Cesare Battisti
Lange her sind jene Zeiten, als es alleine in Westberlin mehr als ein Dutzend Knastgruppen gab. Aus der Unmittelbarkeit des Zusammenstoßes ‘der Bewegung’ mit dem Staat und seiner gewaltförmigen Verfasstheit ergab sich das angesichts von aberhunderten Verfahren gegen Menschen aus der Bewegung und Dutzenden von gefangenen Gefährt*innen als unmittelbare Notwendigkeit. Lange her auch jene rebellischen Zeiten in den Knästen, in denen es ständig Revolten in den Haftanstalten gab, sich dem Hungerstreik der Gefangenen aus der Guerilla 1981 zugleich hunderte sogenannte soziale Gefangene aus dem “Normalvollzug” mit eigenen Forderungen anschlossen.
Leider auch völlig in Vergessenheit geraten der jahrelange Kampf der inhaftierten Frauen gegen den neuen Frauenknast in Plötzensee der u.a. die Erfahrungen aus der Isolationshaft für die politischen Gefangenen auf die Konzeption eines neuen generalisierten Knastregimes für hunderte “soziale” Gefangene übertrug. Sichtblenden an den Zellenfenstern, Kleingruppenisolation, ständige Überwachung und Auswertung jeglicher sozialen Regung. Noch Jahre nach der Verlegung von der Lehrter Straße in die “Plötze” haben Gruppen von inhaftierten Frauen mit Hungerstreiks, Revolten und anderen Aktionen gegen das neue Knastregime gekämpft. Und wie viele Male fanden sich wie selbstverständlich hunderte von solidarischen Menschen aus der autonomen und antiimperialistischen Szene des Tages mit Parolen und Musik aus dem Lautsprecherwagen und des Nachts mit
Feuerwerk an den Knastmauern dort in diesem Niemandsland an der Stadtautobahn ein.
Nun sitzen wieder rund ein Dutzend Menschen aus der antifaschistischen Szene sowie Daniela Klette, eine Gefährtin aus den ehemaligen “illegalen Zusammenhängen” im Gefängnis, nach etlichen weiteren wird gefahndet. Ohne Frage werden alle, die es ernst meinen mit dem Widerstand gegen das System, nicht umhin kommen, sich wieder grundsätzlich mit dem sozialen Terrain des Knastes zu befassen.
“Wohin lassen wir uns treiben von Angst und Verzweiflung? Ich habe selbst in den letzten Wochen erlebt wie diese es vollbringen Geist und Körper zu lähmen, wie sie mich dazu bewegten die Hoffnung an den Nagel zu hängen und mich abzuwenden vom Leben. Doch dann habe ich an dem Ort, wo seit Monaten kein Sonnenstrahl hinfällt eine zarte Pflanze keimen sehen, wissend der Winter wird weichen. An ihrer Seite musste ich mir eingestehen, dass – sei dieser Ort noch so Hölle auf Erden – dort Blumen gedeihen können, ob in Mauerritzen oder in meinem Sein.”
Maja – Erklärung in der Vorverhandlung am 21. Februar 2025 in Budapest
Ein Gefangener, der wie Daniela Klette “aus der Zeit gefallen ist”, weil die Gründe seiner Inhaftierung etliche Jahrzehnte zurückliegen, ist Cesare Battisti, ehemaliger Militanter der “Proletari Armati per il Comunismo”, den sie in ein Loch geworfen haben, aus dem er zu Lebzeiten nicht mehr herauskommen soll. Eine weitere Übersetzung einer seiner Briefe aus dem Gefängnis.
S.L.
Die auf ein Laken reduzierte Matratze erträgt Tschechows Humor schlecht, ich schließe das Buch und denke wieder an die Leere. An die Gefängnisse, die ständig überfüllt sind, weil man nicht weiß, wohin mit all den eingelagerten Körpern. Es ist eine zusätzliche Überfülle, und doch herrscht gerade hier die Leere. Wir sind Schatten, wir besetzen den Raum nicht, wir verdunkeln ihn kaum. Jeder versucht auf seine Weise, das, was von ihm übrig geblieben ist, unter dreihundert Tropfen Valium, in dem Schluck Methadon, der von zehn anderen Mündern erbrochen wird, auszulöschen. Oder, wie Hasnawi gestern, als er mit einer Rasierklinge das Fentanylpflaster mit einem Stück Haut seines schlafenden Zellengenossen aufgeschnitten hat. Das ist das Gefängnis, die Parenthese, an die wir immer wieder glauben wollen, während es angemessener wäre zu sagen, dass die wirklichen Parenthesen die immer kürzeren sind, die die meisten von uns auf freiem Fuß verbringen.
Hasnawi ist ein guter Kerl, er hatte einen Darmverschluss, weil er etwa zwanzig Batterien verschluckt haben soll und diese seinen Darm durchlöchert haben. Tausendmal am Tag läuft er durch den Korridor und sucht nach Tabletten und allem, was er sonst noch schlucken kann. Er kommt zu mir auf der Suche nach Zucker für die nächste Ladung Schnaps. Ich muss ihm schon hundertmal gesagt haben, dass ich keinen Zucker verwende, aber er vergisst es immer und kommt wieder und fragt.
„Wie ist die Sache mit dem Pflaster gelaufen?“, frage ich ihn, um ihn nicht im Regen stehen zu lassen.
Hasnawi Miene hellt sich auf, die Operation wurde vielfach kommentiert und sogar mit Bewunderung aufgenommen.
