Hybride Kriegsführung, Defätismus und Revolte

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Die Telefonkonferenz am Dienstagabend, an der 21 Genossinnen und Genossen teilnahmen, begann mit einem auf der Website Defesa Online veröffentlichten Artikel mit dem Titel “Hamas, Huthi und der modernisierte Guerillakrieg aus der Ferne“.

Laut dem Magazin, das Informationen über die italienischen und ausländischen Streitkräfte veröffentlicht, ist der Angriff der Hamas vom 7. Oktober auf israelisches Territorium als “modernisierter Guerillakrieg aus der Ferne” einzustufen. In der hybriden Kriegsführung “gibt es keine klaren und definierten Fronten mehr”, da die auf die Kontrolle des gegnerischen Territoriums ausgerichtete Logik aufgegeben wurde. Der Guerillakrieg der Vergangenheit fand auf einem umgrenzten Territorium statt, während die irregulären Kräfte heute in der Lage sind, Dutzende oder sogar Hunderte von Kilometern entfernt anzugreifen (wie im Fall der Huthi-Rebellen). Im Nahen Osten gibt es mehrere nichtstaatliche bewaffnete Organisationen: die Hamas, die Huthi, die Hisbollah und all die anderen, weniger bekannten Gruppen, die mit Staaten wie Israel und den USA im Konflikt stehen. Die nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen sind sowohl wirtschaftlich als auch militärisch mit staatlichen Kräften verflochten (im Falle der Hamas mit dem Iran, aber auch mit Katar) und verwenden nicht nur leichte Waffen oder selbstgebaute Vorrichtungen, sondern setzen auch fortschrittliche technologische Waffen von einiger Schlagkraft ein. Die vertikale Eskalation der hybriden Kriegsführung aufgrund der Feuerkraft nichtstaatlicher Akteure (die Hamas hat innerhalb weniger Stunden über dreitausend Raketen auf Israel abgefeuert) wird von der Möglichkeit einer horizontalen Eskalation begleitet, an der immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt sind.

Im Leitartikel der Ausgabe 51 unserer Zeitschrift (“Der zukünftige Krieg“) haben wir das Thema der hybriden Kriegsführung angesprochen. Hamas und Hisbollah sind politisch-religiös-militärische Organisationen, stellen aber gleichzeitig Wohlfahrtsnetzwerke für die Bevölkerung dar, d.h. eine Art parallele staatliche Infrastruktur (Hamas im Gazastreifen und Hisbollah im Libanon, wo sie Minister, Bürgermeister und andere Verwaltungsstrukturen stellen. Diese Gruppen sind nicht autonom und folgen den kapitalistischen Interessen, sei es eines Staates oder religiöser Netzwerke. Sie sind Scheingemeinschaften, Surrogate von Zusammenschlüssen, die auf einem Zugehörigkeitsgefühl beruhen, das der entfremdenden Dynamik dieser Gesellschaft nicht entkommt (wie wir in dem Artikel “Ein Leben ohne Sinn” geschrieben haben), von hybriden Organisationen, die durch die Auflösung von Staaten entstehen.

Lenin zitiert in Staat und Revolution (Kap. IV) Engels und sagt, dass die Pariser Kommune kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war, weil sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) unterdrücken sollte. Wäre die Kommune konsolidiert worden, hätten sich die Spuren des Staates selbst “ausgelöscht”: Die Kommune hätte es nicht nötig gehabt, ihre Institutionen “abzuschaffen”, diese hätten aufgehört zu funktionieren, da sie nichts mehr zu tun gehabt hätten. In anderen Texten stellt er fest, dass sich die Bourgeoisie in Russland im Jahr 1917 noch nicht entfaltet hatte, während das Proletariat, auch wenn es eine Minderheit war, schon weit fortgeschritten war und die Aufgaben der Bourgeoisie übernehmen konnte: daher das Konzept der doppelten Revolution. Heute hat sich die Welt verändert, der Kapitalismus hat sich globalisiert, und nach den mutiplen Revolutionen (“’rassischer’ Druck der Bauernschaft, Klassendruck der farbigen Völker”, 1953) ist die Losung der kommunistischen Unterstützung der demokratischen – und Unabhängigkeitsaufstände nicht mehr zutreffend. Das Resultat ist eindeutig, es ist ein völliger Defätismus. Dieses Thema wurde in “Die Täuschung und Lüge der ‘Defensivität'” (1951) behandelt.

