Die Rede von Gabriele Rollnik zum 50. Todestag von Holger Meins auf zwei Veranstaltungen in Bern und Basel im November 2024

Als uns von der Bewegung 2. Juni im November 1974 die Nachricht vom Tod von Holger Meins im Hungerstreik im Gefängnis Wittlich erreichte, hatten wir bereits ein sog. »Volksgefängnis« unter einer Ladenwohnung im Bezirk Kreuzberg in Berlin errichtet. Wir wollten damit eine Gefangenenbefreiungsaktion durchführen.

Der Tod von Holger erschütterte uns und es war gleich für unsere gesamte Gruppe klar, dass wir ihn nicht so hinnehmen würden. Innerhalb eines Tages beschlossen wir, unsere Räume zu nutzen, um auf der Seite der Gefangenen in den Hungerstreik einzugreifen. Noch am Abend des 10. November 1974 versuchte die Bewegung 2. Juni, den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann aus seiner Wohnung zu entführen. Mit ihm sollte die Bonner Regierung gezwungen werden, die Sonderhaftbedingungen für die politischen Gefangenen zu verändern und den Forderungen der weiter Hungerstreikenden nachzukommen. 

Die Aktion schlug fehl, von Drenkmann wurde dabei erschossen und das »Volksgefängnis« erst im Februar 1975 mit Peter Lorenz, dem CDU-Kandidaten fürs Berliner Bürgermeisteramt, belegt. Nach öffentlichen Verhandlungen mit der Bundesregierung, die im Fernsehen übertragen wurden, konnten wir Lorenz sechs Tage später wieder freilassen, da der Staat fünf unserer Genoss:innen aus den Gefängnissen freilassen und in den Südjemen ausfliegen lassen musste. 

In welcher politischen Situation konnten sich Anfang der 1970er Jahren in den USA, Japan und ganz Westeuropa Guerillagruppen entwickeln? Sicher war das Beispiel der Länder der 3. Welt, ihrer Befreiungskämpfe gegen Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung schon gegeben. Che Guevara hatte die Parole ausgegeben, den Kampf »ins Herz der Bestie« zu tragen und zwei, drei, viele Vietnams zu schaffen. Ein Argument dagegen, den Kampf in den Metropolen, den saturierten westlichen Hauptstädten zu führen, war, dass hier die Massen noch nicht so weit seien, gegen den Kapitalismus aufzustehen. Sie müssten erst überzeugt werden.

Wir, die bewaffnet kämpfenden Gruppen, wollten durch Taten überzeugen, zeigen, dass man handeln konnte und sich gegen die Übermacht der Herrschenden durchsetzen konnte. Wir bezogen uns auf das damalige globale Kräfteverhältnis, in dessen Rahmen wir auch als kleine Gruppe wirkmächtig sein konnten. Der Kapitalismus befand sich in der Defensive, sein Terrain und Handlungsvermögen war durch das realsozialistische Lager und die Befreiungskämpfe der 3. Welt eingeschränkt. Die Befreiungskriege hatten auf die Bedingungen im Westen schon damals die Wirkung, dass das Kapital versuchen musste, seine Verwertungsmöglichkeiten auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu verbessern. Massenstreiks und wilde Streiks waren die Reaktion. In Frankreich wurde im Mai 68 die Regierung fast aus den Angeln gehoben. De Gaulle musste kurzzeitig das Land verlassen. 

Bei der Jugend gab es einen Aufbruch für ein anderes Leben. Wir wollten die Enge und Beschränkung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr, die Kleinfamilie, die dazu gehörte, in der die Kinder zu angepassten Staatsbürgern dressiert wurden. Und in dieser Zeit bildeten sich auch die Menschen heraus, die ein Beispiel sein konnten: Rudi Dutschke, ein Marxist in der BRD, Cohn-Bendit, eher anarchisch, in Frankreich, die Black Panther und Angela Davis in den USA, Ulrike Meinhof – die alle über die Medien präsent waren und auf den Straßen bei Demos, in den Unis bei Teach-ins und Besetzungen auf die Jugend im ganzen Land und darüber hinaus Eindruck machten. Es zog viele dahin, ungeheure Umwälzungen schienen möglich. Um an diesem Leben und Kampf teilzunehmen, waren wir bereit, alles einzusetzen und die alten Entwicklungsbahnen zu verlassen, Wohngemeinschaften und Kommunen zu bilden, statt Ehen einzugehen, Kinder frei zu erziehen und für die Revolution zu kämpfen, die das Diktat der Konzerne und des Kapitals, welches die Regierungen umzusetzen haben, und die Ausbeutung der Menschen beenden sollte. Das schien für den damaligen geschichtlichen Moment umsetzbar.

