„Die Zukunft Syriens wird von den Syrern und niemandem sonst entschieden“.

Interview mit Leïla Al-Shami

Leïla al-Shami und Robin Yassin-Kassab sind die Autoren von ‘Burning Country, in the heart of the Syrian revolution’ (1), einem wichtigen Buch, in dem sie über die ersten Jahre der Revolution und die Fülle der Erfahrungen mit der Selbstorganisation der Bevölkerung berichteten. Wir hatten sie 2016 und 2019 interviewt. Das folgende Interview ist kein eigenständiges Interview, sondern mehr eine Art Addendum zu den Vorherigen, das Sie einfach noch einmal lesen müssen, um zu verstehen, worüber die Autoren sprechen. (Vorwort Lundi Matin)

Frage Lundi Matin: Als wir Sie 2019 interviewten, sagten Sie, dass das syrische Volk mit mehreren Faschismen konfrontiert sei, dem des Regimes natürlich, aber auch dem einiger islamistischer Rebellengruppen wie Hayat Tahrir al-cham (HTC). Glauben Sie, dass sich HTC seitdem in irgendeiner Weise verändert hat, zumindest strategisch?

Antwort Leïla Al-Shami: HTC hat sich im Laufe der Jahre ziemlich dramatisch verändert. Es hat sich von seinen Wurzeln in Al-Qaida, die eine transnationale dschihadistische Organisation war, entfernt und sich in ein syrisch-nationalistisches islamistisches Projekt verwandelt. Joulani scheint ein Pragmatiker zu sein. Er hat viel Erfahrung mit dem Aufbau von Regierungsinstitutionen, da er Idlib seit 2017 durch die ‘Syrische Heilsregierung’ regiert. Die Regierung in Idlib bestand aus zivilen Technokraten, die vom Schura-Rat ernannt wurden, anstatt demokratisch gewählt zu werden, und es gab keine Frauen in Führungspositionen. Sie waren für die Erbringung von Dienstleistungen, die Verteilung humanitärer Hilfe in Abstimmung mit internationalen Organisationen und die Gewährleistung der Sicherheit zuständig. Sie taten dies unter sehr schwierigen Bedingungen und Idlib und seine Wirtschaft waren stabiler als anderswo in Syrien, so dass sie eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung genossen. Dennoch blieben sie eine autokratische und autoritäre Kraft. Während die Menschen in Idlib mehr Freiheiten hatten als in den vom Regime kontrollierten Gebieten, erlebten wir in Idlib im Laufe der Jahre immer wieder Proteste gegen das HTS-Regime, weil Oppositionelle zum Schweigen gebracht, Kritiker inhaftiert und über Misshandlungen in den Gefängnissen berichtet wurde.

Seit dem Sturz Assads bemüht sich Jolani offensichtlich darum, sich eine Legitimität im Volk und auf internationaler Ebene zu verschaffen. Er hat den Minderheiten – Gemeinschaften (sowohl religiösen Minderheiten als auch Kurden) die Hand gereicht, um sie hinsichtlich ihrer Zukunft im Land zu beruhigen. Er erließ Dekrete, die jegliche Einmischung in die Kleiderordnung von Frauen untersagten. Viele Syrer fühlen sich durch diese Maßnahmen beruhigt, aber viele sind auch vorsichtig. Man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Übergangsregierung handelt. Die Frage ist nun, inwieweit andere Akteure, einschließlich progressiver und demokratischer Kräfte, an der Zukunft Syriens beteiligt sein werden. Und inwieweit eine weitere Volksbewegung von unten entstehen wird, um die Machthaber in die Pflicht zu nehmen und weitere Fortschritte in Richtung der ursprünglichen Ziele der Revolution zu machen.

Lundi Matin: Wie erklären Sie sich den plötzlichen Sturz des Assad-Regimes? Einige sehen darin den Sieg einer bewaffneten und organisierten Miliz, die von der Türkei unterstützt wird und von der Schwächung der Hisbollah profitiert hat, andere sehen darin die Fortsetzung und Reaktivierung des revolutionären Prozesses und betonen die Bedeutung der lokalen und volksnahen Erhebungen für diesen Sieg. Erleben wir einen Regimewechsel oder die Passage einer entscheidenden Etappe in einem längeren revolutionären Prozess? 

Leïla Al-Shami: Ich sehe beides. Der Sturz des Regimes war ein entscheidendes Ereignis. Er markiert das Ende einer schrecklichen Ära der Brutalität in der Geschichte Syriens. Er bietet auch eine großartige Gelegenheit, den zivilen Aktivismus wiederzubeleben, und kann zur Fortsetzung des revolutionären Prozesses führen. Heute strömen Syrer aus der ganzen Welt nach Syrien zurück. Viele dieser Revolutionäre haben ihre Träume nie aufgegeben und auch viel aus ihrer Erfahrung als Exilorganisation und dem Kontakt mit verschiedenen politischen Kulturen gelernt. Bereits jetzt entstehen viele Initiativen, es gibt nun Möglichkeiten und Hoffnung, die die Syrer seit vielen Jahren nicht mehr hatten, trotz der vielen Herausforderungen, die wir noch zu bewältigen haben.

