Breaking the Waves [dt]

Nicolò Molinari

Vorwort [dt. Übersetzung]

Der im Juni 2023 bei Ill Will erschienene Essay ‘Die Wellen brechen’ von Nicolò Molinari widmet sich detailliert einigen zunächst recht unterschiedlichen Aufstandserscheinungen der letzten 5 Jahre. Die Herangehensweise ist weitgehend immanent und die Sprache mitunter sperrig, aber im Ganzen beweist der Autor gute Kenntnisse der revolutionären Alchemie. Man mag einwenden, daß er sehr an der Form der verschiedenen Aufstände hängt, weniger ihren Inhalt behandelt. So werden bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Rentengesetz in Frankreich kaum die Fragen gestellt: Will man tatsächlich 60 statt 62 Jahre arbeiten oder vielleicht doch das Lohnsystem selbst angreifen? Will man die Formen der alten Demokratie vor übermäßigem Autoritarismus bewahren oder doch den bürgerlichen Staat und seine biopolitische Verfügungsgewalt über seine Subjekte im Ganzen verneinen? Tatsächlich verwundert es, dass von radikalen Kräften Frankreichs keine offensive Agitation in diesen Fragen geführt wird, was schließlich ihrer mitunter überbordenden Aktion etwas Substanz verleihen könnte. Aber manches ist verwunderlich an den französischen Radikalen. Ein Text wieder, der explizit in solche Kämpfe eintaucht, ohne ihnen gleich alternative Losungen unterschieben zu wollen, da ein solches Unterfangen doch schnell zum Immergleich der verschiedenen linken Vereinahmungsversuche führen würde, kann nicht anders, als den Abstraktionen der wirklichen Kämpfe zu folgen, während die ersehnte Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse implizit oder angedeutet bleibt und in diesem Essai in der vagen Phrase von der „Schaffung neuer Formen des Lebens“ verschwindet. Und eine offensive Agitation prinzipiellen Inhalts in allen Ehren: Jede Wahrheit braucht zunächst ein gewisses eruptives Moment, um als solche erscheinen zu können. Im Moment der Eruption selbst ist sie wieder unmöglich zu formulieren, da man dann in der Regel Besseres zu tun hat, und so lassen sich erst nach wirklichen Auseinandersetzungen alle Fragen besser stellen, auch die nach dem Sinn und Unsinn von Lohnarbeit oder des Staates. Je stärker der augenblickliche Bruch mit den gegebenen Formen, desto offener wird dabei jemand sein, die überkommenen Kategorien der alten Welt abzulegen und auf Ideen zu kommen, die im akzeptierenden Alltagstrott nur albern wirken. Daher das momentan überwiegende Interesse des revolutionären Alchemismus an strategischen Fragen. Im Zentrum steht dabei weniger, wie überhaupt Brüche mit dem Bestehenden erzeugt werden können, da diese inzwischen an allerlei Orten quasi spontan und momentan besseren Falls ohne politisches Zutun entstehen und vorausgesetzt werden können. Vielmehr geht es darum, wie man ihnen eine gewisse Dauer verleihen kann. In diesem Zusammenhang wird in dem Text neben der „Strategie der Zusammensetzung“ und der „territorialen Basis“ gesellschaftlicher Kämpfe auch die Strategie der „Destitution“ oder vielleicht besser der „Entsetzung“ entfaltet, die insbesondere den Rückzug einschließt, um falsches Märtyrertum zu verhindern und Raum für Pausen zu gewähren und damit Platz zur Besinnung.

Komposition

Kürzlich stellte ein Text von Temps critiques (1) Überlegungen über die generationsübergreifende Zusammensetzung der wachsenden Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich an. Diese begann dort nämlich, in Erscheinung zu treten, während sie bei der Bewegung der Gilets jaunes noch fehlte. Die Autoren beschreiben, was sie eine alliage nennen, eine Legierung der Umstände, die durch die vorübergehende Fusion verschiedener gesellschaftlicher Fragmente herbeigeführt wird. Diese Kategorie erinnert an das von Endnotes benannte ‚Problem der Zusammensetzung‘ in den jüngsten Bewegungen (2). Ganz unterschiedliche junge Leute haben dem Kampf einen neuen Anstoß gegeben, was zu einem kraftvollen Anwachsen des cortège de tête in den Dynamiken der Auseinandersetzung mit der Polizei führte. Die Gewerkschaften verloren dadurch die Kontrolle über die Plätze. Zur selben Zeit hat die Jugend die Rolle von Schul- und Universitätsbesetzungen neu definiert, indem sie die Besetzungen in Operationsbasen für Aktionen verwandelten, die sich dann über die Städte verbreiten konnten. Auf diese Weise änderte sich die Bedeutung der Besetzungen: Indem die Studenten dieser klassischen Praxis ihres Repertoires eine neue Form gaben, dienten sie anders als in vergangenen Bewegungen nicht mehr der Wiederaneignungen der Bildungseinrichtungen, sondern waren in der Lage, sich mit der Bewegung gegen die Rentenreform zu verbinden. In diesem Sinne müssen wir von einer alliage sprechen, die sich sowohl gegen die konzentrierte Macht von Macrons Staat als auch gegen die dezentralisierte Macht der Wirtschaft stellt.

Die konfliktgeladene Form der Mobilisierung im März in Frankreich, die direkte Aktionen und Blockaden bevorzugte, hängt sowohl mit dieser kompositorischen Anordnung der verschiedenen beteiligten Akteure zusammen als auch mit den Schritten Macrons. Der Rhythmus der Bewegung entwickelte sich als Antwort auf Macrons ‚Coup‘, der, indem er sämtliche übliche institutionelle Oppositionsformen wie Gewerkschaften und Parteien überging, einzig die direkte und unvermittelte Opposition übrig ließ. An diesem Punkt konnten die Jugend und alle ‚radikaleren‘ Fraktionen der Bewegung ihren Platz finden und die Mobilisierung aufrütteln, indem sie ein Repertoire von Praktiken ins Zentrum rückten, das sich aus Straßensperren, Streikposten, schwarzen Blöcken und wilden Demonstrationen zusammensetzte.

