Ein Abkommen zwischen faschistischen Regierungen steht hinter der Verhaftung des ehemaligen Rote Brigaden Mitglieds Leonardo Bertulazzi in Argentinien

Der Hass der staatlichen Behörden auf ihre einstigen Gegner des bewaffneten und militanten Antagonismus hält seit Jahrzehnten unvermittelt an. Auch wenn etliche der eigentlichen Tatvorwürfe selbst nach bürgerlichem Recht schon lange verjährt sind. Das gilt sowohl für den deutschen Staat, der noch bis vor kurzem versucht hat, Genossen aus dem autonomen Spektrum wegen eines versuchten (sic!) Anschlags auf den Neubau eines Abschiebegefängnisses bei Berlin von 1995 in die Finger zu kriegen und ihre Auslieferung aus Venezuela zu erreichen, als auch für den italienischen Staat der unter tätiger Mithilfe von linken Regierungen und Parteien Lateinamerikas die Verschleppung von Cesare Battisti in einen Isotrakt in einem italienischen Knast vollzug, wo er isoliert unter islamistischen Fundamentalisten, die ihm nach dem Leben trachteten, verrecken sollte. Dieser Hölle erst entkommen durch einen langen Hungerstreik bis an die Grenzen des Todes, ein Schicksal, das er mit Dimitris Koufontinas, ehemaliger Militanter der Bewegung 17. November teilte, der tagelang zwischen Leben und Tod schwebte, bis die griechische Regierung auch unter dem Eindruck von Massendemos auf den Straßen von Athen einem Teil seiner Hungerstreikforderungen nachkam. Während also weiterhin schwerbewaffnete SEK Kommandos Passagierschiffe und Eisenbahnzüge in Berlin nach den flüchtigen Gefährten von Daniela Klette durchkämmen, versucht Melonis Regierung die Auslieferung von Leonardo Bertulazzi, ehemaliger Militanter der Roten Brigaden, zu erwirken wegen eines Urteils in Abwesenheit und unter Verbreitung offensichtlich unzutreffender Behauptungen der damaligen Zusammenhänge rund um die Entführung von Aldo Moro. Unsere Übersetzung eines Artikel von ‘Insorgenze.net’, der am 30. August 2024 erschien. 

Bonustracks

Am Abend des 29. August 2024 verbreiteten Nachrichten-Websites die Nachricht von der erneuten Verhaftung des 72-jährigen italienischen Staatsbürgers Leonardo Bertulazzi in Buenos Aires (nachmittags Ortszeit), einem ehemaligen Mitglied der Genovese-Kolonne der Roten Brigaden, dem 2004 von der Nationalen Flüchtlingskommission (Conare) [Argentiniens, d.Ü.] der Status eines politischen Flüchtlings gewährt worden war.

In einem Kommunique erklärten die argentinischen Regierungsbehörden, Bertulazzi sei verhaftet worden, nachdem die Conare-Entscheidung von den nationalen Regierungsbehörden widerrufen worden war, da ein neuer Antrag auf seine Verhaftung von der Regierung von Giorgia Meloni formuliert worden war.

Im Jahr 2002 lehnte ein Bundesrichter den Auslieferungsantrag ab

Im November 2002 hatte die italienische Regierung ein Auslieferungsersuchen für Bertulazzi gestellt, der zu einer Haftstrafe von 27 Jahren verurteilt worden war wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneter Bande, subversiver Vereinigung und Mittäterschaft an der Entführung des Reeders Pietro Costa durch die Roten Brigaden im Januar 1977. Nach sieben Monaten Haft erließ die Bundesrichterin Maria Romilda Servini de Cubria ein Ablehnungsurteil, weil das Verfahren und die Verurteilung in „Abwesenheit“ stattgefunden hatten, eine Möglichkeit, die in den argentinischen Verfahrensgesetzen nicht vorgesehen ist.

Die Richterin war der Ansicht, dass der italienische Exilant auf diese Weise nicht in der Lage sein würde, sein verfassungsmäßiges Recht auf Verteidigung wahrzunehmen, wenn er ausgeliefert wird, und ordnete seine Freilassung an. In der Folge leitete Berlulazzi, wie wir wissen, das Verfahren zur Anerkennung des Status eines politischen Flüchtlings ein.

