Rentner springen nicht über das Drehkreuz (Argentinien)

Primo Jonas

Es gibt eine alte Tradition in der Rentnerbewegung von Buenos Aires: der Mittwochsmarsch, der sich am Nebengebäude des Nationalkongresses versammelt. Es gibt verschiedene Versionen, aber es ist eine Tradition, die mindestens bis zu ihrem Höhepunkt in den 1990er Jahren zurückreicht, vielleicht mit unterschiedlichen Modalitäten, Wochentagen und Uhrzeiten, aber der Treffpunkt und der Aufruf sind zweifellos historisch und gehören keiner bestimmten Gruppe an.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass seit dem letzten Jahr eine Gruppe besonders viele Mitglieder gewinnt: die Jubilados Insurgentes, die von einer kleinen Gruppe anarchistischer Rentner gegründet wurde und heute Rentner verschiedener ideologischer Ausrichtungen vereint, die jedoch alle die militantesten Positionen und Praktiken der Bewegung teilen. Ehemalige Mitglieder so unterschiedlicher Parteien wie der PRT (die trotzkistischen Ursprungs war und sich später einem „nationalen Marxismus“ des bewaffnetem Kampf zuwandte), der PC und des ‘Peronistischen Widerstands’ vereinen sich unter dem Banner eines Aufstands gegen die gegenwärtige Ordnung der Dinge. Und eine der wichtigsten Ordnungen, die sie durchbrechen wollten, war der Korporatismus der Rentnerbewegung und der Rentner-„Gruppierungen“ der wichtigsten argentinischen trotzkistischen Parteien (jede mit ihrer eigenen „Rentnerfront“). Nachdem ich eines ihrer Mitglieder getroffen hatte, war es ich davon beeindruckt, den Verjüngungsprozess von Genossen zu sehen, die sich lange von jeglicher Art von Militanz distanziert hatten, und wie sie nun zur Avantgarde des sozialen Kampfes gegen die Regierung Milei geworden sind.

Seit letztem Jahr erzwingen die Jubilados Insurgentes und andere militante Sektoren der Bewegung (um keine exklusive Rolle zu romantisieren) jeden Mittwoch einen sehr disziplinierten „Nahkampf“ mit der Polizei, die versuchte, die alten Männer und Frauen daran zu hindern, die Straßen rund um den Kongress zu besetzen und um das Gebäude herumzuziehen. Viele Wochen lang war das beinahe ein Treppenwitz; das ist die Kraft der wiederentdeckten Jugend. Die Genossen haben sich kleine Tricks ausgedacht, um den Polizeikordon zu täuschen, der es vermied, die Älteren allzu offensichtlich zu unterdrücken und das Foto zu generieren, auf das die Opposition wartete, und so sie sind schließlich siegreich um den ganzen Block herumgegangen und haben die Straßen trotz des „Anti-Picketing“-Protokolls der Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, besetzt.

Im letzten Jahr nahmen an diesen Demonstrationen, die immer um 15.00 Uhr, der Zeit für die Rentner, stattfanden, in der Regel nicht mehr als hundert Personen teil. Die erste wichtige Änderung war der Zeitplan. Aufgrund des widrigen Sommerwetters und um zu vermeiden, dass einige der schwächeren Mitglieder ausfallen, wurde beschlossen, die Versammlung auf 17 Uhr zu verlegen. Zu Beginn dieses Jahres begannen sich die Aufmärsche langsam mit anderen Teilnehmern zu füllen. Der Grund dafür war logisch: Die Jubilados Insurgentes – aber nicht nur sie – haben die letzten Monate damit verbracht, von Kampf zu Kampf, von Versammlung zu Versammlung zu gehen, um ihre Solidarität zu zeigen und die der Anwesenden einzufordern. Das ist eine natürliche Dynamik für eine Gruppe, die in der Lage war, über den „Austausch zwischen den Generationen“ zu theoretisieren, eine marxistische Interpretation des Wohlfahrtssystems.