Ein Text, der am 11. April auf Lundi matin erschien (3), macht drei Momente der Mobilisierung aus: zunächst (als die Reformen von der Regierung noch debattiert wurden) eine vereinte Mobilisierung durch die Gewerkschaften, dann eine Kombination aus Streiks, Blockaden und Streikposten in den Schlüsselbereichen der Wirtschaft, und schließlich, infolge der erzwungenen Verabschiedung der Rentenreform, das starke Anwachsen und die Ausbreitung autonomer, nächtlicher Ausschreitungen sowie Blockaden der Verkehrswege. Den Autoren zufolge hatte die Mobilisierung nur in dieser dritten Phase die Möglichkeit, aus dem reaktiven, ihr von der Regierung vorgegebenen Muster auszubrechen und über die Untiefen der republikanischen Demokratie sowie die vermittelnden Organisierung der Gewerkschaften und Parteien hinweg zu springen, um ansatzweise mit Neugruppierungen zu experimentieren.

Angesichts der Unwirksamkeit der Gewerkschaftsstreiks in der Geschichte (selbst wenn diese zum ‚Generalstreik‘ wurden), nahm die Praxis der Blockade eine größere Bedeutung ein. Diese Blockaden – die Hauptverkehrsstraßen und strategische Orte wie Busbetriebshöfe, Raffinerien und Abfallsortierzentren umfassten – hatten die Tendenz, den Konflikt zu dezentralisieren und die militärische Dynamik der direkten Konfrontation mit der Polizei zu durchbrechen. Das bewahrheitete sich insbesondere, wenn sie unerwartet in verschiedenen Teilen der Stadt aus dem Boden schossen und das Geschäftsleben lähmten. Diese Form eröffnete einer zu Beginn noch komplett vom Gewerkschaftsverband kontrollierten Bewegung einen anderen Rhythmus.

Raum und Ort

Diese Texte deuten an, daß die Organisierung von kämpfenden Blöcken und Aktionen dort am fortgeschrittensten war, wo die Mobilisierung Koordinationsformen entwickelte, die außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens operierten und dabei in direkter Verbindung mit den entschlossensten Teilen der Gewerkschaftsbasis blieben. Das was als ‚Operation Geisterstadt‘ (Ville morte) bekannt wurde, eine Serie von lähmenden Blockaden, die in Rennes, Nantes und Lyon stattfanden, bezeugt das Entstehen einer selbständigen Stoßrichtung innerhalb der Mobilisierung. Diese besitzt die Fähigkeit, eine revolutionäre Subjektivität zu entwickeln, die sich zu einem Widerspruch gegen den Staat kristallisiert und dabei die Vermittlung durch die Gewerkschaften umgeht. Die Herausforderung dieser Subjektivität liegt in der Notwendigkeit, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung, Koordinierung und Intervention innerhalb ihrer Blöcke beständig neu zu erfinden, ohne dabei die Verhärtung und Verkalkung ihrer Taktiken und ihrer Strategie zu erlauben. Andernfalls würden sie für die Polizei leichter durchschaubar, was den Verlust des strategischen Vorteils für die Bewegung bedeutete.

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, müssen die Kämpfe eine territoriale Basis entwickeln – sei es auf der Ebene eines Stadtteils, in einer ganzen Stadt oder sogar regional –, die es ihnen ermöglicht, Wirtschaftskreisläufe und Verkehrsflüsse zu unterbrechen, ohne der Polizei die Wiedergewinnung der Kontrolle über die Infrastruktur und die Bewegungen zu erlauben. Um eine gewisses Effektivitätsniveau zu erreichen, wird eine territoriale Dimension immer wesentlich sein. Obwohl sich beispielsweise die Bildung konfliktgeladener Räume in der Bewegung gegen die Rentenreform auf studentische Besetzungen und Blockaden beschränkte, könnten sie jenseits ihrer rein operativen Funktion auch zu Treffpunkten für eine Reihe verschiedener Subjektivitäten werden und eine Beitrag zum Aufbau eines ethischen und praktischen ‚Wir‘ leisten. Die Kreisverkehrsbesetzungen der ersten drei Monate des Aufstands der Gilet jaunes sind bis heute das fortgeschrittenste Beispiel einer solchen simultanen Kombination von konfliktgeladenen Formen, die in der Lage sind, die Verkehrsflüsse zu unterbrechen, mit einem raumgebenden Impuls, der ein Außen herstellt.

Das Schaffen von Orten gehört zur grundsätzlichen Grammatik aller neueren Bewegungen, von der Bewegung der Plätze in Europa bis hin zum George-Floyd-Aufruhr 2020 in den USA. Infolge der amerikanischen Occupy-Bewegung beriefen sich einige Genossen auf die Kategorie der ‘aufständischen Kommune’ (4), um ansatzweise theoretisch zu fassen, wie diese durch Kämpfe geöffneten Orte mit Formen der gesellschaftlichen Reproduktion außerhalb der Kapitalkreislaufs experimentierten. 2020 wurden von Seattle bis Atlanta ganz ähnliche autonome Zonen geboren und versucht, polizeifreien Gebieten Leben zu geben. (5) Wenn sie auch nicht frei von zahlreichen Schwierigkeiten waren, zeigen diese Erfahrungen doch, daß die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nicht ausschließlich Sache der Polizei ist, da die gegnerische Rolle häufig von Teilen der Bewegung eingenommen wird.

Egal, ob man nun diese jüngeren Bewegungen aus einer marxistischen Perspektive (zum Beispiel der Kommunisierungstheorie) oder einer moralischen betrachtet, bildet die Schaffung von Orten, die sich von der staatlichen oder kapitalistischen Kontrolle des Gebiets abspalten und sich ihr widersetzen, das Element, welches verschiedenen Subjektivitäten den Aufbau einer geteilten und möglicherweise andauernden Grundlage ihrer Existenz ermöglicht. Der Niedergang programmatischer Politik wie auch einer Politik, die durch gesellschaftliche Stellvertretungsmodelle die Integration in die Räume der klassischen politischen Sphäre sucht, läßt eine Leere entstehen, die allmählich durch den Aufbau neuer nicht-souveräner Territorien gefüllt wird. Der Niedergang einer auf Forderungen aufbauenden Politik, macht den Weg für eine neue politische Geographie frei, bei der es um die Schaffung neuer Formen des Lebens geht, um Orte, die schon ehe sie sich materialisieren ethisch sind, ein Gewebe beweglicher und nicht verdingbarer Beziehungen.