Erlöschung erst anerkannt, dann annulliert

Im Jahr 2018, 30 Jahre nach der Rechtskraft seiner Verurteilung, reichte sein Anwalt beim Berufungsgericht Genua einen Antrag auf Anerkennung des Erlöschens der Strafe gemäß Artikel 172 des Strafgesetzbuchs ein. Das Gericht gab dem Antrag statt, doch im Mai desselben Jahres hob der Kassationsgerichtshof die Entscheidung auf und berief sich dabei auf eine rechtstechnische Formalität, die eine Neuberechnung des Zeitpunkts des Erlöschens der Strafe ab der neuen Verhaftung im Jahr 2002 [in Argentinien, d.Ü.] erforderlich machte: Da Bertulazzi auch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis [in Argentinien, d.Ü.] weiter als untergetaucht zu betrachten war“, so die Richter in ihrer Entscheidung, “und da die Verhaftung (im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens, dessen Rechtmäßigkeit von der Verteidigung des Verurteilten nie bestritten wurde) die Manifestation des konkreten Interesses des Staates an der Vollstreckung der Strafe darstellte, begann die Verjährungsfrist ex novo [ von neuem] zu laufen.

In der Zwischenzeit sind seit dieser ersten Verhaftung [ in Argentinien] weitere 22 Jahre vergangen und ein Teil der gegen ihn verhängten Strafen, die sich auf Vereinigungsdelikte beziehen, sind erneut verjährt.

Das Kommuniqué der argentinischen Regierung

In einem offiziellen Kommuniqué der argentinischen Regierung werden die Gründe für die Aufhebung des Flüchtlingsstatus erläutert: „Diese Verhaftung spiegelt Argentiniens Engagement für die Werte der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit (sic!) wider und zeigt der Welt die feste Entscheidung von Präsident Javier Milei, nicht mit der Straflosigkeit der Linken zu leben. Dies ist ein grundlegender Schritt, um sicherzustellen, dass Institutionen, die zum Schutz von Menschen in gefährdeten Situationen geschaffen wurden, nicht von Terroristen missbraucht werden, die den Frieden und die Demokratie bedrohen“.

Abgesehen von Mileis Erklärungen ist die Auslieferung Bertulazzis keine ausgemachte Sache, auch wenn die Justiz seinen Haftstatus vorerst bestätigt hat.

‘Veränderte Rechtslage’

Nach Angaben der Agentur Ansa erfolgte die jüngste Entscheidung durch denselben Richter, der 2003 den italienischen Auslieferungsantrag abgelehnt hatte, und zwar weil sich seiner Meinung nach die Rechtslage für Bertulazzi seit 2003 geändert hatte. Nach Angaben einiger argentinischer Journalisten sagte der Richter, dass der 2018 gestellte Antrag auf Strafaufhebung die Anerkennung der Verurteilung zur Folge gehabt hätte. Laut Ansa hat Italien nun 45 Tage Zeit, um das Auslieferungsersuchen zu formalisieren, und Bertolazzi hat die Möglichkeit, gegen die Entscheidung, mit der sein Status als politischer Flüchtling aufgehoben wurde, Berufung einzulegen und sich dem Auslieferungsverfahren zu widersetzen, sobald es begonnen hat.

In den kommenden Wochen werden wir mehr über den rechtlichen Inhalt dieses neuen Ersuchens erfahren und darüber, wie Italien versuchen wird, die eklatante Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem [Verbot der Doppelbestrafung, dÜ.] zu umgehen. Es gab bereits ein Extraktionsverfahren, das abgelehnt wurde: Wozu also ein neues beantragen? Es ist zu befürchten, dass die argentinischen Behörden die internationalen Verfahren und Gesetze ad absurdum führen und Bertulazzi vielleicht in ein Nachbarland abschieben wollen, das ihn dann der italienischen Polizei ausliefert, wie es in anderen Fällen geschehen ist. [Wie bei der schändlichen Auslieferung von Cesare Battisti durch “linke Regierungen Lateinamerikas, siehe hier, d.Ü.]  Seit Jahren erhält Italien bei Auslieferungsstreitigkeiten nur schallende Ohrfeigen, weshalb es sich auf außerordentliche Überstellungen spezialisiert hat.

