Intro:
Wir reden heute über den Tod von Holger Meins. Zuvor möchte ich aber daran erinnern, dass es einen zweiten Hungerstreiktoten gab, Sigurd Debus, der beim Hungerstreik 1981 an den Folgen der Zwangsernährung gestorben ist.
Text:
Heute vor 50 Jahren starb Holger Meins. Ich weiß noch, als uns die Nachricht erreichte, warf sie uns in einen Zustand der Ohnmacht. Wir hatten vieles unternommen, um die Gefangenen in ihrem Kampf gegen die Isolationshaft zu unterstützen. Wir, das waren die undogmatischen Linken, die zwar mit dem Staat und den kapitalistischen Verhältnissen gebrochen hatten, die aber alle noch legal arbeiteten. Wir, das waren die, die das Leben, welches uns die auf Produktion und Konsum ausgerichtete Gesellschaft anbot, nicht nur verachteten, sondern es als ungeheure, nicht lebbare Zumutung erfuhren und hinzunehmen nicht bereit waren, aber längst auch noch nicht politisch fähig fühlten, ein revolutionäres Konzept, eine Strategie dagegen zu entwickeln. Gleichwohl waren die Mitglieder der Stadtguerilla unsere Genossen; wir erkannten bei ihnen etwas von uns wieder. Es war unsere Generation, die auch den Bruch mit der Nazi-Generation hinter uns wollte. Die Antwort des Staates zielte auch auf uns.
Wir hatten uns in den Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD organisiert, die bedeutendsten davon in Hamburg, Heidelberg und Stuttgart, aber auch in anderen Städten. Seit Monaten hatten wir Kampagnen durchgeführt, Öffentlichkeitsarbeit gemacht, Denkmäler besprüht, liberale und politisch-moralisch anerkannte Personen aus der Intellektuellen Etage der Gesellschaft angesprochen, damit sie ihre Stimme erhoben, die Hungerstreikerklärung plakatiert, im europäischen Ausland noch virulente Positionen gegen den alten deutschen Faschismus angesprochen und verbreitet und plötzlich war das Ende da. Schlagartig, obwohl man es hat kommen sehen. Aber es ist etwas anderes, etwas zu erwarten als etwas zu erfahren.
Es gab noch einen Lebensalltag, das Zusammenleben mit Genoss:innen, die täglichen Treffen zur Planung und Fortsetzung der Kampagnen. Dieser Alltag war weg, wenngleich er noch da war, jedoch nun ohne seine illusionsbedingte Geltung oder anders gesagt: seine illusionsbedingte Normalität von Leben innerhalb der bestehenden Ordnung und dem Anspruch des Widerstand dagegen. Die brutale Rohheit, die mit dem Sterbenlassen von Holger Meins gesellschaftlich auftrat, wischte alles vom Tisch und stellte uns nackt, geradezu hilflos auf die linke Bühne. Ein paar Scheiben wurden eingeworfen, aber sie konnten die Lähmung nicht verdecken, die in uns Besitz ergriff, so wie der Mensch, der einen Schlaganfall erlitt und plötzlich feststellt, das seine Bewegungen noch funktionieren, jedoch nur noch verlangsamt.