Der Punkt ist nicht, daß physische Orte nun die wichtigste Stütze der gegenwärtigen Bewegungen geworden sind, sondern nur, daß ihre materielle und strategische Infrastruktur auf diesen beruht. Wenn wir den Begriff ‘autonome Zone’ so verstehen, daß er sich auf ein Gebiet bezieht, das von der Region um sie herum nicht mehr abhängig ist – nun, eine solche Sache existiert nicht wirklich. Ebensowenig handelt es einfach um eine Frage der Anwendung eines formalen Verwaltungsmodells, so als ob ‘Selbstverwaltung’ oder eine Praxis des Geschenkegebens notwendigerweise schon eine antikapitalistische Orientierung charakterisieren müßten. Noch weniger handelt es sich um Souveränität und Unabhängigkeit, um das Ersetzen der staatlichen Hoheitsgewalt mit einer anderen staatsähnlichen Hoheitsgewalt, vor allem, wenn man an die anderen gleichermaßen schrecklichen Formen denkt, die bei solchen Versuchen hervorgebracht werden können. (6) In Wahrheit geht es bei ‘Autonomie’ als einer strategischen und revolutionären Frage nicht primär um Selbstverwaltung oder eigene Herrschaft. Sie ist vielmehr eine Spannung oder ein Problem, das nur innerhalb eines dynamischen Ortes eines fortgesetzten Konflikts erwächst: Ein Kampf bleibt ‘autonom’, so lange er seine Fähigkeit erhält, beständig neue offensive und antagonistische Formen zu erzeugen.(7) Aus dieser Sicht sind Orte, an denen wir alternative Formen der Organisation und sozialen Reproduktion entwickeln können, offensichtlich hilfreich, aber ihr Entstehen sollte nicht als Endpunkt oder Kulmination des Kampfs verstanden werden.

Gebietskämpfe

Der George-Floyd-Aufstand 2020 oder die Gilet jaunes in den Jahren 2018 und 2019 waren Momente einer massiven Mobilisierung: Aufstände, die Momente eines Bruch markierten. Sie entsprangen weder anwachsenden und über sich hinausgehenden sozialen Kämpfen (8), noch stellten sie die Umsetzung irgendeines Programms dar. Dennoch erzeugten sie auf der subjektiven Ebene die Art von biographischem Bruch, die eine Rückkehr zu einem von solchen Momenten intensiven Kampfs freien Alltagsleben noch unerträglicher machen. Wer einmal von einer revolutionären ethischen Spannung bewegt wurde, kann nur noch schwer akzeptieren, daß er auf den nächsten unvorhersehbaren Aufstand warten soll, in den er sich dann reinstürzen kann. Als Antwort darauf können organisatorische Fragen entstehen: Wie können wir von diesen Aufständen lernen und zur selben Zeit durch Momente der Ebbe kommen? (9)

Hugh Farrell erkennt in Gebietskämpfen eine Form, die der Konflikt in Zeiten der starken Ebbe und der allgemeinen Reaktion annehmen kann und die bestimmte Charakteristika mit den Massenaufständen der Gegenwart gemeinsam hat. (10) Wenn wir teleskopisch auf das letzte Jahrzehnt blicken, sehen wir, wie es territoriale Kämpfe in verschiedenen Teilen der westlichen Welt geschafft haben, disparate Subjektivitäten in der Verteidigung eines Gebiets zu verbinden und einen neuerlichen Impetus zu dessen Bewohnung und Neuaufbau zu geben. Das zeigt sich am No-TAV-Kampf im Susa-Tal, an der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, am NoDAPL-Kampf in North Dakota wie auch für neuere Konflikte – wie gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline oder die Bewegung Stop Cop City in Atlanta.

Wie das Territorium die Vektoren vorgibt, um die herum sich der Kampf artikuliert, wird es von den hier initiierten Zusammensetzungsprozessen reflektiert. Aus diesem Grund bestimmt sich das hier in Frage stehende ‘territoriale Element’ sowohl physisch – es betrifft bestimmte zu verteidigende Orte oder zu blockierende Megaprojekte – wie auch affektiv. Das bringt einen Prozess der beständigen Neudefinition und Transformation mit sich, den die den jeweiligen Ort bevölkernden Menschen hervorbringen. (11) So hat zum Beispiel die unter dem Namen Les Soulèvements de la Terre (‘Aufstände der Erde’) bekannte Bewegung versucht, eine Verbindung zwischen verschiedenen Subjektivitäten zu entwickeln, die in mancher Beziehung der oben beschriebenen Bewegung gegen die Rentenreform ähnlich ist. In diesem Fall setzt sich das Gewebe aus Bauern, Landbewohner, ‘ZADisten’ und die ‘Klimageneration’ zusammen, zusammengebracht durch eine Reihe von Gebietskämpfe quer durch Frankreich – der berühmt-berüchtigste davon fand gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline statt.

Auch im Kampf in Atlanta, der sich unter dem Slogan ‘Stop Cop City / Defend the Forest’ zusammengefunden hat, zeigte sich ein territoriales Element. Da der umkämpfte Ort sich nicht in einer ländlichen Gegend befindet, sondern ein Wald innerhalb Atlantas ist (einer Stadt, die selbst innerhalb eines Walds liegt), hat sich die Zusammensetzung eher aus verschiedenen lokalen Jugendsubkulturen ergeben, die extrem lebendig sind (Aktionswochen finden oft zusammen mit Musikfestivals statt). Diesen haben sich anarchistische und ökologische Elemente aus dem ganzen Land ebenso angeschlossen wie lokale politische Gruppen, etwa Stadtteilaktivisten, Assoziationen zur Abschaffung der Polizei (die versuchen, den Ausschreitungen der 2010er und 2020er Jahre eine Kontinuität zu geben) und religiöse Gemeinden.

Die Kämpfe in Atlanta und Sainte-Soline teilen mit den meisten Klimabewegungen keine gemeinsame Grammatik, da letztere größtenteils zu friedlichen Demonstrationen und symbolischen Aktionen tendieren, mit dem Ziel ‘Awareness’ für die Klimakrise zu kultivieren. Deren strategischer Horizont räumt dem Stellen von Forderungen an diverse Institutionen die Priorität ein, unter Zurückweisung der Möglichkeit, alternative Lebensweisen hervorzubringen. Es handelt sich hierbei letztlich um einen gefährlichen Wunsch nach dem unumschränkten Schrecken eines ‘Klimaleviathans’ von derselben Sorte, wie ihn der grüne Pseudo-Leninist Andreas Malm fordert.

