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Das Telemeeting am Dienstagabend begann mit einem Kommentar zum Artikel „Der digitale Zwilling“, der in der demnächst erscheinenden Ausgabe 56 unserer Zeitschrift veröffentlicht wird.
Der Unterschied zwischen einem klassisch verstandenen Modell und dem digitalen Zwilling liegt darin, dass ersterer statisch ist, während letzterer dank der ständigen Rückkopplung zwischen der physischen und der digitalen Welt dynamisch ist. Eines der ersten dynamischen Modelle, das mit Hilfe des Computers entwickelt wurde, ist Mondo 3 von Jay Forrester, ein Projekt, das vom Club of Rome in Auftrag gegeben wurde und zur Ausarbeitung des Berichts über die Grenzen der Entwicklung (1972) diente.
Die Digitalisierung der Welt, die durch die zunehmende Rechenleistung von Computern und die enorme Menge an Daten realisiert wird, die von überall verstreuten Sensoren gesammelt werden (Big Data), ermöglicht die Entwicklung digitaler Modelle von beliebigen Objekten oder Prozessen. Der virtuelle Zwilling verändert sich ständig auf der Grundlage von Inputs aus der physischen Realität, an die anschließend Outputs gesendet werden; durch die Verbindung mit Systemen der künstlichen Intelligenz kann er wiederkehrende Muster erkennen, die Menschen nicht erkennen können. Ein Formel-1-Auto ist mit Hunderten von Sensoren ausgestattet, deren Signale an die Kontrollzentren gesendet werden und die Erstellung eines digitalen Modells ermöglichen. Dieses Modell überwacht den Zustand des Wagens und vergleicht ihn mit den Daten früherer Rennen, so dass sich vorhersagen lässt, ob bestimmte Signale statistisch gesehen zu Ausfällen führen können. Die Europäische Kommission entwickelt Destination Earth (link.d.Ü.) einen „digitalen Zwilling“ des Planeten Erde, mit dem Ziel, die sogenannte „Klimakrise“ zu verhindern. Daten sind im Informationszeitalter ein kostbares Gut, das die Staaten wohl kaum in einem Pool zusammenfassen werden.
General Electric war eines der ersten großen Unternehmen, das ein digitales Modell von Turbinen einführte, um deren Zustand ständig zu kontrollieren. Die kontinuierliche Ware, von der Jeremy Rifkin in seinem Essay Das Zeitalter des Zugangs spricht. Die New Economy Revolution schafft eine dauerhafte Verbindung zwischen Verkäufer und Käufer. Der digitale Zwilling ist also ein Teil einer viel umfassenderen Revolution, die die kapitalistische Gesellschaft von Grund auf untergräbt.
Anschließend gingen die Teilnehmer auf die militärische Lage in Syrien ein, wo das Regime von Bashar al-Assad plötzlich gestürzt wurde. Nach den vorliegenden Informationen hat die große sunnitische Formation unter der Führung von Tahrir al-Scham (HTS) Damaskus eingenommen, ohne auf Widerstand seitens der Armee zu stoßen. Diese Milizen werden hauptsächlich von der Türkei, aber auch von einigen Golfstaaten unterstützt. Sie sind Stellvertreter, aber wie alle „ Mittelsmänner “ könnten sie sich selbständig machen.
Laut Britannica Online ist ein Stellvertreterkrieg „ein militärischer Konflikt, bei dem eine oder mehrere dritte Parteien direkt oder indirekt einen oder mehrere staatliche oder nichtstaatliche Kombattanten in dem Versuch unterstützen, den Ausgang des Konflikts zu beeinflussen und dadurch ihre eigenen strategischen Interessen zu fördern oder die des Gegners zu schwächen. Dritte Parteien in einem Stellvertreterkrieg nehmen, wenn überhaupt, nicht in nennenswertem Umfang an den eigentlichen Kampfhandlungen teil. Stellvertreterkriege ermöglichen es Großmächten, eine direkte Konfrontation miteinander zu vermeiden, während sie gleichzeitig um Einfluss und Ressourcen konkurrieren“.
Im Nahen Osten gibt es eine unentwirrbare Verflechtung von Stellvertreterkriegen. Historisch gesehen werden Partisanen für imperialistische Interessen benutzt, egal ob es um Geld oder Glauben geht („Marxismus oder Partisanentum“, 1949). Die Israelis nutzen die chaotische Situation in Syrien aus, um die Golanhöhen einzunehmen und das, was von den militärischen Stellungen der syrischen Armee übrig geblieben ist, zu bombardieren. Die syrischen Kurden, die von den USA unterstützt werden, laufen Gefahr, zwischen der türkischen Armee im Norden und den pro-türkischen Milizen im Süden eingekeilt zu werden. Die Situation in Syrien nach Assad ist keine Lösung für den Bürgerkrieg, der mit dem Arabischen Frühling begann, sondern ein weiteres Kapitel im laufenden Weltkrieg. Man könnte sagen, dass Syrien heute die Welt ist, mit Bündnissen mit variabler Geometrie und sich überlagernden imperialistischen Interessen, die sich auf dem Territorium gegenüberstehen.