Mit einer Genossin suchte ich den Vater von Holger Meins auf. Er hatte ebenso wie wir vom Sterben seines Sohnes aus den Nachrichten erfahren. Niemand von staatlicher Seite hatte irgendeine Notwendigkeit gesehen, den Vater oder die Schwester von Holger Meins zu informieren. Wilhelm Meins war zusammengesunken. Er erzählte von dem mit blauen Flecken übersäten Körper seines Sohnes nach dessen Verhaftung und der Wirkungslosigkeit jeder juristischen Intervention. Später wird er, was ihn empörte, als »Zeuge« vorgeladen, um zu belegen, dass Holger Meins sterben wollte. Der Staat wollte die Verantwortung für den Tod von Holger Meins auf diesen abladen. Eine andere Variante des Ansprechens von Angehörigen mit dem Satz: »Auf der Flucht erschossen«. Das Familiengrab, auf dem sein Sohn, unser Genosse, bestattet wurde, hat er später mit einer Betonplatte versiegeln lassen. Im fortlebenden Nazi-Staat musste man mit allem rechnen. Juristisch hatten wir nichts mehr versucht. Gegen einen Krieg führenden Staat, so hatte uns die Hamburger Anwaltsgenossen um Kurt Groenewold herum immer erklärt, helfen keine Rechtsmittel oder Rechtsansprüche. Das war ihre Erfahrung, die sie dazu trieb, vor dem BGH zu demonstrieren unter der Parole: »BGH – Brauner Gangsterhaufen«. Die Verachtung der politischen Justiz war allumfassend und sie war begründet. Auch unser Protest half nichts. Das war die unmissverständliche Wahrheit im Tod von Holger Meins.
Es gibt einen Film von Pasolini, Teorema, der mich später beschäftigte, weil er Fragen enthält, die auch auf uns zutrafen. Was passiert, wenn eine Befreiung, die real für Menschen einmal zu spüren war, entschwindet? Sie hinterlässt eine klaffende Wunde, die geheilt werden will. Wer einmal Befreiung verspürt hat, wie soll er ohne sie weiterleben können? Wir hatten etwas davon erfahren, wir konnten diese Erfahrung nicht loslassen.
Man darf in der Geschichtsbetrachtung von dem, was aus einem Ereignis später wird, nicht in den Fehler verfallen, das Ende bereits in den Anfang zu verlegen. Das sog. ‘68’ und was später daraus folgte, folgt keiner Kontinuität in seiner Entwicklung. Vielmehr hat diese große Bewegung das Moment von Stagnation, Niederlage, Anpassung und – schließlich – Dementi durchlebt. Zwischen Revolte und Anpassung steckt immer die Erfahrung mit der Gewalt und mit ihr verbunden die einer Niederlage. Hier ist der Grund zu suchen, warum es die bewaffneten Gruppen gab. Die bewaffneten Gruppen in den Metropolen wollten von dem großen und wirkungsmächtigen, international validem Befreiungsversprechen nicht loslassen. Die Tür war aufgestoßen zu einem Sturz der alten Nachkriegsordnung, in der der westliche Kapitalismus ökonomisch lange dominierte und dort, wo ihm eine Schranke gesetzt war sein militärisches Potential einsetzte, um Widerspruch und Widerstand zu eliminieren. Aber es wandelte sich damals von der Offensivposition in eine Defensivposition. Man sah es an den antikolonialen Kämpfen und dann an Vietnam.
Der Schlag, der uns mit dem Tod von Holger Meins getroffen hat, war gezielt und wuchtig. Holger Meins ist nicht gestorben, weil irgendetwas daneben gegangen ist, weil eine Person oder eine Institution versagte, aus Oberflächlichkeit, Gedankenlosigkeit in einer Institution oder aus irgendeinem anderen Grund, aus dem man zu der Frage hätte kommen können: »Wie konnte das passieren, was ist falsch gelaufen?«
Nein, der Tod von Holger Meins nach 57 Hungerstreik Tagen war angekündigt, er war von staatlicher Seite aus nicht nur erwartet, er war gewollt worden. Buback, so hatten wir es schmerzlich begriffen, hatte uns eine Leiche vor die Füße geworden, eine Machtdemonstration, eine Arroganz und Selbstherrlichkeit, auch eine Verachtung, mit der Drohung: »Wenn Ihr Euch nicht anpasst, löschen wir Euch aus«. Das war die Sprache des Faschismus. Die, die sie im alten Faschismus bereits gesprochen hatten und straflos geblieben waren, kehrten offen zu ihr zurück. Sie war wieder real geworden und kam aus ihrer demokratischen Tünche heraus. Die Alten waren die Alten geblieben. Dass dieser Akt eines anderen Tötens an einem Gefangenen, also einem unbewaffneten Wesen exekutiert wurde, machte die Sache um so deutlicher.