Es lohnt sich, festzuhalten, daß – während sich in ‘Nicht-Bewegungen’ wie den Gilets jaunes oder den Kämpfen um die Rentenreform von 2023 der Prozess der Zusammensetzung unabhängig von irgendeiner expliziten Intention Seitens der einzelnen Segmente ergab – man in Atlanta oder Sainte-Soline explizit und absichtlich eine Strategie der Zusammensetzung verfolgte (wenn auch nur durch einem Teil der einzelnen Elemente), die von bestimmten vorher existierenden politischen Netzwerken vorangetrieben wurde. Eine solche Strategie zielt durch die Kooperation verschiedener Gruppen darauf, gemeinsame Ziele auszusprechen und Aktionen zusammenzustellen oder zu ‘komponieren’, die den Widerspruch eskalieren und intensivieren. Auch wenn dieser Prozess zeitweise den Eindruck einer Legierung oder Fusion verschiedener Gruppen erwecken kann, versucht man letztlich, die jeweiligen Unterschiede im Verlauf des Kampfes zu konservieren, wenn auch ohne der sklerotischen Tendenz zu verfallen, Reflexionen über Identität gegenüber dem Sieg im Kampf selbst zu priorisieren.

Im Unterschied zu Massenaufständen sind territoriale Kämpfe nicht einfach moralische Notstände der Verweigerung, sondern verkörpern stattdessen die Schwelle zwischen dem Moralischen und dem Politischen. Dadurch ergeben sich relevante Fragen der Organisation und Strategie für jeden, der sich fragt, wie der Kampf revolutionär werden kann. (12) Wie vermeiden wir die Fallgruben eines leninistischen Avantgardismus, ohne der gegenteiligen Gefahr zu verfallen: zum bordigistischen Zuschauer zu werden, der Bewegungen nur äußerlich von der Seitenlinie interpretiert? Wie kommen wir zu einer Logik, in der die Teilnehmer sich nicht nur als integrale Teile eines spontanen Prozesses erkennen, in dem sich allmählich eine Strategie entwickelt, sondern sich ihrerseits zum Einbringen von Gesten ermächtigt fühlen, die die Grundlagen und Prozesse ändern, ohne dabei zu versuchen, diese Gesten oder ihre Bahnen zu kontrollieren, vielmehr zuzulassen, daß diese von anderen reproduziert werden?

Ein aktueller Text (13) über die cortèges de tête erinnert uns, dass sogar zahlenmäßig kleine Assoziationen gelegentlich erfolgreich Taktiken einbringen können, die den gesamten strategischen Plan eines Kampfes verändern oder sogar destabilisieren. Manchmal ist Destabilisierung genau das, was eine Bewegung braucht, um davor gefeit zu sein, zu versteinern oder in einer Sackgasse stecken zu bleiben. Sie stärkt die Fähigkeit der Bewegung, Konflikte auszuhalten, erweitert ihren taktischen Horizont und nährt ihre kreativen Fähigkeiten.

In gewisser Hinsicht ist das die Wette von Adrian Wohlleben in seinem Essay ‘Memes without End’ (14): Durch die Einführung von Gesten, die sich über die sie initiierenden Subjektivitäten hinaus ausbreiten und vervielfältigen, können kleine Gruppen in bestimmte sozialen Bewegungen intervenieren und sie aus deren intern verfestigten Bedingungen hinausbugsieren und dadurch ihren Horizont für eine radikale Veränderung erweitern. Um Kämpfe oder militante Gruppen aus ihren Sackgassen des Reformismus oder des Märtyrertums herauszubringen, ist es entscheidend, die Verfestigung ihrer Taktiken zu verhindern, jede exklusive Kontrolle über die Praktiken zu untergraben und gegen die Zentralisierung der Strategie zu arbeiten.

Sackgasse

Die Sackgasse, in der viele der Kämpfe der jüngeren Zeit stecken, besonders jene von ‘Aufstände der Erde’, scheint derjenigen sehr zu ähneln, mit der die Mobilisierung gegen die Rentenreform konfrontiert war: Die Kristallisation eines Antagonismus, die den Kampf in einer wesentlichen Dialektik mit dem Staat befestigt. Die Stabilisierung einer solchen Dialektik läuft zweierlei Gefahr, in eine Sackgassensituation zu geraten: zunächst die einer Wiedereingemeindung (Rekuperation), Entkräftung oder Deeskalation des Konflikts, einschließlich der Möglichkeit einiger Konzessionen oder eines Teilsiegs wie im Fall des ZAD (15); und dann die eines symmetrischen Konflikts, der unmittelbar in einer hoch militarisierten direkten Konfrontation enden kann.

Wenn wir den Blick uns selbst zuwenden, unserer Subjektivität, laufen wir Gefahr, unsere Beteiligung an der Bewegung in eine Art entfremdeter Militanz zu verfestigen, die uns von dem trennt, was Bordiga ‘die historische Partei’ (16) nennen würde, oder dem, was wir auch die wirkliche Bewegung nennen können. Diese Trennung (die bolschewistische), die an der Spitze der Bewegung eine Avantgarde sieht, die die Bewegung organisiert, und die im ganzen zwanzigsten Jahrhundert als wichtige taktische und strategische Formel gedient hat, hallt heute in all diesen Bewegungsstrategien wieder, die darauf abzielen, Gegenmächte oder Gegensubjekte zu konstruieren, ohne zu realisieren, daß die Macht, gegen die sie opponieren wollen, keine spezifische Konsistenz hat und in wichtigen Hinsichten ‘anarchisch’ (17) ist.

Zudem übersehen diese Analysen den ganz und gar entscheidenden Fakt, daß die Aufstände von heute eine völlige Abwesenheit irgendeines politischen Massensubjekts aufweisen, das fähig wäre, den Konflikt zu zentralisieren. Dieses wurde durch eine Fragmentierung von Massensubjektivitäten ersetzt. Die resultierenden Konflikte werden durch eine Reihe ethischer Spannungen zerrissen, ohne daß eine gemeinsame ideologische, diskursive oder programmatische Grundlage gefunden würde. Von Hong Kong über Chile bis zu den Gilets jaunes ist das revolutionäre ‘Wir’ zu einem erfahrungsbasierten und ethischen ‘Uns’ verfallen, ohne gemeinsame Sprache. Doch genau aus diesem Grund ist sie kaum für die traditionellen Rekuperationstechniken anfällig, die der klassischen Politik zukommen. Jeder, der sich vorzustellen versucht, wie die Konflikte unserer Zeit echte Revolutionen werden könnten, muß sich mit dieser Realität herumschlagen und die Nostalgie für (oft mystifizierte) alte Epochen aufgeben, in denen ein Massensubjekt den Motor der Kämpfe bildete. Wir leben in einer Epoche, in der Klasse keine soziologische oder politische Einheit mehr findet, sondern nur eine ethische und subjektive, geformt in und durch den Moment des Aufstands. Klasse ist von einer Reihe von Vektoren durchzogen, die sie sozial fragmentieren; ‘Identitätspolitik’ ist dabei nur eine symptomatische Form.