Dieser Drive war aus dem Widerstand entstanden, dem Widerstand gegen das Unrecht des Vietnamkrieges, der Kolonisation, der Potentatenhofierung der westlichen Regierungen z.B. gegenüber dem Schah-Regime, der Unterstützung der Militärputsche in Griechenland und später in Chile – der Widerstand war auch eine Schule, wir setzten uns mit den theoretischen Grundlagen auseinander: Marx, Engels, Lenin, Lukács, Gramsci, Mao wurden gelesen und studiert.

Für uns als Guerilla war klar, dass wir im internationalen Zusammenhang kämpfen und nur darin Wirkung bekommen konnten. Die Front war für uns in den Befreiungskriegen der 3. Welt, auf deren äußeren Linien in den westlichen Metropolen wir die Guerilla verorteten. Es gab zwei Demarkationslinien, eine davon zwischen Arbeit und Kapital in den Metropolen. Diese Linie wollten wir langfristig zur Front entwickeln. Der kleine Motor Guerilla sollte den großen Motor: Arbeiterkämpfe und Massenstreiks, antreiben. 

Die andere Demarkationslinie waren die Länder, in denen das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits aufgehoben war: Das realsozialistische Lager und Länder wie China, Kuba und Albanien. 

Mao nannte seine Strategie: Die Städte durch die Dörfer einkreisen. Die Dörfer, das ist der Süden, die Länder der 3. Welt. Die Städte, das westliche Hegemonialsystem: USA, Westeuropa, Japan, Australien. 

Die ersten Angriffe der RAF waren auf das US-Hauptquartier in Frankfurt am Main gerichtet, von wo aus der Krieg der USA gegen Vietnam, die Bombenteppiche gesteuert wurden, genauso wie heute von Ramstein und anderen US-Basen in der BRD Angriffe in Nahost und der Stellvertreterkrieg der Ukraine gegen Russland geführt werden, zu dem der Angriffskrieg Russlands von der Nato gewendet wurde.

Diese Angriffe der Guerilla in der BRD riefen sofort die von Anfang an auf Vernichtung zielende Reaktion des Staates der BRD auf den Plan, der sich an den Counterinsurgency-Maßnahmen und dem Erfahrungsschatz der westlichen Staaten in Bezug auf Aufstandsstrategien und Guerillakämpfen in den Ländern des Südens bediente. Dazu gehörte die Einschüchterung und Bedrohung der Kreise der Bevölkerung, die Verständnis, Sympathie und Unterstützung für bewaffnete Politik bekundeten, wie auch die justizielle Verschärfung, Gesetzesänderungen und Maßnahmen zur Einschränkung des Verteidigungsrechts. Das Terrain der Bekämpfung der bewaffneten Gruppen und ihrer Unterstützer:innen war die Justiz, wozu die Kriminalisierung der bewaffneten Politik gehörte, um sich nicht über ihre Gründe auseinandersetzen zu müssen. Ebenso waren die Medien zur propagandistischen Bekämpfung auch damals schon, wenn auch in geringerem Maße als heute, das Instrument, ein bestimmtes Narrativ zur Delegitimierung bewaffneter Gruppen in die Öffentlichkeit zu drücken. 