Wir hatten uns eines Tages, von Anwälten vermittelt, Bubacks Handschrift angeschaut auf den Anordnungen und Eingaben, die er unterschrieben hat: Eine halbe Seite groß und Fett. Es war weniger eine Handschrift als mehr ein ins Papier eingestanztes persönliches Machtsiegel. Man könnte auch sagen: herrisch. Aber es war nicht Buback alleine, der General der Justiz, der in der RAF einen Kriegsgegner vor sich sah, der eliminiert werden musste, komme auch was wolle, der die Haft und die Prozessführung nicht juristisch, sondern eher militärisch sah und konzipierte. Viele aus seiner Generation an der Macht oder in mittleren oder höheren Machtposition waren so. Günther Scheicher, Abteilungspräsident vom BKA, eröffnete triumphierend im Nazi-Jargon den in Bulgarien festgenommenen Mitgliedern aus der Bewegung 2. Juni – wir sind im Jahr 1978 – : »Jetzt geht es heim ins Reich!« Helmut Schmidt, Offizier der Nazi-Wehrmacht, der bis zum Schluss bewusst und nicht blindwütig an seinem Fahneneid für Hitler festgehalten hatte, um nun von der»blindwütiger Ideologie« der RAF zu sprechen, legitimierte den Tod des nicht-verurteilten Gefangenen mit markigen Worten und erhöhter Tonlage [1]:
»…und darüber hinaus soll ja niemand vergessen, dass der Herr Meins Angehöriger einer gewalttätigen, andere Menschen vom Leben zum Tode befördernd habenden Gruppe, nämlich der Baader-Meinhof-Gruppe war. Und nach alledem, was Angehörige dieser Gruppe Bürgern unseres Landes angetan haben, ist es allerdings nicht angängig, sie, solange sie ihren Prozess erwarten, in einem Erholungsheim unterzubringen. Sie müssen schon die Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses auf sich nehmen.«
Isolationsfolter als »Unbequemlichkeit«, aber ich will mich nicht empören. So sprach der Nazi-Offizier, der dabei war, als in das abgeriegelte Leningrad ab dem 8. September 1941 hineingeschossen wurde ohne Unterbrechung, gegen das die Wehrmachtführung dann auf die Idee kam, es sei munitionstechnisch günstiger, die Bevölkerung durch Nahrungsentzug verhungern zu lassen, was dann die Todesursache bei etwa 90 % der 1,1 Millionen Toten in Leningrad war. [2] Helmut Schmidt hatte beim Gegner Erfahrung mit dem Tod durch Verhungern. Der gleiche Helmut Schmidt, der später erklärte, nie ein Nazi gewesen zu sein (Wehrmachtsakte Helmut Schmidt: »Steht auf dem Boden der nat. soz. Weltanschauung und versteht es, dieses Gedankengut weiterzugeben« bzw. Bewertungen wie: »Nationalsozialistische Haltung tadelfrei«) [3], war in den fünfziger und sechziger Jahren gern gesehener Sprecher der SS-Organisation HIAG, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e.V. und erklärte seinen Freunden dort, dass er »ihnen, meinen Kameraden von der Waffen SS« ja nun nicht erklären muss, »wenn wir damals in Russland wussten, rechts oder links von uns, oder vor uns, liegt eine Division der Waffen-SS, dann konnten wir ruhig schlafen.« Noch 1965 betonte Schmidt dazu: »Nach wie vor meiner Meinung«. [4] Genauso wie er bis Mitte der siebziger Jahre mit persönlichen Interventionen beim italienischen Staatspräsidenten um die Freilassung des SS-Mannes und Leiters des Sicherheitsdienstes in Rom, dem Kriegsverbrechers Herbert Kappler, intervenierte, der, verurteilt für die Deportation von Juden nach Auschwitz und für die Hinrichtung von 335 italienischen Zivilisten im Alter von 17 bis 74 Jahren, den »Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses« nicht ausgesetzt sein sollte, weshalb ihm mit Unterstützung durch deutsche Staatsgeldern im August 1977, kurz vor dem »Deutschen Herbst«, zur Flucht nach Deutschland verholfen wurde, wo er bis zu seinem Tod dann unangetastet und von Nazifreunden geförderte lebte [5].