Statt künstlich neue soziale oder politische Einheiten zu inszenieren, muß jeder revolutionäre Kampf mit dieser sozialen Fragmentierung und der anarchischen Natur der gegenwärtigen Macht zurechtkommen. Anders als die Fantasie einer ‘konstituierenden Macht’ oder einer ‘Gegenmacht’ ist die Option der Destitution die einzige, die fähig ist, inmitten einer Realität, in der die Illusionen formeller politischer Repräsentation zu reinen Trugbildern verkommen, eine revolutionäre Strategie vorzuschlagen. Unter solchen Bedingungen bleibt einem Antagonismus, der sich damit zufrieden gibt, die Trugbilder seiner Gegner zu spiegeln, nur der Amoklauf. (18)

Das Kapital drückt sich, indem es sich verselbstständigt hat und in die Phase seiner wirklichen Herrschaft eingetreten ist, nicht mehr in einer Reihe abstrakter oder hegemonialer Prinzipien aus. Es verfügt über kein anderes regulatives Prinzip als sein eigenes Überleben und seine Reproduktion, wenn nötig mit gewaltsamer Repression. Aus diesem Grund hat es keine Bedenken, seine schreckliche Brutalität offenzulegen und alles zu zerschlagen, was es als Bedrohung verstehen kann. Die dialektische Beziehung zwischen Kapital und Arbeit, vielen Marxisten so lieb, wird fortwährend vom Kapital selbst gebrochen. Ob nun aus einer Nostalgie für irgendeinen verlorenen demokratischen Horizont oder aus anderen Gründen: Zu glauben, daß man diese durch die Mittel des Kampfs wieder herstellen könnte, ist von Anbeginn eine verlorene Wette, wie die Sackgassen gezeigt haben, in denen die Bewegung für eine alternative Globalisierung und der ganze post-proletarische Vorschlag von Negri und Hardt gelandet sind. Wie konnten wir in der polizeilichen Repression von Seattle 1999 und Genua 2001 nicht das Schreckgespenst eines von der Herrschaft leicht gekämpften und gewonnenen Bürgerkriegs sehen? Während die ‘Tute Bianche’ [globalisierungskritische Bewegung in Italien, die mit weißen Overalls auftrat] auf einer rein symbolischen Ebene Trugbilder bekämpften, zerschlug die Gegenseite die Bewegung mittels Gewalt und Angst.

Ganz ähnlich könnte man die mörderische Gewalt sehen, die die Polizei gegen die Protestierenden in Sainte-Soline ausübte. Wann immer eine antagonistische Gewalt das öffentliche Konfliktniveau erhöht und es auf eine hoch symbolische Ebene bringt, gibt sie sie sich der Repression klar und deutlich zu erkennen, die keine besonderen Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren und alle zur Zerschlagung des Gegners notwendigen Mittel zu mobilisieren. Die Frage der Gewalt muß sich so von einer doppelt spiegelnden Naivität befreien: auf der einen Seite von einer gewaltfreien Opferposition, die glaubt, man könne die Gewaltverhältnisse allein auf dem diskursiven oder kulturellen Level ändern, indem man die Gewalt des Staates denunziert und auf der anderen Seite eine Wiederaneignung der Gewalt, die versucht, einen kraftvollen Feldzug zu starten, der dem des Staates symmetrisch ist. Das birgt das Risiko, die produktiven und erfinderischen Potentiale des Konflikts in eine Konfrontation zwischen zwei etablierten Fronten zu kanalisieren, von denen die eine militärisch vollständig dominiert.

Destitution (Entsetzung)

Anders als symmetrische und dialektische Modelle der Konfrontation, die Formen der Regierung nur opponieren, um Alternativen vorzuschlagen, ist Destitution eine Form der Verschwörung, die darauf abzielt, den Apparat, der das Leben und Verhalten des neoliberalen Subjekts regiert, zu deaktivieren und abzuschalten, sowohl territorial, als auch subjektiv. Eine revolutionäre (destituierende) Subjektivität in der heutigen Epoche entleert die Macht und verwehrt sich dabei einer Identität oder anderer Formen der Subjektwerdung.

Destitution ist eine opake Kunst, die Anarchie der Macht umzuwerfen – in Richtung auf wirkliche Anarchie, verstanden als ein Leben, das keine Legitimität braucht und im freien Spiel und Austausch zwischen den Lebensweisen wurzelt. Folgt man dem Unsichtbaren Komitee, besteht eine Möglichkeit, die Anarchie der Macht mittels Aktionen offenzulegen, darin, ihre Grundlosigkeit zur Schau stellen. Das heißt nicht, ihre Gewalt zu denunzieren, um einen demokratischen Skandal auszulösen, sondern vielmehr, Schläge auszuführen, die zeigen, daß die wahre Natur der Macht bar jedweder abstrakten Legitimität ist (ein Gesellschaftsvertrag, Demokratie, Gleichheit, Nation, Ordnung etc.). Ebenso braucht auch eine Geste der Destitution keine Legitimität, da sie ihren Ausdruck in einer vernünftigen und ersichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit verankert, die keine diskursive Bedeutung benötigt. Solche Gesten zwingen die Polizei, sich als das zu zeigen, was sie ist: eine kriminelle Bande wie alle anderen, die um die Herrschaft über ein Gebiet kämpft.

Folgt auf eine Geste der Destitution, die die Macht zwingt, wieder auf Erden zurückzukehren und sich in ihrer Materialität zu zeigen, ein konstituierender Prozess (einer Strategie und eines Subjekts), wird der Konflikt wahrscheinlich zu einem frontalen Zusammenprall mit den Gewalten der Ordnung führen. Er wird zu einem tragischen Krieg in einer symmetrischen Konstellation, in der die konterrevolutionären Kräfte (die Polizei) all ihre überwältigenden Kräfte einsetzen werden, um die Schlacht zu gewinnen. (19) Das passiert jeder Bewegung, die, wenn sie in ihrem Widerspruch zum Staat in eine Sackgasse geraten ist, entweder ins Verfallsstadium eintritt oder einen Kern freilegt, der das Level des Kampfes kontinuierlich so zu erhöhen trachtet, bis er auf tragische Weise militärisch wird und jeder revolutionäre Schimmer erlischt. Der Bürgerkrieg versteinert in zwei feste Fronten, mit einem Gegner, der neben dem militärischen Vorteil auch noch das Privileg hat, sich auszusuchen, auf welchem Feld die Schlacht geschlagen wird.

