar 1991.

Derrière les lignes ennemies (Hinter den feindlichen Linien) formt ein Prisma, das es ermöglicht, den Kern des Ansatzes des Schriftstellers zu erkennen; nach und nach entdeckt man sein Produktionsgeheimnis: „Ich bin ein ehemaliger linker Militanter. Ich bin politisiert. Ich war es vor Mai 68. […] Ich habe keine Lust, Geschichten über Gehörnte oder Gangster zu erzählen. Ich schreibe Action-Romane und versuche, aggressiv und kritisch zu sein”, gab er 1974 in einem Interview zu. Im Klartext heißt das, dass er sich von dem „Gaunerroman [à la française], der von einer ziemlich widerlichen ‚Macho‘-Mentalität lebt, entfernen will: Jean Gabin plus Slang, wenn Sie so wollen“.

Also achtundzwanzig Interviews, zwangsläufig wiederholt sich das an manchen Stellen ein wenig. Es kommen immer wieder die gleichen Fragen: Wie sind Sie dazu gekommen, Krimis zu schreiben? Warum die Schwarze Serie? Was sind Ihre Inspirationen? Manchmal wird es innovativ und kürzer, dann jubilieren wir aufgeregt:

„Ihre Lieblingstugend:

Schnelligkeit.

Ihre bevorzugten Eigenschaften bei Menschen:

Intelligenz und Güte.

Ihre bevorzugten Eigenschaften bei der Frau :

Die gleichen wie beim männlichen Vertreter der Gattung. Ich verstehe nicht, warum zweimal die gleiche Frage gestellt wird. Man merkt, dass dieser Fragebogen von einer Schwuchtel stammt, oder von einem Hetero, oder von einem Stotterer”. 

Manchette, der von 1979 bis 1981 als Filmkolumnist für Charlie-Hebdo tätig war, spricht zu uns aus einer Zeit, in der man sich noch unterhalten konnte, ohne sich den Mund einzuseifen, aus Angst, von kleinen Moralprozessen auf den Index gesetzt zu werden. Außerdem weiß der Autor, der (vor allem literarische) Klüngel verabscheut, genau das mit Bravour zu tun: zwischen gehobenen und volkstümlichen Ausdrucksregistern wechseln. Er respektiert die Sprache bis in ihre anspruchsvollsten Syntaxen und spielt gleichzeitig mit ihr.

Die Genese des Schriftstellers ist bekannt: Der junge Jean-Patrick hat einen Abschluss in Englisch, fühlt sich aber nicht zum Lehrer berufen. Ende der Sechzigerjahre will der Filmliebhaber das tun, was er liebt: für das Kino schreiben. Er schickt einige Drehbücher und Exposés an Produzenten, die sie alle ablehnen – wenn sie sich überhaupt die Mühe machen, sie zu lesen. Manchette wird zum Strategen: Da man ihn am Haupteingang abweist, wird er durch das Fenster einsteigen. Er beschließt, Kriminalromane zu schreiben und wettet auf einen gewissen Erfolg und eine Verfilmung. In der Zwischenzeit übersetzt er, da er ein junger Familienvater ist und etwas zu essen braucht, reihenweise amerikanische Kriminalromane. 1971 erschien L’Affaire N’Gustro, eine klebrige und zynische Darstellung der Entführung und Ermordung des marokkanischen sozialistischen Aktivisten Ben Barka. 1972 folgte Nada. Nada ist eine Kritik am Terrorismus und seinen Sackgassen. Der ehemalige Linksradikale weiß, dass terroristisches Handeln den „Schweinen an der Macht“ nur Vorteile bringt: Die revolutionären Ideen werden diskreditiert und der Staat kann schwere Geschütze auffahren, um die Militanten zu zerschlagen. „Ich habe es geschrieben, weil ich mich an Freunde wenden wollte, die ich aus den Augen verloren hatte und von denen ich wusste, dass sie zu solchen Aktivitäten verleitet werden könnten“, erklärt der Autor.

Nada wird der Beginn eines gewissen Jackpots für Manchette sein: Chabrol verfilmte den Film einige Jahre später. Insgesamt bewahrte der Schriftsteller eine vorsichtige Distanz zwischen seinen Werken und deren Umsetzung auf der Leinwand. Seine Einschätzung von Chabrols Nada – „ein stalinistischer Film“ – ist unverblümt: „Indem er Nada drehte, hat er [Chabrol] die Anklage gegen L’Humanité und einen dialogischen Ausdruck gegen die repräsentative Demokratie (“Le capitalisme technobureaucratique qu’a le con en forme d’urne”) in die Luft gejagt. In dem Moment habe ich das nicht einmal bemerkt. Und letztendlich waren es ja zwei präzise Interventionen: Man macht sich nicht über L’Huma lustig und man macht sich nicht über die Demokratie lustig. Im Übrigen hat er die Terroristen völlig lächerlich gemacht, einfach durch die Inszenierung und die Schauspielerführung“. Doch Chabrol ist nur eine milde Koketterie im Vergleich zu der von Delon initiierten Hommage. Der Schauspieler wird in drei Adaptionen von Manchette spielen: Trois hommes à abattre (1980) nach Le Petit Bleu de la côte Ouest (1976), Pour la peau d’un flic (1981) nach Que d’os (1976) und Le Choc (1982) nach La Position du tireur couché (1981). Dass der sehr rechte Delon für den linken Manchette schwärmt, lässt die Reporter nicht unberührt.

