GRAUE MIENEN IN DEN LABOREN DER PO-EBENE…

Ohne auf die alte Debatte zwischen Marxisten und Anarchisten zurückzukommen, ob „Individuen das bloße Produkt der Geschichte“ sind oder ob es umgekehrt „Individuen sind, die die Geschichte machen“, gibt es ein kleines Gedankenspiel, dem sich einige vielleicht schon hingegeben haben. Nicht die – sicherlich angenehme – Frage, welche Superkraft man wählen würde, wenn man nur eine davon annehmen könnte, sondern die – ebenso angenehme – Frage, welche Person aus der Vergangenheit man gerne mit einer Zeitmaschine vom Angesicht der Erde entfernen würde. Viele würden wahrscheinlich die Namen Stalin oder Hitler nennen, während andere, die eher ikonoklastisch sind, nicht zögern würden, die Namen von angesehenen Atomwissenschaftlern wie Albert Einstein oder Marie Curie auszusprechen. Aber wenn die Katastrophe nicht nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, sondern in der ewigen Gegenwart, in der alles so weitergeht, dann könnte man sich auch für ein paar Menschen interessieren, die vor nicht allzu langer Zeit geboren wurden. Eine Frage der individuellen Verantwortung.

Vor vier Jahren, auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie, veröffentlichte eine anarchistische Zeitung einen etwas unbeachteten Artikel mit der Überschrift „Der Nobelpreis ist Abschaum“ (1), der nicht ohne Bezug zu dem oben erwähnten kleinen Spiel ist. Darin wurden die Co-Preisträgerinnen der im Oktober 2020 in Stockholm verliehenen Chemie-Trophäe für die Entwicklung eines universellen Genom-Editierung Systems („CRISPR-Cas9“) im Jahr 2012 in den Mittelpunkt gestellt, das nichts weniger als ein „Werkzeug zum Umschreiben des Codes des Lebens“ ist, für das „nur die Vorstellungskraft die Grenze der Nutzung festlegen kann“, wie die Nobelpreis-Jury selbst sagt. Das von Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entwickelte CRISPR-Cas9[a), das prosaischer als „Schweizer Taschenmesser für das Genom“ bezeichnet wird, ermöglicht es, die DNA aller lebenden Arten auf einfache Weise zu verändern, indem ein Teil entfernt oder ein anderer hinzugefügt wird, d. h. das Erbgut jeder beliebigen Pflanzen- oder Tierzelle nach Belieben zu verändern (2).

Dystopie 2024: Emmanuelle Charpentier, Mitglied der Akademie der Wissenschaften des Vatikans und Mitschöpferin der molekularen Schere mit dem ringförmigen A…

Wir überlassen es Ihrer Phantasie, wie viele Laboratorien auf der ganzen Welt diese Genschere seit einem Jahrzehnt einsetzen, und sagen einfach, dass derzeit fast 900 Experimente mit Pflanzen durchgeführt werden, darunter nicht weniger als 838 mit CRISPR-Cas9. Diese neuen Möglichkeiten der genetischen Veränderung werden von ihren Versprechern schamhaft „Assisted Evolution Techniques“ (AET) oder „New Genomic Techniques“ (NGT) genannt, um sie von OgM [b] zu unterscheiden, unter dem Vorwand, dass es sich nicht mehr um Transgenese (Einfügen einer fremden DNA in einen Organismus, z. B. Fisch) handelt, (z. B. Fisch in der Erdbeere), sondern um gerichtete Mutagenese (Veränderung des Genoms selbst durch Veränderung oder Inaktivierung bestimmter Genomfragmente) oder Cisgenese (Einfügung einer Genomsequenz der gleichen Art oder einer geschlechtskompatiblen Genomsequenz). Was natürlich nichts an der Tatsache ändert, dass sie weiterhin künstlich und genetisch verändert werden, und zwar meist, um sie an die intensive Nutzung oder die chemischen Gifte der Agrarindustrie anzupassen.