Angesichts des Phänomens des Auseinanderbrechens von Staaten ist es zwangsläufig, dass sich zukunftsorientierte Gemeinschaften der gegenseitigen Hilfe bilden werden. Occupy Wall Street (OWS) hat gezeigt, dass es möglich ist, über den gewerkschaftlichen und “politischen” Aspekt hinauszugehen, indem Einrichtungen wie Gemeinschaftskantinen, Bibliotheken, Medienzentren und der Wille, sichere und geschützte Orte zu schaffen, an denen wir alle gemeinsam essen, schlafen und leben können, bereitgestellt werden. Während des Hurrikans Sandy hat OWS eine großartige organisatorische Leistung erbracht. In Oakland griff die Occupy-Bewegung auf die Kommune zurück. Für uns gewinnt der Aspekt der menschlichen Gemeinschaft an Aktualität. Wie die Sozialistische Jugend 1913 feststellte (“Ein Programm: die Umwelt”):

“Die ganze bürgerliche Umwelt führt also zum Individualismus. Unser sozialistischer, antibürgerlicher Kampf, unsere revolutionäre Vorbereitung muss darauf gerichtet sein, die Grundlagen der neuen Umwelt zu schaffen.”

Im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt ist der “Marsch für die Geiseln” zu erwähnen, ein Zug von Tausenden von Menschen, die von Tel Aviv nach Jerusalem marschierten, um die Freilassung der Entführten zu fordern und gegen die Regierung zu protestieren. Das Land hat mit einer sehr heiklen inneren Situation zu kämpfen: In der Hauptstadt kam es in letzter Zeit zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung. Israel hat drei offene Fronten: den Gazastreifen, einen Konflikt niedriger Intensität mit der Hisbollah und einen Guerillakrieg im Westjordanland (RID, “Gaza, Israelis ziehen den Kreis enger, aber das Worst-Case-Szenario mit der dreifachen Front droht”). Und dann ist da noch die Wirtschaft: Der Tourismus und der High-Tech-Sektor sind zum Erliegen gekommen. Selbst die USA, Israels wichtigster Unterstützer, haben interne Probleme: Etwa 400 Leiter von 40 Regierungsbehörden haben in einem Schreiben an Präsident Joe Biden einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Der amerikanische Präsident steht vor drei großen Herausforderungen: die mögliche Ausweitung des Konflikts im Nahen Osten, das Halten der ukrainischen Front und das Halten seiner Wählerschaft, die von der Unterstützung für Netanjahu ohne Wenn und Aber enttäuscht ist.

In einem Interview mit der Zeitschrift ‘Economist’ (“Ukraine’s commander-in-chief on the breakthrough he needs to beat Russia”) sagte der Chef der ukrainischen Streitkräfte, General Valery Zaluzhny, dass die Gegenoffensive gescheitert sei und der Konflikt in einer Pattsituation stecke, die an die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs erinnere; nur ein weiterer technologischer Sprung könne seinem Land neue Chancen eröffnen. In den letzten Tagen haben Ehefrauen, Mütter und Freunde von ukrainischen Soldaten, die an die Front geschickt wurden, in Kiew und anderen Städten demonstriert. Ob man nun von Israel, den Vereinigten Staaten oder der Ukraine spricht, man muss die Heimatfront im Auge behalten, d.h. die Möglichkeit eines Aufstands der Bevölkerung. Es ist eine Sache, Pazifist zu sein, wenn kein Krieg herrscht, es ist eine ganz andere, Pazifist zu sein, wenn der eigene Staat, die eigene Bourgeoisie, im Krieg ist und Kanonenfutter braucht, um es an die Front zu schicken.

