Wahrheit und Scham

Giorgio Agamben

Nach dem, was in den letzten zwei Jahren geschehen ist, ist es schwierig, sich nicht irgendwie herabgesetzt zu fühlen, nicht eine Art Scham zu empfinden – ob man will oder nicht. Das ist nicht die Scham, die Marx als “eine Art in sich gekehrte Wut” bezeichnete, in der er eine Möglichkeit der Revolution sah. Es ist vielmehr die “Scham, ein Mensch zu sein”, von der Primo Levi im Zusammenhang mit den Lagern sprach, die Scham derer, die sahen, was nicht hätte geschehen dürfen. Es ist eine Scham dieser Art – es wurde zu Recht gesagt -, die wir mit angemessenen Abstand angesichts von zu viel Vulgarität, angesichts bestimmter Fernsehsendungen, der Gesichter ihrer Moderatoren und des selbstsicheren Lächelns der Experten, Journalisten und Politiker empfinden, die wissentlich Lügen, Unwahrheiten und Schmähungen gebilligt und verbreitet haben – und dies weiterhin ungestraft tun.

Jeder, der diese Scham erlebt hat, weiß, dass er oder sie dadurch keineswegs ein Besserer geworden ist. Vielmehr weiß er, wie Saba zu wiederholen pflegte, dass er “viel weniger ist als vorher” – einsamer, auch wenn er Freunde und Kameraden aufgesucht hat, stummer, auch wenn er versucht hat, Zeugnis abzulegen, machtloser, auch wenn jemand auf sein Wort gehört hat.

Eines aber hat er nicht verloren, sondern irgendwie unerwartet gewonnen: eine gewisse Nähe zu etwas, für das er keinen anderen Namen als “Wahrheit” finden kann, die Fähigkeit, den Klang dieses Wortes zu unterscheiden, das man, wenn man es hört, nur für echt halten kann. Dafür und davon kann er Zeugnis ablegen. Es ist möglich – aber nicht sicher -, dass die Zeit, wie das Sprichwort sagt, schließlich die Wahrheit ans Licht bringen und ihm – wer weiß wann – Recht geben wird. Aber das ist nicht das, was er durch sein Zeugnis erfahren hat. Was ihn verpflichtet, nicht aufzuhören zu bezeugen, ist vielmehr die besondere Scham, trotz allem ein Mensch zu sein – denn trotz allem sind die Menschen auch diejenigen, die ihn durch ihre Worte und Taten gezwungen haben, Scham zu empfinden.


Erschienen im italienischen Original am 24. Januar 2023