In einer dokumentarischen Betrachtung des Herbst 1977 [6] definierte der Filmemacher Heinrich Breloer Helmut Schmidt, Franz-Josef Strauß und seinesgleichen als Leutnant-Generation, die endlich auch mal einen Krieg gewinnen wollten. Das kann man so sehen, aber es fasst die Dimension des Zusammenstoßes nicht.
Denn was ist der Krieg? Der Krieg ist Ausdruck eines Antagonismus, der unbewaffnet nicht gelöst werden kann. Der Krieg ist aber auch Ausdruck eines Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisses, in dem es ums Ganze geht. Einer siegt, der andere unterwirft sich oder stirbt. Das ist Hegels Herr und Knecht [7]. Aber was ist der Krieg im Gefängnis, wo der Gefangene nicht bewaffnet ist und nur noch über seinen Körper und seinen Willen verfügt und gegen eine Macht steht, die über alle Mittel verfügt und zu jeder Übertretung bereit ist? Wir sehen im Tod von Holger Meins: Der Antagonismus ist nicht davon abhängig, dass er bewaffnet auftritt. Es reicht der Wille, die Unterwerfung zu verweigern.
Im Tod von Holger Meins artikuliert sich dieser Antagonismus in seinem politischen Kern: Unterwerfung oder Tod. Friss oder stirb. Die RAF wusste es, wir wussten es auch. Nach dem Tod von Holger Meins war es nicht mehr auch nur vorübergehend wegschiebbar. Der Antagonismus kommt überall beim Aufwerfen der Souveränitätsfrage zur Geltung.
Aus ‘68’, ich erinnere daran, gab es eine reale Befreiungserfahrung. Sie trug den Bruch mit dem Leben im Kapitalismus in sich. Zur Staatsräson gehörte, dass die Revoltierenden auf die Verhältnisse hin neu zugerichtet werden mussten. Diese Zurichtung fand statt in einer Modernisierung der Gesellschaft, in der auf der einen Seite immer mehr erlaubt wurde in den Lebensformen und auf der anderen Seite ein immer höherer Druck zur Anpassung strukturell etabliert wurde. Den 5000 mit juristischen Verfahren bedrohten Studierenden wurde eine Amnestie gewährt [8]. Gleichzeitig wurde mit der Hochschulreform der Studiendruck erhöht und, verbunden mit dem Verbot der allgemeinen politischen Betätigung durch die Asten, den Studierenden die gesellschaftskritische Praxis versperrt. [9] Anpassung statt Veränderung. Denen, die nach 68 noch an der Gestik des Marxismus festhielten, wurde das Berufsverbot übergezogen, die Zerstörung einer selbstgewählten Existenz in der Gesellschaft [10]. Denen, die wie wir in Hamburg ein Haus besetzten und uns nicht jugendsozialreformerisch einfangen lassen wollte, wurden die Mobilen Einsatzkommandos auf den Hals gehetzt und für sie wurde das Knastsystem zur Normalität [11]. Die, die wie die RAF oder andere bewaffnete Gruppen gekämpft haben, wurden erschossen oder in Isolationseinheiten verbracht.