Lundi Matin: Vor einigen Jahren haben Sie einen wichtigen Text ‘Der Antiimperialismus der Dummköpfe’ (2) geschrieben, in dem Sie das Scheitern einer gewissen Linken anprangerten, die hartnäckig versuchte, nichts von der syrischen Revolution zu verstehen, indem sie sie in ihre verstaubten und daneben liegenden Kategorien übersetzen wollte. Dennoch stellt sich heute die Frage, in welchem geopolitischen Strudel sich Syrien befindet und wie sich dies auf die aktuelle und künftige politische Situation auswirken könnte.

Leïla Al-Shami: Meine größte Sorge für die Zukunft Syriens ist die Einmischung ausländischer Staaten, insbesondere Israels und der Türkei. Diese Staaten stellen eine enorme Bedrohung für die Zukunft des Landes dar. Aber die Syrer werden den Imperialismus weiterhin bekämpfen, so wie sie in den letzten Jahren den Imperialismus Russlands und des Iran bekämpft haben. Vielleicht werden sie jetzt, da die Imperialismen, denen sie gegenüberstehen, bei einem Teil der „antiimperialistischen“ Linken nicht beliebt sind, mehr Unterstützung für ihren Kampf erhalten. Beim Kampf gegen den Imperialismus sollten wir die Syrer vor Ort jedoch nicht ausblenden. Wir sollten ihnen zuhören und von ihnen lernen. Geopolitik ist nur ein Teil der Geschichte. Letztendlich wird die Zukunft Syriens von den Syrern und niemandem sonst entschieden. Das haben uns die letzten zwei Wochen gelehrt. Deshalb müssen die Menschen mit den fortschrittlichen und demokratischen Kräften vor Ort solidarisch sein, um sicherzustellen, dass sie mehr Macht haben und ein Gegengewicht zu den vielen konterrevolutionären Kräften bilden können, mit denen wir konfrontiert sind.

Lundi Matin: In den 13 Jahren, die uns vom Beginn der syrischen Revolution trennen, sind zahlreiche politische Experimente aufeinander gefolgt, haben sich bekämpft und sind ineinander verwoben. Da sind zunächst die lokalen Räte und ihre Koordinationskomitees, die sich angesichts der Notwendigkeit, die Repressionen des Regimes und ihre Aufgabe oder Flucht aus ganzen Landesteilen zu überleben, auf horizontale Weise selbst organisieren. Es gibt Rojava, das versucht, den von der PKK befürworteten, aber auch von ihr kontrollierten Kommunalismus zu organisieren. Und es gibt natürlich den Islamischen Staat, also eine faschistische Theokratie. Jedes dieser Experimente, ob vernichtet oder nur mit Mühe am Leben erhalten, enthält ein Imaginäres, ein Regime des Begehrens und eine Interpretation der Welt, die zwangsläufig überlebt haben. Genauso wie die Pariser Kommune 150 Jahre später noch immer die Vorstellungswelt beeinflusst. Was ist Ihrer Meinung nach davon heute in Syrien übrig geblieben? Halten Sie einige davon für reaktivierbar und wünschenswert, oder erleben wir eine völlig neue Situation?

Leïla Al-Shami: Wir befinden uns erst in den ersten Tagen des Zusammenbruchs des Regimes, aber die Syrer organisieren sich bereits. Die revolutionäre Erfahrung mag zerschlagen worden sein, aber sie ist nie gestorben. Sie lebt in den Syrern weiter, die sie erlebt haben, und sie hat uns für immer verändert. Die Erfahrungen der lokalen Koordinationskomitees und der lokalen Räte in ganz Syrien sind lehrreich. Dasselbe gilt für die Erfahrungen mit den von den Kurden gehaltenen Gebieten in Nordsyrien, die bis heute fortgesetzt wurden, obwohl sie nun bedroht sind. Ich denke, wir werden in den kommenden Monaten sehen, wie die Syrer dieses Erbe wiederbeleben und fortführen, die Frage ist nur, ob die Welt sie dabei unterstützen wird.

Dieser Beitrag wurde am 16.12.2024 auf Lundi Matin veröffentlicht und von Bonustracks ins Deutsche übersetzt. 

Anmerkungen der deutschen Übersetzung

  1. Das bezeichnenderweise bis heute keinen deutschen Verlag gefunden hat
  2. Deutsch hier zu finden https://de.liberpedia.org/Leila_Al-Shami/Der_%E2%80%9AAntiimperialismus%E2%80%98_der_Idioten
  3. Weitere Übersetzungen von Leïla Al-Shami ins Deutsche fanden sich in der ‘Sunzi Bingfa’:  Assads Pyrrhussieg (2021) 

https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/07/26/assads-pyrrhussieg/

Der Aufbau einer alternativen Zukunft in der Gegenwart: Das Beispiel der syrischen Kommunen
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/03/22/der-aufbau-einer-alternativen-zukunft-in-der-gegenwart-das-beispiel-der-syrischen-kommunen/