Kurzum, wir werden hier auf die Frankenstein-artigen Details dieser OgM-Dreckschleudern der zweiten Generation eingehen, wie z. B. die Tatsache, dass die Genschere CRISPR-Cas9 nicht so präzise ist, dass sie ganz nebenbei sogenannte „Off-target“-Mutationen erzeugen kann, oder generell, dass es unmöglich ist, genetisch auf Pflanzenindividuen einzuwirken, ohne zufällig mit dem gesamten Leben zu interagieren, aber immerhin: Wissenschaftler und Industrievertreter arbeiten seit Monaten daran, diese neuen NGTs [c] in vivo nach Europa einzuführen, und fordern, dass sie nicht unter die OgM-Gesetzgebung fallen.

13. Mai 2024. Vittoria Brambilla, Forscherin an der Universität Mailand und Leiterin des Projekts „RIS8imo“, für das sie gerade dabei ist, die ersten Chimären zu pflanzen, indem sie die Mauern ihres Labors auf die ganze Welt ausdehnt.

Und da ein erstes europäisches Land mitmachen musste, hat sich Italien an die Arbeit gemacht, mit einem Reis, der in RIS8imo umbenannt wurde und von Forschern der Universität Mailand mithilfe der CRISP-Cas9-Technik entwickelt wurde, also einem Reis, bei dem drei Gene (Pi21, HMA1 und HMA2) ausgeschaltet wurden, um ihn „resistenter“ gegen einen Pilz zu machen. Denn für die industriellen Monokultur Bauern der Po-Ebene bedeutet dieser abscheuliche Pilz Pyricularia oryzae in einigen Fällen einen Rückgang ihrer Reisgewinne um 10 bis 30 %, während sich die Folgen der globalen Erwärmung seit einigen Jahren zunehmend auf ihre Ernten auswirken ( mit dem drastischen Austrocknen des Po-Flusses wie im Jahr 2022, wie übrigens auch im Ebro-Delta in Katalonien, der anderen großen Reisregion Europas).

Am 13. Mai 2024 wurde RIS8imo in Mezzana Bigli (Provinz Pavia) zum ersten Mal im Freien gepflanzt, dank einer Änderung, die im Juni 2023 in ein Notgesetz zur Dürre eingefügt wurde und die NGTs auf wundersame Weise für das ganze Jahr 2024 von dem Gesetz befreite, das seit über zwanzig Jahren OgM-Feldversuche verbietet. Das Hauptargument für den Versuch, diese zweite Generation von OgMs überall zu verbreiten, ist nicht mehr die Erpressung wegen eines „überbevölkerten, zu ernährenden“ Planeten, sondern die Anpassung der Lebewesen an den Klimawandel, indem sie noch mehr ausgebeutet und zerquetscht werden. Sich gegen NGT auszusprechen, hieße sogar, der „Finsternis des antiwissenschaftlichen Alarmismus“ nachzugeben, wie die großen Gehirne von 37 Nobelpreisträgern und 1500 Wissenschaftlern in einem offenen Brief vor einigen Monaten noch verkündeten.

Was denken Sie, was geschah, als ein oder mehrere Unbekannte in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni nach Mezzana Bigli kamen und die 200 RIS8imo-Pflanzen, die einen Monat zuvor auf der 28 Quadratmeter großen Fläche gesät worden waren, ausrissen und zerstörten, nachdem sie die Videoüberwachungskamera ausgeschaltet und den Zaun zerschnitten hatten? Und zudem hinterließen sie weder eine Botschaft vor Ort noch eine Online- Bekennung, um ihre Tat zu erklären? Es folgte schlichtweg ein Halali mit blumigen Epitheta wie „gemeiner Akt gegen den wissenschaftlichen Fortschritt“, „Sabotage der Forschung… in Bereichen, die unser Leben, unsere Nahrung und unsere Zukunft betreffen“, “Ökoterroristen”, “feige Kriminelle”, “Rückkehr der obskurantistischen und antiwissenschaftlichen Gewalt”, in einem Chor der Ablehnung, dem sich auch große Umwelt- und Bauernverbände anschlossen, obwohl sie offiziell gegen die NGT sind, aber sehen Sie, wer angesichts des herzzerreißenden Schreis der entwurzelten RIS8imo-Pflanzen, die unter den Sternen liegen, alles mitmacht?