Die sich entwickelnde Gegenmacht hatte die Ansätze einer Gegensouveränität. Diese Gegensouveränität ist es, die das Kriegsverhältnis evoziert. Der hungernde Holger Meins, der auf den Bruch mit den bestehenden Verhältnissen bestand und artikulierte, dass er sich seinen kollektiven Zusammenhang – Bedingung jeder Befreiung – nicht nehmen lässt, stand, wenngleich im ausgehungerten Körper und nackt und ohne äußere Waffen vor der Macht wie ein befreiter Sklave und warf sein Leben als Widerstand in die Waage. Im Abschütteln der alten Herrschaftsbeziehung sah die Macht in Gestalt ihrer Funktionäre in ihm die Aufständischen, der ihre Hegemonie herausforderte – und entschied sich an ihm zu zeigen, dass jede Systemopposition bei ihr nur auf Vernichtungsabsicht stoßen wird. Und sie enthielt eine Erinnerung, die, wenn vielleicht auch ungewollt, die Bereitschaft zur Entgrenzung zeigte: Das Foto des toten, nackten Holger Meins unterschied sich durch nichts von den Fotos der Verhungerten, die wir aus den KZs kannte.
Im Tod von Holger Meins ist nicht nur das RAF-Mitglied angegriffen, das früher zur bewaffneten Opposition gehörte, sondern der befreite Mensch als solcher, der Mensch, der seine eigene Sprache gefunden hat und nicht mehr die Sprache des Systems spricht, ja nicht einmal mehr sie verstehen will. Das ist die Ungeheuerlichkeit der Revolution.
Auf diesen Akt des Selbst reagiert die Macht mit Vernichtung. Was ist ‚die Macht‘? Es ist nicht die Macht von Personen, es ist die Macht einer neuer Herrschaft, die nach dem Ende des Nazi-Regimes sich nach und nach auf der Welt etablierte und in der Neoliberalen Globalisierung dann ihre – vorläufige – Vollendung fand. Ihr sind alle unterworfen und so sind wir heute mit Politikern, aber auch mit einer Mehrheit der Gesellschaft konfrontiert, die sich als linke, als grüne, als reformorientierte, klimagerechte Strömungen oder Positionen bezeichnen und doch nichts anderes sind als Agenten zur Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse.
Der Tod von Holger Meins hat nicht nur jene Seite, die auf die Brutalität bestehender Machtverhältnisse verweist, sie hat auch jene Seite, die die RAF und andere bewaffneten Gruppen in den Metropolen kennzeichnete: jede Integration führt zu unserer Zerstörung. Die Verhältnisse sind so zugespitzt, dass es tatsächlich um Sein oder Nichtsein geht, politisch eher gefasst in der plakativen Erkenntnis: Sozialismus oder Barbarei.
Die Entwicklung zum freien Mensch oder eben jener der fortdauernden, immer umfassender werdenden Zurichtung des Menschen für die toten Zwecke des Kapitals. Das ist es, was heute sich als »Wahl« unseres Lebens entblößt, inzwischen fast schon eskaliert durch die Entwicklung der technologischen Macht des Kapitalismus, die nun in eine KI mündet, die auch die Wissensmacht der Menschheit usurpiert und sukzessive als nicht mehr zu erkennendes Herrschaftsverhältnis ihnen gegenüber entgegentritt. Insoweit ist die Systemfrage heute politischer und unterscheidet sich von der über die Verwertungsökonomie zwar ableitbaren Negation gegenüber dem alten fossilen Kapitalismus aus der Nachkriegszeit, denn sie blieb auf Grund seiner Prosperität und den noch offenen Verheißungen mehr auf der existentiellen und moralischen Ebene (Vietnam) reduziert. Heute tritt hervor: Es geht inzwischen generell um die Existenz des Menschen, so wie wir ihn kennen.
Auch die RAF war davon nicht unbeeindruckt. Ihre Entscheidung, das ganze Leben gegen Kapitalismus und Imperialismus (und damit verbunden: dem falschen Leben darin) einzusetzen, basierte im konkreten neben ihrem luziden Erkennen der kommenden Entwicklung notgedrungen auf einer existentialistischen Position. Sie ist in klarer Form im letzten Brief von Holger Meins ausgedrückt, der in der Sprache dieser Zeit: »Mensch oder Schwein« oder »Dem Volke dienen« über die existentialistische Grundlage jedes Kampfes zwischen Herrn und Sklave, zwischen Herrschaft und Befreiung die Kraft mobilisierte, für eine Sache einzustehen, die wichtiger war als die eigene Person.