Die Krise des Zentrums des Kapitalismus, d.h. der Vereinigten Staaten, wirkt sich auf den Rest der Welt aus. Die empfindlichen Gleichgewichte verschieben sich, diejenigen, die davon profitieren können, stürzen diejenigen ins Chaos, die es nicht können.
In Rumänien gewann ein pro-russischer Kandidat die Wahlen, und das Verfassungsgericht erklärte die erste Wahlrunde für ungültig. In Georgien gibt es ein andauerndes Tauziehen zwischen dem Westen und Russland, das die Widerstandsfähigkeit des politischen Systems auf die Probe stellt. In Südkorea gab es einen Putschversuch. Frankreich hat mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen, die sich rasch in eine politische Krise verwandelte, und dasselbe geschieht in Deutschland, das mit Streiks und Regierungskrisen zu kämpfen hat. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, diese Situationen werden sich nur verallgemeinern.
Auf der einen Seite ist das System nicht in der Lage, sich als solches zu replizieren, auf der anderen Seite steht der Gesellschaft ein enormes Potenzial zur Verfügung, zumindest vom technologischen und industriellen Standpunkt aus. In dem Artikel „Intelligenz in Zeiten von Big Data“ haben wir das Beispiel von WorkIt angeführt, einer von IBM (Watson) entwickelten Anwendung, an deren Realisierung die Mitarbeiter von Walmart, dem weltweit größten Arbeitgeber, beteiligt waren. Diese Anwendung ermöglicht es den Arbeitnehmern, auf Gewerkschaftsinhalte zuzugreifen, Antworten auf häufig gestellte Fragen zu finden und miteinander in Kontakt zu treten. Diese Umwälzungen, die sich in allen Bereichen vollziehen, müssen aufmerksam verfolgt werden: Der Staat verliert an Kraft, das System zerfällt, aber es herrscht nicht nur Chaos, sondern es gibt auch Anzeichen für eine zukünftige soziale Organisation. Das System ist zunehmend integriert, und die Proletarier können die Produktionsmittel gegen die Kapitalisten selbst einsetzen: Die Arbeiter von UPS waren die ersten, die gezeigt haben, dass die Verbindung von territorialer Koordination und modernen Werkzeugen (Mobiltelefone, Internet, GPS-Navigationsgeräte usw.) einen Unterschied machen kann. Occupy Wall Street hat den Freedom Tower gebaut, ein Sende- und Empfangsgerät, das auf einem Mesh-Netzwerk basierte. All dies sind Essays über die Organisation der Zukunft.
Heute investieren Finanziers aus dem Silicon Valley Milliarden von Dollar in die Entwicklung von „bewussten“ Maschinen. Im Zuge der Entwicklung von Systemen der künstlichen Intelligenz sind in letzter Zeit viele Ideologien entstanden: Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Effektiver Altruismus (EA) und Longtermismus. Es gibt Projekte, die darauf abzielen, Humanoide zu bauen, die ununterbrochen arbeiten, ohne krank zu werden und ohne zu streiken. Vor einiger Zeit schlugen einige Entwickler von großen Sprachmodellen (LLM) vor, das Training von KI-Systemen (wie GPT-4) für mindestens sechs Monate auszusetzen, da sie über die sozialen Auswirkungen besorgt waren, die die Entwicklung haben würde. Wieder einmal wird die Maschine dem Menschen entgegengesetzt; dieser Ansatz ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
Gegen diejenigen, die meinen, der Mensch unterscheide sich von der Materie, aus der das übrige Universum besteht, sei auf das verwiesen, was Bordiga sagte: „Wir brauchen das Rätsel nicht zu lösen, ob die denkende Spezies oder die passive Materie die Oberhand gewinnen soll: beide sind aktiv, beide arbeiten zusammen, sie sind integraler Bestandteil eines einzigen Systems. Das alte Rätsel hat sich in einer neuen und überlegenen Konzeption aufgelöst“ (Tagung in Florenz, 20. März 1960). Die Angst vor einer möglichen Autonomisierung der Maschine ist darauf zurückzuführen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die tote Arbeit über die lebendige Arbeit dominiert. Die sozialen Netzwerke kennen beispielsweise unsere Vorlieben besser als unsere Familie oder unsere Freunde, und deshalb beanspruchen die meisten Nutzer das Recht auf Privatsphäre. Wir verteidigen nicht das Eigentum, in welcher Form auch immer, wir fordern vielmehr seine Überwindung. Die nächste Revolution, die kommunistische Revolution, wird den Gegensatz zwischen Mensch und Maschine aufheben, wie den zwischen Mensch und Mensch.
Heute sind uns Maschinen einfach deshalb fremd, weil wir in einer entfremdeten Gesellschaft leben. Da sie „intelligent“ geworden sind, stellen sie eine Gefahr für die Spezies dar, wenn sie in der Kriegsführung eingesetzt werden. Algorithmen kämpfen bereits gegen andere Algorithmen, kybernetische Systeme prallen ohne Rücksicht auf „Kollateralschäden“ aufeinander. Die Filmindustrie hat mehrere Filme über die Vermischung von Mensch und Maschine und ihre katastrophalen Folgen produziert (Matrix, Terminator usw.). Wie viel Science-Fiction-Kino ist unwirklich und wie viel ist eine Beschreibung der Realität?
Veröffentlicht am 10. Dezember 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.