Der Romanautor nimmt es philosophisch und pragmatisch: Erstens, weil er weiß, dass die Filme am Ende nicht mehr viel mit seinen Werken zu tun haben werden, und zweitens, weil wenigstens etwas Geld reinkommt, das es ihm ermöglicht, „sechs Monate lang nichts zu tun“. „Von Zeit zu Zeit schreiben mir Leser und fragen mich, wie ich es wagen kann, an Delon zu verkaufen. Ich persönlich würde lieber an Fritz Lang verkaufen. Leider ist er tot und hat mir nie etwas angeboten“.

Die Kunst des Schmuggelns

Manchette erlaubt sich eine derart kritische Distanz zur Rezeption seiner literarischen Produktion, weil er sich bewusst ist, dass er „in der Unterhaltungsindustrie publiziert“. „Als ich von néo-polar sprach, wussten die Journalisten nicht, dass das Wort nach dem Vorbild von Wörtern wie néo-pain, néo-vin oder néo-président gebildet wurde, mit denen die radikale Gesellschaftskritik die Ersatzprodukte bezeichnet, die überall die ursprüngliche Sache ersetzt haben. Der Begriff néo-polar wurde überall apologetisch übernommen. Ich rechne jedoch damit, dass er in bestimmten Kreisen verstanden wurde”, erklärte der Schriftsteller weiter in den Spalten des Magazins Littérature vom Februar 1983. Im Grunde genommen macht es Manchette Spaß, die Karten seines eigenen Spiels zu durcheinander zu bringen. Je nach Epoche und Gesprächspartner passt er seinen Diskurs an: Produzent anspruchsloser Actionromane für die einen oder Sämann politischer Brandbomben für die anderen. Dennoch gibt es in seinen Werken immer noch einige Konstanten: Die Psychologie der Figuren geht ihm auf die Nerven (er hält sich also an das Hammettsche Dogma des behavioristischen Schreibens) und das „Schreiben mit künstlerischem Anspruch [erscheint] ihm als Niederträchtigkeit”, da „Flaubert die Romantik am Ende des 19. Jahrhunderts auf ihren Höhepunkt geführt hat”. Eine weitere wichtige Konstante ist, dass der Stilist nie einen Zentimeter Boden in Bezug auf die Form seiner Texte preisgibt. Seine Schreibweise ist atemberaubend meisterhaft, trocken und prägnant, sein Humor kalt und schräg. Eine Mechanik, die so gut geölt ist wie die Trommel einer Astra Cadix 22 Long Rifle.

Manchette, Revolutionär und Fatalist zugleich, brilliert in der Rolle des Schlitzohrs, für den das Vorwärtskommen seiner Figuren immer bedeutet, „gegen sich selbst zu arbeiten“: „ Mir scheint, aber vielleicht betreibe ich marxistisches oder marxoides Einmaleins, dass die Welt von den Handelsbeziehungen überschwemmt worden ist, extensiv, geografisch, intensiv; auch Tätigkeiten, die uns von vornherein nicht quantifizierbar erschienen, wie die künstlerischen Aktivitäten, sind überschwemmt worden. […] Ich selbst kann kein Buch schreiben, ohne mir zu sagen: „Ich befinde mich im selben System wie ein Komponist in Hollywood.“ Meine Bücher werden auf diese und jene Weise vertrieben, auf diese und jene Weise gelesen werden, und wenn ich etwas habe, das meine Subjektivität berührt, wird es nur eingeschmuggelt werden, und so nehme ich den Weg, für die Série Noire zu arbeiten, gekauft, vertrieben und als Ware verbreitet zu werden, als eine gewalttätige Geschichte, in der es, wie ich immer sage, Autoverfolgungsjagden, Morde und ein paar schöne junge Frauen geben wird. Man muss erst die Soße aufsetzen […] und meine Geschichte darunter oder parallel dazu erzählen“.

Eine Haltung, die nur so verstanden werden kann: Subversives Schreiben ist ein Hinterhalt, der sich „hinter den feindlichen Linien“ eingenistet hat.

Fussnoten der deutschen Übersetzung

  1. siehe https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/n:neopolar-6134
  2. siehe https://www.perlentaucher.de/buch/jean-patrick-manchette/westkuestenblues.html

Erschienen am 27. Mai 2024 auf A contretemps, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Jean-Patrick MANCHETTE

DERRIÈRE LES LIGNES ENNEMIES (HINTER DEN FEINDLICHEN LINIEN)

Entretiens 1973-1993 (Gespräche 1973-1993)

Éditions de la Table Ronde 2023, 298 S.