Der revolutionäre Kampf ist eine materialistische Arbeit auf existenzialistischer Grundlage. Das gilt generell. In der BRD um so mehr, als der Klassenkampf in eine rein ökonomische Interessenssphäre eingeschlossen und damit entpolitisiert und eingefangen wurde. Erst der bewaffnete Kampf hat das wieder aufgebrochen. Auch das ist sein historischer Verdienst: Mit dem Auftreten der Machtfrage trat das grundsätzlich Andere gegenüber dem Kapitalismus wieder in die Realität der Menschen, auch in den Metropolen. Es war nicht nur die Sicht der RAF, der Bewegung 2. Juni oder der Revolutionären Zellen, dass dieses »Andere«, das seine allgemeine Benennung in der Bestimmung »Kommunismus« findet, wirkungsmächtig aus seiner Unterdrückung herausgeholt, ja, befreit werden musste. Es war in der Tendenz der Zeit, in den antikolonialen Kämpfen, in den Kämpfen der Roten Brigaden, der antifranquistischen, bewaffneten Gruppen in Spanien und weiterer Kämpfe und es war im Erkenntnisrahmen einer damals in vielem noch unkorrupten Intelligenz, als besonderes Beispiel sei hier nur genannt: Pier Paolo Pasolini, insbesondere, weil er nicht zu den Protagonisten des bewaffneten Kampfes gehörte. Für ihn war der Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdrang, der alle kulturellen Eigenständigkeiten überrannte und assimilierte, der alle Werte außerhalb seiner, also jener von kaufen und verkaufen, von produzieren und konsumieren, vom Tisch der Menschheit am Wegwischen war und damit: vernichtete. Diese allumfassende Vernichtung eigenständiger Werte und Kulturen war für ihn: Faschismus. Ein Faschismus, der bedrohlicher ist als der alte Faschismus, insoweit er von diesem nicht mehr erkannt wird, weil er zur inneren Normalität des Menschen wird, jenes Menschen, der sich freiwillig in der Konsumgesellschaft einfindet und: aufgibt. Pasolini nannte das eine anthropologische Mutation. [12]
Es war dieses damals noch als politische Erkenntnis in Teilen der Gesellschaft vorhandene, aus der Rudi Dutschke am Grab von Holger Meins dann spontan ausrief: »Holger, der Kampf geht weiter«. Es kam aus der Erkenntnis, dass wir den Antagonismus verteidigen müssen, jenen Antagonismus, der in der kapitalistischen Gesellschaft trotz seiner Existenz vergraben, unkenntlich gemacht oder eben vernichtet werden soll, jedenfalls in seiner subjektiven Seite. Denn objektiv ist er nicht liquidierbar.
Vor was stehen wir heute? Das kapitalistische System hat sich seit dem Tod von Holger Meins bis heute 50 Jahre fortgesetzt. Heute ist in den »Demokratien«, die damals so hochgehalten wurden, auch der offene, der alte Faschismus wieder zur Realität geworden. Auch der Krieg ist wieder zur Realität geworden und längst in die Normalität des »demokratischen Systems« integriert. Systematisch wird die Menschheit verroht. 40 Tausend Tote im Mittelmeer sind »normal« geworden. 40 Tausend Tote in Gaza, am Ende werde doppelt so viele sein, wenn die Trümmer weggeräumt werden, sind »normal« (als Reaktion auf ein Massaker, das sich im Rechtfertigungskreislauf selbst wieder auf jahrzehntelange zerstörerische Lebensgrundlagen beruft). Das Kämpfen des Westens bis zum letzten Ukrainer ist »normal«. Es ist die Normalität der Barbarei. Sie lässt sich an Beispielen um ein Vielfaches ergänzen und über die Rückwirkungen einer zerstörerischen Produktion auf Klima und Lebensbedingungen komplettieren. Das Existentielle, für das Holger Meins und die RAF stand, ist längst ein allgemeiner Bestandteil der Lebensbedingungen der Menschheit geworden und doch zeigt sie sich paralysiert.