Diese Wahrheiten zeigen sich uns im gegenwärtigen französischen Kampfzyklus: Einerseits die innovative Fähigkeit des Aufbruchs, eine neu zusammengesetzte Subjektivität zu initiieren; eine Fähigkeit, die in sich selbst als destituierend betrachtet werden muß, insofern sie Erfolg dabei hat, sowohl einer dialektischen Logik mit dem Staat zu entgehen, als auch sich in praktischem und rhythmischem Sinne fortwährend neu zu erfinden (etwa bei der Wahl des Zeitpunkts der Aktionen). Wenn ‘Aufstände der Erde’ eine große Fähigkeit gezeigt hat, die Polizei in Schach zu halten und bloßzustellen, ist das ganz analog zum großen Teil der innovativen Kraft zu verdanken, die die neue Zusammensetzung hervorbringen konnte. Allerdings scheint diese Fähigkeit, neue unerwartete Formen hervorzubringen, am 25. März nachgelassen zu haben, wo sich die Zusammensetzung eher verfestigte und die angewandte Strategie ähnlich der vom Vortag war. Das Ergebnis war eine Reihe von Entscheidungen, die für die Polizei vorhersehbar geworden waren, die sich dazu entschied, die Ankunft der Demonstration abzuwarten und eine ‘Belagerungs’-Dynamik zu beginnen, welche es ihr ermöglichte, die Menge brutal anzugreifen. Die darauf folgenden Analysen der taktischen Fehler in diesem Fall sind sicherlich stichhaltig (20), aber um in der Lage zu sein, die Sackgasse vom 25. März zu umgehen, wird eine Neuformulierung der allgemeinen strategischen Annahme erforderlich sein, die zur Automatisierung und Verhärtung der Organisationsfähigkeit geführt hat, wodurch verhindert wurde, daß die Bewegung improvisieren und die Gegenseite verwirren konnte wie noch im letzten Oktober.

Eine Annahme könnte sein, auf eine Verbreiterung des Zusammensetzungsprozesses abzuzielen: In dieser Hinsicht haben Versuche, den Kampf um den Wasserspeicher auf eine internationale Ebene auszuweiten, auf der einen Seite dazu geführt, daß das Niveau der Erwartungen an die Konfrontation erhöht wurde (eine Gelegenheit, die zu ergreifen die Polizei sich nicht nehmen ließ); auf der anderen Seite kann eine Internationalisierung die Neuformulierung der taktische Organisierung der Demonstration erschweren. Und wenn wir zurückblicken, haben internationale Treffen und Kampagnen, die einen Kampf quantitativ vergrößern sollten, selten einen qualitativen Sprung herbeigeführt. Wenn überhaupt irgendwas, dann kündigen sie oft den Abstieg und Niedergang der Wirklichkeit der Kämpfe an. Im Gegensatz dazu ist unsere Annahme, daß die Stärkung und Vertiefung eines Kampfes eher aus der Intensivierung der Beziehungen der sie zusammensetzenden Komponenten erwachsen oder vielleicht auch von einer abwechselnden Zersetzung und Neuzusammensetzung, die neue und nicht vorhersehbare Formen der Improvisation hervorbringen könnte.

Bis März 2023 war die Bewegung in Atlanta in der Lage, die Initiative zu halten, indem sie eine Reihe von Aktionen ausführte, die die Polizei fast immer unvorbereitet trafen. Das ist natürlich so, weil die inneren Dynamiken der Bewegung extrem undurchsichtig sind, vor allem für die Polizei, die weiter im Dunkeln nach einer radikalen Führungsgruppe sucht, die für die zerstörerischsten Aktionen verantwortlich ist, aber auch, weil jede Aktionswoche unterschiedlich und in hohem Maße improvisiert gewesen ist. Während der ‘Aktionswoche’ vom März 2023 hat dieser Vorteil die Bewegung dazu verleitet, das Niveau so sehr zu erhöhen, dass schneidendere Formen der direkten Aktion schwer vorstellbar sind. (21) Zur selben Zeit war die Polizei gezwungen, mit einer willkürlichen Festnahme einiger Leute zu antworten, gegen die der schwere Vorwurf des ‘inländischen Terrorismus’ erhoben wurde. Als sich die Stadt Atlanta fast einen Monat später entschloss, das Projekt voranzutreiben und anzufangen, einen Teil des Waldes abzuholzen und dessen Umgebung zu militarisieren, vermied es die Bewegung, auf den Schritt der Stadt zu reagieren und in die Falle zu treten (das hätte heißen können, die Baustelle zu besetzen). Zur selben Zeit haben Versuche, anderswo anzugreifen und den Konflikt zu dezentralisieren, bislang offenbar noch keine effektiven Formen gefunden, trotz der guten Intuition (quer durch die USA fanden zahlreiche Aktionen statt, um die mit dem Cop-City-Projekt verbunden Gegebenheiten zu ‘sanktionieren’). An diesem Punkt besteht die einzig verfügbare Strategie darin, die explosiven Widersprüche innerhalb der demokratisch regierten Stadt zu schüren, indem der Druck auf den Bürgermeister immer weiter erhöht wird, dabei den breiten Konsens ausnutzend, der gegenüber der Bewegung in der Bevölkerung besteht. Dies könnte die Achse des Kampfes jedoch jenseits der Fähigkeiten der Bewegung verschieben. Wie manche Leute, die schon lange Teil der Mobilisierung sind, erkannt haben, könnte die Einbindung neuer Subjektivitäten in den Zusammensetzungsprozess neues Leben in den Kampf bringen, wie es schüchtern im Fall der Studenten passiert ist, die bestimmte Universitätsgebäude in Atlanta besetzt haben, oder durch das Experimentieren mit praktischen Formen, die einen qualitativen Sprung bei der Unterstützung und beim Engagement bei den dem Projekt feindlich gegenüberstehenden ‘Bürgern’ herbeiführen geeignet sind.