„Er schlief tief und fest, das Pflaster befand sich auf seiner Schulter und war gut sichtbar. Ich habe versucht, es langsam abzuziehen, aber es ließ sich nicht lösen, also habe ich die Rasierklinge benutzt.“
„Aber sie mussten ihm Medikamente geben, er hat geblutet.“
„Nun ja, meine Hand hat ein bisschen geblutet, aber er hat es nicht einmal bemerkt, wie man sieht, brauchte er das Pflaster nicht mehr. Aber du, wie kommst du eigentlich ohne Zucker aus?“
Er geht ein wenig entnervt. Aus dem Buch, das auf der Matratze liegt, höre ich Tschechow murmeln: „Ich habe schon so lange keinen Champagner mehr getrunken“. Und ich sehe, wie er das Glas an die Lippen führt und trinkt. Wenige Augenblicke später nimmt seine Olga ihm das leere Glas ab und stellt es auf den Nachttisch. Er rollt sich auf die Seite, schließt die Augen und seufzt. Im nächsten Augenblick hat er aufgehört zu atmen. Knackig bis zum Schluss; aber wer weiß, ob Tchechow wirklich gehen wollte?
Ich verweile noch eine Weile und betrachte diesen Tag wie hundert andere auch. So lange, bis einer nach dem anderen vergeht, aber wenn ich sie alle zusammen betrachte, ergeben sie nicht einen einzigen Tag. Die Scherze der Zeit, nach so vielen Hauskalendern sollte ich an sie gewöhnt sein. Stattdessen bin ich bei jedem Blattwechsel überrascht, eine weitere Woche ist vergangen, oh mein Gott, es war gestern!
Selbst bei den Zeitungen komme ich durcheinander, es kommt vor, dass ich die letzten Ausgaben auf einmal bekomme. Ich breite sie alle auf dem Bett aus und sortiere sie dann nach abnehmendem Datum; ich möchte mit meinen Händen durch die Zeit blättern. Die Daten oben auf der Seite lügen nicht, aber die Nachrichten sind alle gleich. Es ist deprimierend. Ich drehe die Reihenfolge um, mische sie, schlage eine zufällige Seite auf und lese die Schlagzeile eines Krieges. Es ist ein anderer Krieg, aber die Opfer sind dieselben wie gestern und morgen. Nur die Namen ändern sich, und um zu spüren, wie die Zeit vergeht, muss ich die Todesanzeigen lesen. Oder die Seiten, die ich gestern geschrieben habe und die mir heute bedeutungslos erscheinen.
„Gesegnet seid ihr, die ihr gerne schreibt“, höre ich von Zeit zu Zeit von einer Seele, die etwas Frieden sucht. Ich habe keine Lust, ihn zu enttäuschen, indem ich über die Qualen spreche, zwei Gedanken aneinanderzureihen. Von der Erniedrigung oder der unerträglichen Hilflosigkeit, wenn ich bei einer Suche vor meinem zertrümmerten PC stehe. Von den neu zu erstellenden Seiten und der rückläufigen Zeit. Das kann ich denen nicht sagen, die mich mit den hoffnungsvollen Augen eines Bettelkindes ansehen und deren Hände zittern. Obwohl es hier nicht darauf ankommt, was man sagt, sondern darauf, irgendetwas zu sagen, um die Leere zu füllen.
In der Zwischenzeit dreht sich die Welt und spuckt Schändlichkeiten aus. In dem Moment, in dem sie geschehen, sind die heutigen Ereignisse bereits Nachrichten. Selbst in einer Zelle glauben wir, ständig verbunden zu sein, obwohl dieser Glaube nicht ganz dasselbe ist wie das Leben in der Welt. Unser Leben hinter Gittern fließt auseinander, während das Fernsehen uns mit verheerenden Nachrichten bombardiert, die wir als freie und normale Menschen aufnehmen und manchmal sogar mit aufrichtiger Leidenschaft kommentieren. Verbrannt von den Flammen, die sie verschlingen, schlucken wir die Welt, die aus den Fugen gerät, und suhlen uns in der bürgerlichen Verantwortung, bis die trübe Vergessenheit der Gefangenschaft uns sagt, dass nichts von dem, was geschieht, uns wirklich betrifft.
Für den Geist in Ketten gibt es kein so großes Unglück, das ihn von den Qualen der verwehrten Freiheit ablenken könnte. Doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte unser Zustand sogar von Vorteil sein, um klar zu sehen: Außerhalb der Welt, d.h. mit dem Abstand, den das Gefängnis vorschreibt, sollten wir einen privilegierten Blick auf die globale Komplexität haben. Aus dem ungehinderten Fluss des Lebens heraus sollten wir in der Lage sein, die von den Veränderungen gezogenen Linien zu verfolgen. Und da wir die Zeit auf unserer Seite haben, die nur das Gefängnis zu stoppen vermag, sollten wir jeden Moment, in dem die Dinge geschehen, besitzen, um zu wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Aber wir sind Gefangene einer Idee von Freiheit, die, obwohl sie vage und veraltet ist, uns weder sehen noch hören lässt, weil sie uns selbst vervollständigt. Sie gibt uns den Grund, uns in der Nacht, bevor wir zusammenbrechen, immer wieder zu sagen, dass es in unserer Welt nur Gefängnisse gibt.
Veröffentlicht im italienischen Original am 20. Februar 2025 auf
Carmilla Online, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.