Anmwé – 51 Tage Mobilisierung auf Martinique

Seit fast zwei Monaten gibt es auf Martinique hartnäckige “Blockade Aktionen” und Demonstrationen „gegen die hohen Lebenshaltungskosten“. Wenn auch nur sehr wenige Informationen die Medien im Mutterland zu erreichen scheinen, hat uns ein Freund diese kurze Zusammenfassung der Situation übermittelt. (Lundi Matin)

Teure Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit… Am 5. Februar 2009 erhoben sich die Menschen in Martinique angesichts ihrer unerträglichen Lebensbedingungen und der offensichtlichen Gleichgültigkeit des Staates gegenüber ihren Forderungen. 38 Tage lang skandierte eine große Masse rot gekleideter Demonstranten: „Matinik sé ta nou, Matinik sé pa ta yo” (Martinique ist für uns, nicht für sie) . Diese Volksmobilisierung spiegelte einen allgemeinen Überdruss gegen ein Wirtschaftssystem wider, das die täglichen Leiden der Inselbewohner ignoriert. Als Reaktion darauf schlug der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine Lohnerhöhung um 200 Euro vor. Die Vereinbarung wird am 14. März 2009 unterzeichnet und „beendet“ den Konflikt.

Fünfzehn Jahre später können die Preisunterschiede zwischen den französischen Antillen und dem hexagonalen Frankreich halluzinierende Ausmaße annehmen, manchmal bis zu 200 %. Wie lässt sich eine solche Diskrepanz erklären? Unter den vielen Gründen, die genannt werden, ist einer der häufig genannten Faktoren die Steuer „octroi de mer“, eine Steuer, die auf die Einfuhr von Waren und die Lieferung von Produkten erhoben wird, die von denjenigen, die sie hergestellt haben, gegen Entgelt durchgeführt werden. Diese Steuer trägt dazu bei, die Kosten für Konsumgüter zu erhöhen, und verschärft so die prekäre Lage der Menschen in der Region [1].

Das Problem der hohen Lebenshaltungskosten wirft ein Schlaglicht auf die Mängel eines Wirtschaftssystems, dessen Mechanismen weiterhin eine aus dem Kolonialismus übernommene Struktur reproduzieren. Diese Dynamik erhält eklatante Ungleichheiten aufrecht und verstärkt die schlechten Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung Martiniques. Die „Békés“, die Nachfahren der Sklavenhalter, machen weniger als 1 % der Inselbevölkerung aus, aber sie besitzen einen großen Teil der Unternehmen, insbesondere in der Lebensmittel-, Automobil- und Werbebranche, und festigen so ihr wirtschaftliches Monopol auf dem Territorium. Aus diesem Grund warnt die von Rodrigue Petitot, Gwladys Roger und Aude Goussard geleitete Organisation Rassemblement pour la Protection des Peuples et des Ressources Afro-Caribéens (RPPRAC) im August erneut vor der Situation. Sie rufen zu einer friedlichen Versammlung auf, um die Bevölkerung für die Problematik zu sensibilisieren. Es folgte eine Reihe von Demonstrationen, die alle friedlich blieben und unter anderem am RPPRAC-Hauptquartier, auf den Straßen durch „Molokoy“-Aktionen (im Schneckentempo fahren), und in Supermärkten organisiert wurden.

Zu ihren Forderungen gehörte, dass die drei Militanten ihre Gespräche mit dem Präfekten Jean-Christophe Bouvier und dem Präsidenten des Exekutivrats von Martinique, Serge Letchimy, live streamen dürfen. Dieser Antrag wurde lange Zeit abgelehnt und blockierte den Austausch bis zu einem Kompromiss: Die Gesprächsrunden in der Territorialverwaltung von Martinique werden nun aufgezeichnet und am nächsten Tag in voller Länge auf YouTube zur Verfügung gestellt. An diesem Runden Tisch nahmen verschiedene politische Figuren aus Martinique, die RPPRAC sowie die Direktoren der großen Supermärkte auf der Insel teil. Die Meinungen, Vorschläge und Gegensätze werden energisch zum Ausdruck gebracht. Im Namen des Volkes von Martinique fordert die RPPRAC Rechenschaft über die Preisexplosion und ruft zu konkreten Lösungen auf.

