Vorwärts, Barbaren! (2) – Außenseiter im Zentrum

Sandro Moiso

Igo j’suis sauvage et j’crie ounga wawa, ounga ounga, le G sur la poucave

Ounga ounga, nigga wawawawa, ounga ounga, tant qu’on fout pas l’darwa

J’sais qu’j’suis pas intégré, j’suis père de mes intérêts

NLP: Différents

Während einige Kommentatoren darauf beharren, von einer überzeugenden Beteiligung junger Menschen aus den Banlieues an der jüngsten Wahlrunde zu sprechen, mit der es der Linken gelungen ist, die Rolle der Regierungsspitze wieder in Macrons Hände zu legen, ungeachtet der Tatsache, dass eine Wahlbeteiligung von 67% der Wahlberechtigten einige Zweifel an der „großen antifaschistischen Mobilisierung des Volkes“ aufkommen lässt, wird im Folgenden ein Auszug aus einem der beiden Nachworte am Ende des Textes von Gioacchino Toni und Paolo Lago, Spazi contesi, cinema e banlieue, erschienen bei Milieu (2024), rezitiert.

***

[…] Der moderne Konflikt, zumindest seit den 1960er Jahren, hat sich von den Vorstädten aus entwickelt und endet mit vorübergehenden Besetzungen oder Angriffen auf die Verwaltungs- und Handelszentren der Großstädte. Man denke nur an die Bedeutung der Schlacht um den Corso Traiano in Turin im Juli 1969, die später nicht nur die Entwicklung der Arbeiterkämpfe und der politischen Avantgarde innerhalb des Automobilindustriezyklus und nicht nur bei FIAT, sondern auch die Art und Weise, wie die Kämpfe geführt wurden, bestimmt hat. Das Ghetto der neuen Einwanderer, das Mirafiori-Viertel, wurde zum Zentrum des Kampfes und der Forderungen, nicht nur der Arbeiter oder der Fabriken, die die folgenden Jahre kennzeichnen sollten (Hausbesetzungen, Forderungen an die lokalen und nationalen Verwaltungsbehörden, Wiederaufbau eines sozialen Gefüges, das zwar im Süden, aus dem viele Teilnehmer dieser Kämpfe wegziehen mussten, um Arbeit zu finden, zerstört wurde, aber in den Vororten der großen Städte des Nordens auf neuen und moderneren Grundlagen wieder aufgebaut wurde).

[…] Was wir in den heutigen Banlieues erlebt haben und erleben, ist alles in allem nicht viel anders, wenn auch mit neuen Protagonisten und neuen Modalitäten sowie in einer stark veränderten politischen, wirtschaftlichen, nationalen und internationalen Landschaft.

[…] Die Illusionen der Väter und Großväter der heutigen jungen Banlieusards über die Integration durch Arbeit oder gewerkschaftlichen Kampf, trotz des französisch-algerischen Kolonialkonflikts, der auch von schrecklichen Verbrechen auf französischem Boden geprägt war, haben mit der Arbeitslosigkeit, dem in der französischen Arbeiterklasse selbst grassierenden Rassismus und dem demografischen Zuwachs an Algeriern und Maghrebinern, der dem weißen Bürgertum und anderen immer Angst gemacht hat, ein Ende gefunden.

Das Stadtzentrum kann also nur der Schauplatz von „vandalistischen“ Überfällen sein, bei denen sich Jugendliche, wie in den letzten Jahren immer häufiger geschehen, von Turin bis London, die in Luxusgeschäften ausgestellten Waren aneignen und damit deutlich machen, was Amitav Ghosh in seinem Roman Die Insel der Gewehre über die neue Beziehung zwischen den neuen Migranten bzw. deren Nachkommen und dem Westen gesagt hat.

Die jungen Migranten, denen ich begegnete, waren nicht von einem Kontinent zum anderen transportiert worden, um ein Rädchen in einem riesigen Getriebe zu werden, das, wie im Falle der Plantagen, nur dazu diente, die Wünsche anderer zu befriedigen. Sklaven und Kulis arbeiteten, um Waren zu produzieren – Zuckerrohr, Tabak, Kaffee, Tee oder Kautschuk -, die für das Mutterland der Kolonisatoren bestimmt waren. Es waren die Begierden, der Appetit der Metropolen, die die Menschen von einem Kontinent zum anderen trieben. Um ständig die begehrtesten Waren zu produzieren. In diesem Mechanismus waren die Sklaven Produzenten, nicht Konsumenten; es war ihnen unmöglich, dieselben Wünsche zu hegen wie ihre Herren.