Als Gefangene bekamen wir von Anfang an besondere Bedingungen, Sonderhaftbedingungen, bei denen Isolationsfolter das zentrale Merkmal war. In der Einzelisolation und der Kleingruppenisolation sollten alle von dem, was sie einmal begriffen hatten, wieder getrennt werden, gehirngewaschen und als wieder integrierbar in den Gesellschaftsbetrieb oder als Propagandisten gegen ihre Gruppen und ihre Politik ausgespuckt werden.

Dagegen richteten sich die Hungerstreiks und Holger war der erste, der in einem solchen Streik starb. Für alle politischen Gefangenen waren sie aber das einzige  Mittel, um in langen Haftjahren als politisch kämpfende Menschen mit Gedächtnis zu überleben. 

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, brachte dem kapitalistischen Hegemonialsystem des Westens 30 Jahre Expansionsmöglichkeiten zu verbesserten Verwertungsbedingungen durch die Ausbeutung der östlichen Länder, deren Industrien, Rohstoffe und Werte angeeignet werden konnten. Getreu dem Mantra vom Ende der Geschichte, hoffte das »regelbasierte« Herrschaftssystem des Westens, Russland mit seinen riesigen Bodenschätzen und seinen gut ausgebildeten Arbeitskräften und danach auch China in sein hierarchisches System an geeigneter, aber untergeordneter Stelle aufnehmen zu können. Sie zerstörten zuerst Jugoslawien, um kleinere machtlose Staaten integrieren zu können. Entlang ethnischer Linien und nationaler Befindlichkeiten hofften sie, auch Russland und China auseinandernehmen zu können. Im Nahen Osten haben sie Irak und Libyen als eigenständige Staaten zerstört, um sich Öl und Gas besser aneignen zu können.

Das Paradigma eines eingekreisten Kapitalismus verschwand durch den Zusammenbruch des ersten Versuchs einer sozialistischen Gegenmacht, der durch die Oktoberrevolution in die Welt gesetzt worden war. In der neuen Gemengelage war uns klar, dass die Bedingungen für die Guerilla in den Metropolen nicht mehr gegeben waren. Wir haben schon als Gefangene aus der Guerilla Anfang der 90er Jahre gesagt, dass wir nicht mehr zum bewaffneten Kampf zurückkehren. 1998 hat die RAF ihre Auflösung erklärt.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist die Krise der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr zu übersehen. Die weitere Ausbeutung der Natur ist nicht mehr zu verantworten, die Endlichkeit der Ressourcen in jeder Hinsicht sichtbar. Der Green New Deal, der die Verlängerung der kapitalistischen Produktionsweise und -verhältnisse auf neuer Stufenleiter garantieren sollte, ist schon gescheitert. Die Klimaziele sind unter Beibehaltung des Kapitalismus, der auf Wachstum angelegt ist und darauf, dass aus Geld mehr Geld werden muss, nicht zu erreichen. Die strukturelle Krise des Kapitalismus verschärft sich. Wir haben ein Kriegsregime in Deutschland und in Europa, dem alles andere untergeordnet wird. Es wird aufgerüstet und ein Ende des Krieges ist weder in Bezug auf Europa noch auf Nahost zu sehen. Alles ist brandgefährlich. 

Zum anderen ist aber deutlich, dass der Westen eine Abstiegsgesellschaft geworden ist. Die Kolonialität der globalen Arbeitsteilung, das Nord-Süd-Gefälle ist so nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es gibt eine Multipolarität von Machtfeldern, siehe BRICS, die den Ländern des Südens größere Möglichkeiten zur Entwicklung gibt. 

Die Linke müsste dieses Interregnum als Chance sehen, einen emanzipatorischen Ausweg in eine neue Phase der Menschheit zu erkämpfen. Eine solche Vision muss global sein, eine globale Perspektive eröffnen, die die ökonomische und soziale Befreiung der Länder des Südens, der Mehrheit der Menschheit, mit einschließt.

Leseempfehlungen:

Torkil Lauesen: Die globale Perspektive, Imperialismus und Widerstand, Unrast-Verlag 

Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine: Argumente für einen konstituierenden Frieden,‎ transversal texts

Das Transkript dieser Rede wurde Bonustracks freundlicherweise überlassen. Der Text findet sich auch auf Bella Storia Film.