Während die Situation in dem Gebiet seit Beginn der Bewegung relativ ruhig geblieben war, trotz der Präsenz staatlicher Polizeieinheiten bei den Blockaden der großen Supermärkte, änderte sich am 7. Oktober alles. Angesichts der fehlenden Antworten der Verantwortlichen findet eine neue Demonstration am Kreisverkehr von Mahault, einer der meistbefahrenen Straßen Martiniques, statt. Die Fahrbahnen werden von Schwerlastwagen blockiert, während Sympathisanten und Aktivisten auf beiden Seiten des Kreisverkehrs sitzen, alles in einer friedlichen Atmosphäre. Es kommt zu Zusammenstößen und mehrere Vorfälle von Polizeigewalt werden aufgezeichnet und anschließend über Live-Übertragungen auf der App Tik Tok an Tausende von Menschen gesendet. Zwei Tage lang wurden daraufhin auf ganz Martinique Straßensperren errichtet, und der Flughafen Aimé Césaire wurde von Militanten besetzt, nachdem eine angebliche Landung einer neuen CRS-Einheit angekündigt worden war.

Unter Berücksichtigung des sozio-historischen Kontexts der Insel wird die Ankunft dessen, was als koloniale Unterdrückungstruppe wahrgenommen wird, als Provokation des französischen Staates empfunden. Angesichts der fast wöchentlich verlängerten Ausgangssperren, die jegliche Bewegung auf öffentlichen Straßen verbieten, sowie der Verstärkung durch die CRS 8 … (A) Warum schenken Sie dem Leiden eines Volkes, das mit den steigenden Preisen in den Supermärkten konfrontiert ist, nicht einfach Ihre Aufmerksamkeit? Die koloniale Vergangenheit ist nicht so weit weg, und es ist schwer zu ignorieren, dass die Nachkommen von Sklavenhaltern weiterhin von den sozioökonomischen Privilegien profitieren, die mit dem Besitz zahlreicher Unternehmen verbunden sind.

Am 16. Oktober verkündete die Territorialbehörde von Martinique nach einem weiteren Runden Tisch einen Sieg. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, die von allen Parteien mit Ausnahme der RPPRAC-Mitglieder unterzeichnet wurde. Gwladys Roger weist auf Probleme in Bezug auf die Fristen, das Fehlen von Garantien für die Angleichung der Preise sowie das Fehlen der vorgesehenen Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung der von den Direktoren der Supermärkte eingegangenen Verpflichtungen hin und erinnert an das gleiche Vorgehen nach der Mobilisierung 2009.

Am 19. Oktober versammelte sich die Bevölkerung im Hauptquartier des RPPRAC. Aude Goussard, Rodrigue Petitot und Gwladys Roger bekräftigten, dass der Kampf so lange fortgesetzt werde, bis das gesamte Volk von Martinique sich ausreichend und zu angemessenen Preisen ernähren könne. Seitdem gehen die massiven Blockaden der Straßenachsen und der großen Supermärkte weiter.

Es sind nun 51 Tage vergangen.

Anmerkung Lundi Matin 

  1. Zu den wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Sondersteuer „octroi de mer“ siehe die von Mireille Pierre-Louis veröffentlichten Artikel auf unseren Seiten. Insbesondere: :Un Etat au bord du précipice disposant de ses Outre-mer und diese Woche : Anatomie d’une crise

Anmerkung der Übersetzung

  1. Im Dezember 1959 erschießen Einheiten der CRS bei Protesten auf Martinique 3 junge Demonstranten. Seit diesem blutigen Vorfall, der Proteste auch in Frankreich selbst auslöste, wurden keine Einheiten der CRS mehr auf Martinique eingesetzt. Das CRS 8 ist eine 200 Mann umfassende Sondereinheit, die eigentlich u.a. zur Bekämpfung von bewaffneten Drogenbanden etc. zum Einsatz kommen soll, aber auch schon gegen Autonome bei Straßenprotesten sowie gegen Jugendliche aus den Banlieues bei den Riots nach den tödlichen Polizeischüssen auf Nahel zum Einsatz kam. 

Veröffentlicht am 29. Oktober auf Lundi Matin, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Die Videos wurden von Bonustracks beigefügt.