Neben dem Problem der Wehrpflicht haben die Staaten auch Probleme, wenn es um die Versorgung mit Waffen und Munition geht, von denen heute ein enormer Bedarf besteht. Der ‘Economist’ schreibt (“From Gaza to Ukraine, wars and crises are piling up”):

“Auch ohne Krieg wird die militärische Kapazität des Westens in den kommenden Jahren unter enormen Druck geraten. Der Krieg in der Ukraine hat uns nicht nur vor Augen geführt, wie viel Munition in großen Kriegen verbraucht wird, sondern auch, wie begrenzt die westlichen Arsenale und ihre Versorgungsmöglichkeiten sind. Amerika steigert seine Produktion von 155-mm-Artilleriegranaten drastisch. Auch hier wird die Produktion im Jahr 2025 wahrscheinlich geringer sein als die Russlands im Jahr 2024”.

Im Leitartikel der Ausgabe “Guerra Grande in Terrasanta” argumentiert ‘Limes’, dass die auf der amerikanischen Hegemonie basierende Ordnung zerbröckelt und dass China nicht die Kraft hat, die Zügel an der Spitze der Welt zu übernehmen. Aber anscheinend “gibt es ein Licht jenseits des Krieges”: Aus dieser Unordnung, so der Kolumnist, könnte eine neue Ordnung, natürlich eine bürgerliche, entstehen. Diese These ist nicht glaubwürdig: Diese Unordnung entspricht dem Niedergang der bürgerlichen Epoche und ist die Voraussetzung für die Bildung einer neuen Ordnung, die sich von allem bisher Dagewesenen völlig unterscheidet. Wir kommen zu diesem Schluss, weil wir uns nicht auf eine Momentaufnahme des Bestehenden beschränken, sondern eine dynamischere Sicht auf den Kapitalismus einnehmen (Entwicklungsschritte mit abnehmenden Wachstumsraten: Kinder wachsen, alte Menschen nicht).

In “Teoria e prassi della nuova politiguerra americana” (2003) schrieben wir, dass sich die USA aufgrund ihrer auf dem internationalen Abfluss des Mehrwerts basierenden Wirtschaftsstruktur im Krieg mit dem Rest der Welt befänden und dass sich daher der Rest der Welt gegen sie wenden würde, sobald es einen Hinweis darauf gäbe, dass sie nicht mehr das seien, was sie einmal waren (Blowback, Chalmers Johnson).

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurde der von der CGIL und der UIL für Freitag, den 17. November, ausgerufene Verkehrsstreik und der “Konflikt” mit der Regierung über die Frage der Entlassung der Beschäftigten erwähnt. Anstatt nach der Anerkennung des “Streikrechts” zu winseln, so wie die Linke, müssen sich die Arbeiter dieses Recht mit Gewalt zurückholen. Marx stellt fest: “Zwischen zwei gleichen Rechten, wer entscheidet? Die Gewalt”. Seit Jahren verzeichnen wir einen Anstieg der sozialen Spannungen, massive Aufstände in der ganzen Welt, Massenbewegungen und “einen allgemeinen Rückzug”. Die Proletarier haben nichts zu verteidigen, da ihnen alles weggenommen wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch Riot.Strike.Riot: The New Era of Uprisings von Joshua Clover, in dem es im Wesentlichen heißt, dass in der heutigen Zeit die Auseinandersetzung direkt mit dem Staat und auf der Straße stattfindet.

Erschienen am 14. November 2023 auf n+1, QuinternaLab. Ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Für die Übersetzung wurden nur die wesentlichen Links aus dem Originalartikel übernommen, das im letzten Absatz erwähnte Buch Riot.Strike.Riot von J. Clover ist mittlerweile auch auf deutsch erschienen