Der Kapitalismus ist global und totalitär geworden. Anstelle von Subjekten herrscht überall seine totalitäre Struktur, der alle unterworfen sind. Insoweit halte ich es für zwingend, heute von der Herrschaft einer Nichtsubjektivität zu sprechen [13], der längst inzwischen auch jene unterworfen sind, die diese Globalisierung des Kapitalismus mit vorangetrieben haben. Trumps »Make America Great Again« ist die Parole jenes Teils der Elite, die besonders unter den Folgen der Globalisierung gelitten haben. Die Rückeroberung ihrer Stellung in der Welt ist nicht immanent innerhalb der kapitalistischen Ökonomie zu bewältigen. Sie müssen das verselbständigte System neu ordnen. Aber neu ordnen bedeutet nichts anderes als: Krieg führen. Das ist die Zukunft, vor der wir stehen.
Das war die erkennbare Zukunft, vor der sich die RAF und die anderen bewaffneten Gruppen gestellt hatten mit allem, was sie konnten.
Anmerkungen
[1] Siehe dazu u.a. den Film, Starbuck, von Gerd Conradt, hier ab Minute 1:17:30
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Leningrader_Blockade, a.a. a. Stelle
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Schmidt#Ausbildung_und_Wehrdienst
[4] Jüdische Allgemeine, 23.12.2018, Benjamin Ortmeyer
[5] Ebenda. 19 Flugreisen wurden der Ehefrau von Kapler durch die Bundesregierung bezahlt, die ihn schließlich per PKW aus dem Krankenhaus in die BRD brachte. Neben Schmidt hatten sich zuvor Willy Brandt und der Bundespräsident für Kapler eingesetzt.
[6] Heinrich Breloer, Todesspiel, 2-teiliges Dokudrama, 1997
[7] Siehe dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Herrschaft, Knechtschaft, Bewusstsein der Freiheit, Eingeleitet von Thomas Rudhof-Seibert, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2023
[8] Straffreiheitsgesetz 20. Mai 1970, Bundesgesetzblatt Nr. 45/1970
[9] Hochschulrahmengesetz 30. Januar 1976
[10] Radikalenerlass vom 28. Januar 1972, Am Ende wurden insgesamt 1,4 Millionen Personen überprüft. Man könnte auch sagen: Die alten Nazis im Verfassungsschutz und im MAD konnten ihre besondere Profession, das Verfolgen von Linken, nun auch offiziell legitimiert forsetzen.
[11] Willi Baer/Karl-Heinz Dellwo, Bibliothek des Widerstands Band 22: Wir wollen alles – Der Häuserkampf in Hamburg, LAIKA-Verlag Mai 2023
[12] Siehe dazu als umfangreiche Quelle: Vol. 1: PASOLINI BACHMANN | Gespräche 1963-1975 || Vol. 2: BACHMANN PASOLINI | KOMMENTAR | FABIEN VITALI, Werkausgabe zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini, Galerie der abseitigen Künste Hamburg, Hamburg 2022, Herausgegeben von Fabien Vitali und Gabriella Angheleddu, aber auch, in Kurzform die Graphic Novel: Davide Toffolo, Interview mit Pasolini, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2024
[13] Siehe dazu: CRISIS AND CRITIQUE Vol 9, Issue 2, 25-11-2022: Karl-Heinz Dellwo: Is Politics Still Possible Today? https://www.crisiscritique.org/
auf deutsch: https://www.bellastoria.de/texte/nonpolitics/ist-politik-heute-noch-moeglich
Das Manuskript der Rede wurde Bonustracks freundlicherweise von Karl-Heinz Dellwo überlassen, sie findet sich auch auf Bella Storia Film.