Wenn eine Bewegung nicht länger zur Verteidigung (oder zum Angriff) in der Lage ist, weil sie ihre taktischen Ressourcen aufgebraucht hat, besteht das Risiko des Rückfalls in politische Dynamiken. Die Strategie fängt an, zurück in repräsentative Formen der Politik zu rutschen, taktische Entscheidungen fallen leicht zugunsten performativer Formen, die darauf zielen, auf der Ebene der Öffentlichkeit oder der Medien zu intervenieren. Das Geschehen in Atlanta oder auch in Frankreich (besonders kürzlich in Val Maurienne), ist dem Risiko ausgesetzt, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie die No-TAV-Bewegung in Italien. Konfrontiert mit ihrem Niedergang, fing diese an, sich in repräsentativer Politik zu fliehen, entweder, indem sie die ‘Demokratie’ nutzen wollten oder einfach, indem man in stumpfen Aktivismus zurückfiel und Medienaufmerksamkeit suchte. In diesen Momenten öffnet die ‘Strategie der Zusammensetzung’ nicht mehr den Weg Richtung Revolution. Stattdessen fallen die Gruppen in immer stärker identitäre Dynamiken zurück; die politischeren fangen dann an, Konsensbildung zu betreiben und ihre Position im Auge der Öffentlichkeit zu stärken, ‘Kapital’ aus dem Konflikt zu schlagen. Die starke moralisch-politische Spannung am Grunde des Kampfes wird ersetzt durch eine Dynamik der Öffentlichkeit und Politik. Wenn Politik öffentlich wird, setzt sich die Bewegung nicht nur der Repression aus, sie verliert auch die Fähigkeit, zu improvisieren und unvorhersehbar zu bleiben.

Eine Strategie der Zusammensetzung kann die revolutionären Möglichkeiten eines Kampfes nur dann ‘offenlegen’, wenn sie offen bleibt und dabei eine Zielrichtung der Destitution verfolgt. Das heißt einerseits, sich immer in Richtung Flucht vor jedweder dialektischen Dynamik mit der Macht zu orientieren, und andererseits, die aus dem Zusammensetzungsprozess entstandenen Formen einer ständigen Neukombination und Brüchen auszusetzen. Eine Neukombination kann, wie im Beispiel der Mobilisierung gegen die Rentenreform, durch das Einbrechen eines neuen, für der Macht schwer zu entziffernden Protagonisten stattfinden. Oder sie versucht bei Schwierigkeiten, Platz für neue Komponenten zu machen, weitere Konfigurationen des Zusammentreffens und Kontakts zwischen den kämpfenden Subjektivitäten zu entdecken und Wege der Desubjektivierung zu suchen, um einen Versteinerungsprozess zu verhindern.

Und wenn kein neuer Rhythmus gefunden werden kann, wenn die experimentellen Fähigkeiten erschöpft worden sind, müssen wir den Beginn des Verfallsprozesses erkennen, da jeder voluntaristische Versuch der Wiederbelebung nur in Formen von Opferungsmilitantismus endet, der die Macht spiegelt, die bekämpft werden soll. Aus einer breiteren strategischen Sichtweise kann solch ein Wille zur Opferung auch in einem Verlust der Lektionen resultieren, welche der Kampf ansonsten lehren und weitergeben hätte können, die logistischen, organisatorischen und praktischen Fähigkeiten, die andernfalls ein Schlüsselvermögen für eine neue Phase des Konflikts in der Zukunft sein hätten können.

In einem Wort: Die revolutionären Möglichkeiten jedes Kampfes hängen von seiner Fähigkeit ab, destituierende Kraft zu erschaffen und zu erhalten; und das in einem Prozess der Negation und Selbstnegation, der sich durch fortlaufendes Experimentieren und Improvisieren selbst regeneriert. Revolution ist eine alchimistische Kunst: Bei ihr geht es um das Gießen von Gold, Stahl und Blut, um damit neue Verbindungen zu erzeugen, neue Strategien zu kombinieren, und das Ganze in einer endlosen Heterogenesis.

Nicolò Molinari, 23. Juni 2023

Anmerkungen

(1) Temps critiques: La protestation en cours sur les retraites. Du refus à la révolte?, in: Lundi matin #377, 4. April 2023

(2) Siehe Endnotes: Onward Barbarians

(3) Anonym: Sortir de l’antagonisme d’état, Lundi matin #378, 11. April 2023

(4) Joshua Clover: Riot. Strike. Riot, Verso 2016. Der Autor bezieht sich besonders auf die Kommune von Oakland.

(5) Die folgenden zwei Text spüren klare Verbindungen zwischen zwei bedeutenden Erfahrungen in den USA der 2020er auf: in Atlanta und in Seattle. Anonym: At the Wendys, Ill Will, 9. November 2020, und: Anonym: Get in the Zone. A Report from the Capitol Hill Autonomous Zone in Seattle, It’s going down, 8. Juni 2020

(6) Über das Verhältnis zwischen Verwaltung und Hoheitsgewalt und wie die Erfahrung der Zapatisten erfolgreich bestimmten Untiefen westlichen radikalen Denkens entkommt, siehe: Jerome Baschet: Zapatista Autonomy. A Destituent Experiment?, Ill Will, 7. September 2022

(7) Zu diesem Gebrauch des Begriffs ‚Autonomie‘ siehe Adrian Wohlleben: Autonomy in Conflict, in: The Reservoir, Vol. 1

(8) Im Original steht der ungebräuchliche Begriff Transcrescence und dazu folgendes Kommentar in einer Fußnote: „Transcrescence ist ein Begriff, den Jacques Camatte verwendet, um den Übergang des Kapitalismus in eine radikalere Stufe zu beschreiben, die nun keine Vermittlungsebenen mehr benötigt, da das kapitalistische Gesetz die Gesellschaft und ihre Subjekte vollkommen durchdrungen hat. Beispielsweise erscheint Arbeit nun nicht mehr als dialektischer Widerspruch zum Kapital, sondern wird Teil des Kapitals. Der Kapitalismus ist damit keine Wirtschaftsform mehr, sondern eine Zivilisation.“

(9) Aus einer subjektiven Perspektive ist die Leere, die am Ende eines Aufstands bleibt, vor allen Dingen ethisch und affektiv. Dies steht im Kontrast zu anderen, eher nostalgischen Argumenten, die mit der Arbeiterbewegung verbunden sind, die die politische Leere betonen, die als Folge bleibt, und die Abwesenheit eines verläßlichen politischen Subjekts hervorheben. Siehe zum Beispiel: Maurizio Lazzarato: The Class Struggle in France, Ill Will, 14. April 2023. Oder allgemeiner dessen Buch Guerra o rivoluzione, Derive Approdi, 2022

(10) Hugh Farrell: The Strategy of Composition, Ill Will, 14. Januar 2023

(11) In einem neueren Text mit dem Titel ‚Tragic Theses‘ argumentiert der Autor, daß territoriale Kämpfe ein Beispiel für den Versuch bieten, die Grenze zwischen den Arten, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zu überwinden oder zu unterminieren, indem die Prozesse der Humanisierung und Dehumanisierung, die den Prozessen der Inwertsetzung von Kapital zugrundeliegen, gebrochen werden. Diese Hypothese scheint in den Slogans Bestätigung zu finden, die viele dieser Bewegungen verwenden: ‚Wir sind das Tal, das sich selbst verteidigt.‘ (NoTAV). Oder auch in den Namen selbst: ‚Aufstände der Erde‘, die auf einen Ort, ein Territorium verweisen und nicht auf ein Subjekt, das die Vermittlung zwischen den Orten darstellt. Siehe: Anonym: Tragic Theses, Decompositions, 9. März 2023

(12) Es sollte erwähnt werden, daß ‚Aufstände der Erde‘ mehr ist als ein territorialer Kampf; tatsächlich hat die gesamte organisatorische Anstrengung dieses Netzwerks in vielerlei Hinsicht einen Versuch dargestellt, die Grenzen eines bestimmten und lokalen territorialen Kampfs zu überwinden. In diesem Text liegt mein Schwerpunkt nur auf dem spezifischen Fall des Kampfs gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline.