Jetzt aber wollten Jungen wie Rafi, Tipu und Bilal die gleichen Dinge wie alle anderen: Smartphones, Computer, Autos. Es konnte auch nicht anders sein: Seit ihrer Kindheit waren die attraktivsten Bilder, die sie gesehen hatten, nicht die Flüsse oder Felder, die sie [einst] umgaben, sondern die Objekte auf den Bildschirmen ihrer Handys.

Jetzt verstand ich, warum die wütenden jungen Männer auf den Booten um uns herum so viel Angst vor diesem elenden Flüchtlingsboot hatten: Dieses winzige Boot symbolisierte das Umkippen eines jahrhundertealten Projekts, das für die Entstehung Europas entscheidend war. […] dieses winzige Boot symbolisierte den Zusammenbruch des jahrhundertealten Projekts, das ihnen enorme Privilegien garantiert hatte. Sie wussten in ihrem Inneren, dass diese Privilegien ihnen nicht mehr von den Menschen und Institutionen garantiert werden würden, auf die sie einst vertraut hatten.

Die Welt hatte sich zu sehr und zu schnell verändert; die bestehenden Systeme gehorchten keinem menschlichen Meister mehr, sondern folgten, unergründlich wie Dämonen, ihren eigenen Imperativen (1).

Auf denselben Seiten fügt er dann noch einmal hinzu:

Seit den Anfängen des Sklavenhandels hatten die europäischen Imperialmächte das größte und grausamste Experiment zur Umgestaltung des Planeten unternommen, das die Geschichte je gekannt hatte: Im Namen des Handels hatten sie Menschen in fast unvorstellbarem Ausmaß zwischen den Kontinenten hin- und hergeschoben und schließlich das demografische Profil des gesamten Planeten verändert. Doch während sie andere Kontinente neu besiedelten, waren sie stets bestrebt, das Weiß der europäischen Territorien zu bewahren.

Nun wurde dieses Projekt untergraben: Die Systeme und Technologien – von der Rüstung bis zum Informationsmonopol -, die diese gigantischen demografischen Eingriffe ermöglicht hatten, hatten nun Escape Speed erreicht, und niemand kontrollierte sie mehr (2).

Dieses Literaturzitat dient dazu, die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Thema zu lenken, das der Erzählung über die Banlieue-Unruhen oder die städtische Aktion der Banlieusards zugrunde liegt: das Verschwinden des Zentrums. Das Verschwinden des Zentrums ist hier sowohl in einem urbanistischen als auch in einem politisch-ökonomischen und geopolitischen Sinne zu verstehen. Wir werden sehen, wie und warum.

Während Intellektuelle à la Tomaso Montanari noch immer über die Zerstörung von Kunststädten wie Florenz durch den digitalisierten Tourismus von Airbnb weinen, […] ist die klassische Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie endgültig verschwunden.

Sie ist auf geopolitischer Ebene gescheitert, in einer Welt, in der die Zentralität des Westens gegenüber dem Rest der Welt zunächst langsam und dann immer schneller bröckelt, wie die militärische, politische und wirtschaftliche Chronik der letzten Jahre (vom Rückzug aus Afghanistan über den Krieg in der Ukraine bis zur militärischen und humanitären Krise in Gaza) fast täglich bestätigt.

Sie ist sowohl technologisch als auch wirtschaftlich gescheitert, in einer Welt, in der die Entwicklung neuer Technologien, insbesondere der digitalen, keinen präzisen Bezugspunkt mehr hat, da für ihre Herstellung seltene Erden benötigt werden, die sich häufig im fast ausschließlichen Besitz von Ländern außerhalb dessen befinden, was bis vor einigen Jahren noch als das Weltzentrum der technologischen und wissenschaftlichen Innovation galt, während ihre Entwickler häufig auf Kontinenten „außerhalb“ der weißen Festung des Ursprungs der Marken angesiedelt sind. Während die westlichen Marken selbst inzwischen in allen Bereichen von denen asiatischer Herkunft überflügelt werden. Ganz zu schweigen von der schnellen Veralterung, zu der alle neuen Produkte verdammt sind, um den Markt für sie am Leben und wettbewerbsfähig zu halten.