Zwillingsregierungen und die Nostalgie nach dem Condor-Plan

Indem sie Bertulazzis Kopf seiner Freundin und politischen Zwillingsschwester Giorgia Meloni auf einem Silbertablett anbietet, scheint die Regierung des faschistischen Milei einen ideologischen Krieg gegen die Symbole der Linken führen zu wollen. Zum Zeitpunkt seiner ersten [ersten] Verhaftung hatte Bertulazzi die Unterstützung der Mütter von der Plaza de Mayo erhalten.

Der kreuzzugartige Ton, der in der offiziellen Mitteilung des Sicherheitsministeriums angeschlagen wird, ist eindeutig: Darin heißt es, dass Leonardo Bertulazzi „einer der von der europäischen Justiz am meisten gesuchten flüchtigen Terroristen ist […] Als ehemaliges Mitglied der italienischen marxistisch-leninistischen Terrorgruppe Brigate Rosse ist Bertulazzi für grausame Verbrechen verantwortlich, die die demokratischen Werte und das Leben vieler Opfer bedroht haben. Diese terroristische Vereinigung war in den 1970er und 1980er Jahren für zahlreiche Gewalttaten in Italien verantwortlich“. Kurz gesagt, die Anschuldigungen sind allgemeiner und ideologischer Natur, die strafrechtliche Verantwortung ist persönlicher Natur und es gibt keine Bluttaten, die Bertulazzi angelastet werden, der auf der Grundlage der Erklärungen eines Verräters, der Italien bereits verlassen hatte, wegen Mittäterschaft an der Costa-Entführung verurteilt wurde.

Vielleicht will Milei die Jahre vergessen machen, in denen die schlimmsten Naziverbrecher in seinem Land beherbergt waren, die Leichen linker Gegner ins Meer geworfen wurden und der Condor-Plan angewandt wurde, d.h. die Liquidierung aller Gegner der verschiedenen südamerikanischen faschistischen Militärregime.

Der Schwindel, der die Verhaftungen erleichtern soll

Die Regierungserklärung verbreitet auch eine durchschlagende historische Unwahrheit, nämlich die angebliche Rolle von Berlulazzi bei der „Logistik der Moro-Entführung“ und seine Funktion als „hochrangiger Angehöriger dieser Organisation“. Offensichtlich haben die italienischen Polizeibehörden ihre argentinischen Kollegen nicht korrekt informiert: Bertulazzi war ein Irregulärer, der nie eine führende Rolle in der Genueser Kolonne gespielt hat und zum Zeitpunkt der Moro-Entführung wegen eines Vorfalls im Sommer 1977, bei dem er sich schwere Verbrennungen an den Händen und im Gesicht zuzog, als er mit Brandsätzen hantierte, auf den Felsen von Vesima, ganz im Westen von Genua inhaftiert.Mit der Moro-Entführung, die von der römischen Kolonne durchgeführt wurde, hatte er nichts zu tun und konnte auch nichts davon wissen. Das Geld aus der Costa-Entführung war zu gleichen Teilen unter allen Brigadenkolonnen aufgeteilt worden: Die römische Kolonne, die sich noch im Aufbau befand, nutzte ihren Anteil an der Entführung, um drei Wohnungen in der Via Paolombini, der Via Albornoz und der Via Montalcini zu kaufen, wo Moro während der 55 Tage der Entführung versteckt gehalten wurde.

Bertulazzi, der sich 1976 der Genueser Kolonne anschloss, nachdem er zuvor in Lotta continua gekämpft hatte, war insgesamt ein Jahr lang Mitglied der Roten Brigaden, bevor er ins Gefängnis kam und eine zweijährige Haftstrafe verbüßte. Er wurde 1979 nach einer Sperrfrist aus dem Gefängnis entlassen und war bis zur Katastrophe vom September 1980 wieder in die Organisation integriert, als er mit zwei seiner Genossen in eine Straßensperre geriet: Bertulazzi gelang die Flucht, seine beiden Begleiter wurden festgenommen. Um sich bei der argentinischen Regierung beliebt zu machen, muss die Zentraldirektion der Sicherheitspolizei die Karte seiner Verwicklung in die Moro-Affäre ausgespielt haben, die nun als Passepartout, als res nullius, die jeder als Federico Mollicone im Dienst beschwören kann, benutzt wird.