(13) Siehe: Anonym: Pour ceux qui bougent (en 2023): 2016 dans le rétroviseur, Lundi Matin, 14. Februar 2023. Deutsch: Für diejenigen, die sich bewegen (im Jahr 2023): 2016 im Rückspiegel – (Die wahre Geschichte des Cortège de Tête)

(14) Adrian Wohlleben: Memes without End, Ill Will, 16. Mai 2021

(15) Zur Komplexität dieses Falls siehe: Anonym: Victory and its Consequences, in: Liaisons, Vol. 2

(16) Bordiga-Schüler werden mir hoffentlich diese krasse Übersimplifizierung des Unterschieds zwischen historischen und formalen Parteien verzeihen.

(17) Dieser Ausdruck stammt aus: Katherine Nelson: The Anarchy of Power, South Atlantic Quarterly, 122-1, Januar 2023. In der nachfolge von Rainer Schürmann argumentiert Nelson, daß die Krise der Moderne einen Niedergang der metaphysischen Rahmen mit sich gebracht hat, auf denen die Formen der Macht in der modernen Zeit gebaut waren. Der Nihilismus hat diese Rahmen bloßgestellt, die, einmal entschleiert, nur noch einen unaufhaltsamen Verfall durchlaufen können. Im Ergebnis ist das System unseres Zeitalters wesentlich nihilistisch und anarchisch. Angesichts dieses Verfalls sucht sich die Macht nicht mehr eine Reihe universeller oder totalisierender Rechtfertigungen, wie sie es in der ganzen Geschichte westlicher Modernität getan hat, sondern sie definiert sich nun neu als reine Gewalt, gewaltsame Herrschaft. Michele Garau ist in seinem neuen Werk über Jaques Camatte zu ähnlichen Schlüssen gekommen (siehe: Garau: The Community of Capital, Ill Will, 23. April 2022). Garau zufolge geraten die Rechte und Formen des liberalen Staates Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Krise. Die Repräsentationen, mit denen das Kapital sich ausgestattet hat, um das Vakuum zu füllen, das durch die Zerstörung der kommunitaristischen Bindungen, die ihm vorhergingen, stellen kein zusammenhaltendes Element mehr dar, da die ökonomischen Verhältnisse die sozialen durchdrungen haben und das Kapital der Gesellschaft selber immanent geworden ist, dem ‚Sozialen‘, und so nicht länger eine Reihe von Externalisierungen oder Transzendenzen in Form von Institutionen oder Werten produzieren muß, die als Klebstoff für eine Bevölkerung separierter Individuen dienen muß. Diese Thesen hat Jaques Camatte in den späten 1960ern und frühen 70ern entwickelt. Sie wurden, wie Garau bemerkt, von Negri aufgenommen und zwar in seinem Text Crisi dello stato piano von 1972, in dem der Autor bürgerliche Freiheiten und den Nationalstaat nicht mehr als Schein, sondern als doppelten Schein beschreibt. Macht ist nun zufällig und willkürlich. Geld ist die totale Repräsentation geworden und wird so zur Herrschaftsform über der sozialen Welt; dabei hat es jeden sozialen Grund, zu existieren, verloren und beruht ausschließlich auf Klassengewalt. Der Staat nimmt nunmehr eine Rolle ein, die keine mehr der Vermittlung ist, sondern die politische Basis für die Herrschaft des Kapitals bereitstellt.

(18) Im Gegensatz zu denen, die behaupten, daß die Hypothese der Destitution einfach nur einen Vorschlag für weitere Revolten und das Aufheben der historischen Zeit darstelle, wurde die Idee der desituierenden Macht tatsächlich von Agamben und dem Unsichtbaren Komitee als Versuch formuliert, einen revolutionären Weg aufzuzeigen, der nicht auf den selben Felsen Schiffbruch erleidet, die schon so lange moderne Revolutionen zu Konterrevolutionen werden ließen.

(19) In The Anarchy of Power betont Nelson einige Grenzen bei der Überführung einer destituierenden Macht in eine Gegenmacht: „Eine Politik, die sich jedem Anspruch auf Legitimität verweigert, kann tatsächlich, wie das Unsichtbare Komitee schreibt, die Regierung dazu zwingen, ‚sich auf die Ebene der Aufständischen zu erniedrigen, die dann nicht länger mehr die ‚Monster‘, Kriminellen’ oder ‚Terroristen‘ sein können, sondern ganz einfach Feinde’; sie kann ‚die Polizei zwingen, fortan nichts mehr als eine Bande zu sein, und das Justizsystem zu einer kriminellen Vereinigung machen‘. Damit ist jedoch das Risiko verbunden, daß der folgende Kampf zu einem ‚Kampf um Leben und Tod‘ zwischen den Fraktionen wird. In solchen Fällen wird eine zu kurz gefaßte Destitution zum zerbrochenem Metonym einer sinnvollen politischen Existenz – und produziert dabei Opfer einer anarchischen Epoche. Um das klar zu sagen: Eine solche tödliche Identifikation von dem, was man ist oder was wir sind, mit dem, was zu tun ist, von Sein und Praxis ist überhaupt nicht bezeichnend für Destitution – jedoch ist es das Risiko, das gebe ich zu, welches eine Politik der Destitution besonders und wesenhaft birgt.‘

(20) Siehe: Les Soulèvements de la Terre: To those who marched at Sainte Soline, Ill Will, 24. April 2023

(21) Eine ganze Baustelle wurde in Brand gesteckt.

Diese Übersetzung stammt vom Et al. Kollektiv [PDF Version] und wurde Bonustracks zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, um den Text breiter bekannt zu machen.