Diese marxistische Lesart entstand aus der Notwendigkeit heraus, gegen den in Argentinien tief verwurzelten gesunden Menschenverstand anzukämpfen, der davon ausgeht, dass jeder Arbeitnehmer selbst für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge verantwortlich ist. Es wird gesagt, dass ein Arbeitnehmer Anspruch auf eine Rente hat, „wenn er seine Beiträge gezahlt hat“, als ob dies die Pflicht des Arbeitnehmers und nicht die des Arbeitgebers wäre. Und als ob der Diebstahl der Beiträge, die in der Tasche des Arbeitgebers landen, noch nicht genug wäre, wird der Arbeitnehmer, wenn er das Rentenalter erreicht, auch noch vom Staat bestraft, der sein Recht auf Rente nicht anerkennt. Die Jubilados Insurgentes erinnern daran, dass in allen menschlichen Gesellschaften der erwerbstätige Teil der Bevölkerung einen Überschuss erwirtschaftet, um den nicht erwerbstätigen Teil (Kinder, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen usw.) zu unterstützen. Das Sozialsystem ist keine individuelle „Sparkasse“, auf der man bei der Pensionierung sein Erspartes erhält, sondern die erwerbstätige Bevölkerung unterstützt die nicht erwerbstätige Bevölkerung im Rahmen der menschlichen Solidarität, die ein unausweichlicher Bestandteil des Lebenszyklus ist, zu dem wir alle bestimmt sind.

Einer der Rentner, der immer bei den Demonstrationen dabei ist, ist ein Fan der kleinen Nachbarschaftsmannschaft Chacarita. Nachdem er so oft herumgeschubst, mit Pfefferspray besprüht und angegriffen wurde, beschlossen seine Freunde aus der Mannschaft, die Rentner auf ihrem Mittwochsmarsch zu begleiten. Das erregte Interesse, und die Fußball-Stimmung fand eine viel größere Resonanz ein als der übliche Mittwochsaufruf. Die Aufrufe richteten sich vor allem an die Fans verschiedener kleinerer Mannschaften, zu denen sich auch einige gewerkschaftliche Oppositionsgruppen gesellten.

Um diese Dynamik zu verstehen, ist es vielleicht interessant, sie mit den Protesten gegen die Rentenreform der Regierung Macri im Jahr 2017 zu vergleichen. Damals gab es viel größere Demonstrationen mit viel intensiverer Volksgewalt. Was war der Kontext? Die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der kirchneristischen Regierung waren ausgefranst, was Mauricio Macri einen ungehinderten Weg zur Präsidentschaft eröffnete, aber zu einer Zeit, als der Kirchnerismus noch eine wichtige und gut organisierte politische Kraft war. Damals sah man vor allem die großen Kolonnen der politischen Parteien und Gewerkschaften. Es war noch eine Demonstration „alten Stils“. Heute zerfällt die Linke im Allgemeinen, aber insbesondere der Kirchnerismus. Es ist nicht einfach nur so, dass die Kirchneristen sich “als Fußballfans verkleidet“ haben, wie ein Journalist meinte, wobei ein gewisses Maß an zutreffender Wahrheit nicht zu übersehen ist. Vielmehr hat die kirchneristische Grammatik aufgehört, effektiv zu sein, und ihre Organisationen befinden sich entweder in einer Krise oder kämpfen untereinander um die Brosamen der Bewegung. Der Fußball funktionierte schließlich als „linkspopulistische“ Identität, mit dem obligatorischen Verweis auf Maradona, der einst sagte, dass „man schon sehr scheiße sein muss, um die Rentner nicht zu verteidigen“.

Es ist nicht ganz klar, was nächsten Mittwoch passieren wird. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass viele Rentner das Drehkreuz nicht allein überwinden können. Sie bedürfen der Unterstützung.

Erschienen am 18. März 2025 auf passa palavra, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.