Sie hat auf staatlicher Ebene versagt, in einer Zeit, in der jede Entscheidung der Parlamente, vor allem hier in Europa, von Entscheidungen supranationaler und außerparlamentarischer Gremien abhängen muss, die Wahlfarcen und nutzlose Entscheidungen zwischen der Rechten, der Linken und den neuen Populismen nahezu wertlos machen. Alle werden, sobald sie an der Regierung sind, gleichermaßen unter dem Vorwand erpresst, dass sie auf supranational festgelegte Parameter reagieren müssen.

Sie ist auf der städtischen Ebene gescheitert, wo der Anspruch auf das Recht auf Stadt im Laufe der Jahre real an Gewicht verloren hat, da sich jeder Teil der Stadt in ein Ghetto verwandelt hat. Ghettos für Touristen in der Altstadt oder in der Kunstmetropole, die sich in Schaufenster für Waren unterschiedlichen Wertes verwandelt haben, vom Luxus bis zum Elend von H&M; Ghettos für die Reichen in den immer exklusiveren Wohnvierteln, die vom Rest der Stadt separiert sind; und Ghettos für die benachteiligten oder verarmten Mittelschichten überall anders.

Aber macht es dann noch Sinn, von einem Ghetto zu sprechen, wenn die ganze Stadt aus unendlich vielen Gründen, die hier aufzuzählen zu lange dauern würde, in denen aber der Mangel an regulären, regelmäßig bezahlten Arbeitsplätzen eine grundlegende Rolle für den sozialen Wandel spielt, zu einer Ansammlung von „Ghettos“ geworden ist?

Und ist es bei diesem Verlust der „Mitte“ noch sinnvoll, von der „Arbeiterklasse“ und ihrer Zentralität zu sprechen?

Dies sind die Themen, über die das beste Kino der Banlieue nachdenken muss, da es die Epoche, die Themen und die Sichtweise der „Realität“ vorwegnimmt.

Nimmt in dem Film Athena die Belagerung und der militärische Angriff der Polizei auf das Viertel, das von den Jugendlichen verteidigt wird, die als erste die Initiative ergriffen haben, indem sie nach dem x-ten Mord an einem jungen Maghrebiner die Polizeistationen stürmten, nicht symbolisch alles vorweg, was seit dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen passiert ist, inkl. die Irreduzibilität der Bewohner des Streifens?

Und führt diese Erkenntnis der jungen Protagonisten dieser Filme über die unüberbrückbare Distanz und Entfremdung, die sie vom urbanen, wirtschaftlichen und politischen Zentrum der Städte, in denen sie leben, trennt, nicht zu einer Form von kollektivem Identitätismus, der über die ethnische, politische oder religiöse Zugehörigkeit hinausgeht und der Millionen oder Milliarden von Bewohnern des so genannten globalen Südens dazu bringt, den Norden und seinen verlorenen Zentralismus immer mehr zu hassen?

Sind diese „neuen Barbaren“, die nicht einfach nur ghettoisiert sind, wie es die christliche und liberale Frömmigkeit vorgibt, nicht die neuen Vampire, wie in Richard Mathesons Roman I Am Legend, die bewusst dazu bestimmt sind, die alte Weltordnung zu erben und gleichzeitig zu zerstören?

Eine Welt, in der mittlerweile Zentrum und Peripherie selbst in der Reihenfolge ihrer Bedeutung durcheinander geraten sind, die aber nichts anderes zu tun vermag, als weiterhin ihre eigene authentische Barbarei, oft als Ökumene getarnt, und ihren eigenen authentischen Vampirismus gegenüber den anderen „Welten“ zu zeigen, die nun entschieden jünger und motivierter in ihrer Wut und ihrem Wunsch nach Erlösung sind.

  1. A. Ghosh, L’Isola dei fucili, Neri Pozza Editore, Vicenza 2019, S. 307-309. 
  1. A. Ghosh, ebd., S. 308.

Erschienen am 14. August in der italienischen Version auf Carmilla Online, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Teil 1 findet sich hier bei Bonustracks.