Dies führt z. B. zu folgenden Worten aus dem Mund einer Verantwortlichen von Legambiente: „Selbst harte Kritik an den Risiken, die Feldversuche mit sich bringen, kann nicht in einen Akt der Verwüstung umgesetzt werden. Mit der Zerstörung eines Experiments lassen sich die Risiken, die mit der Vermarktung neuer OgM verbunden sind, nicht begrenzen.“ Aber auch eine Verurteilung von Seiten des italienischen Bauernverbands (ARI, der Partner der französischen Confédération paysanne in der europäischen Koordination Via Campesina), der nicht zögerte, denselben tragikomischen Weg einzuschlagen: „Diese Aktion ist sehr kontraproduktiv zu einem Zeitpunkt, an dem … die Bürgerkampagne gegen den Dürreverordungszusatz in vollem Gange war und auf positive Resonanz stieß“.

Was den Inhalt betrifft, so ist der Aufschrei der Politiker und Organisationen, die die Katastrophe mitverursachen, indem sie Dämme (auch lexikalische) gegen diejenigen errichten, die ihr ein Ende setzen wollen, irrelevant. Es bleibt die Tatsache, dass in dieser letzten Frühlingsnacht der erste europäische Freilandversuch mit den neuen OgMs sabotiert wurde. Und während die Labore in der Po-Ebene grau verhangen sind, lacht man sich bei den Freiheitsliebhabern ins Fäustchen…

Pyricularia nigra,

18. Juli 2024

Anmerkungen

  1. anarchie! n°8, novembre 2020, S.4
  2. 2. für diejenigen, die es genauer wissen wollen: Die CRISSPR-Cas9-Molekularschere besteht aus zwei Komponenten: auf der einen Seite ein RNA-Strang, dessen Sequenz homolog zur DNA ist, die man herausschneiden will, und auf der anderen Seite ein Enzym, Cas9. In der Zelle wird der RNA-Strang die homologe Sequenz auf der DNA erkennen und sich dort platzieren. Das Enzym Cas9 übernimmt dann die Aufgabe, die zu diesem RNA-Strang komplementäre DNA-Kette zu durchtrennen. Die durch den Crispr-Cas9-Durchgang entstandene Lücke kann dann mit jedem beliebigen neuen DNA-Fragment gefüllt werden. Nur, wie Emmanuelle Charpentier selbst, die französische Co-Nobelpreisträgerin für die Entwicklung dieser Schere, erklärte: „Bei manchen Anwendungen gibt es noch das Problem der sogenannten ‚Off-Target‘-Mutationen – d. h. der unbeabsichtigten Mutationen -, die wahrscheinlich nie ganz ausgeschlossen werden können. Um diese Effekte zu verstehen, muss man wissen, dass Cas9 als Endonuklease (ein Enzym, das die Nukleotide in der DNA schneidet) Doppelstrangbrüche in der DNA (DSB) verursacht.  In den meisten Fällen haben diese DSBs keine Folgen für die Zelle, da sie repariert werden. Anders sieht es aus, wenn die Doppelstrangbrüche z. B. zusammenhängend auf verschiedenen Chromosomen vorkommen und zu einer Neuanordnung der Gene führen. Ein solches Ereignis kann zu einer signifikanten Gentoxizität oder sogar zu Onkogenität (Krebsentstehung) führen, wenn die Genmutation in der Nähe eines Onkogens (Gen, dessen Expression die Entstehung von Krebs begünstigt) auftritt“ (Interview in Sciences & Avenir, 5. Oktober 2016).

Fussnoten der deutschen Übersetzung

  1. zu CRISPR siehe

https://www.keine-gentechnik.de/dossiers/neue-technologien-1#c13371

  1. Oligonukleotid-gerichtete Mutagenese/OgM, s.a.

https://keine-neue-gentechnik.ch/de/technik/neue-gentechnik-verfahren/120-oligonukleotid-gerichtete-mutagenese

  1. NGT – Neue genomischen Techniken, s.a.

https://www.transgen.de/aktuell/2880.ngt-regulierung-eu-kommission-crispr-gentechnik.html

Veröffentlicht am 19.7.24 auf sans noms, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.