Bekämpfe den Feind dort, wo er nicht ist (Sun Tzu)
Nach der Aktion der militärischen Flügel von Hamas, Islamischer Jiad in Palästina und PFLP am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet Israels zum Gaza Streifen, die zum direkten Tod von über 1100 Menschen, davon ⅔ Zivilisten führte ( von denen Dutzende Arbeitsmigranten aus anderen Ländern waren), sowie zur Verschleppung von 250 Geiseln, darunter Kindern und Holocoust Überlebende, schien unmittelbar die Frage auf, was die strategische Option dieser Operation war. Denn es war sofort klar, dass der israelische Staat, dessen so hoch gelobten Geheimdiensten die Katastrophe nicht haben kommen sehen, die Präsenz der Hamas im Gaza Streifen praktisch vollständig auslöschen würde, egal wie hoch auch immer die Kosten dafür politisch, menschlich und moralisch sein würde. Ebenso bedeutete die Operation für die Führungsriege der Hamas (unabhängig ob politische oder militärische Ebene) ein potentielles Todesurteil, von dem nur noch nicht bekannt war, wann es vollstreckt werden würde. Denn die Israelis hatten nicht nur bei der jahrelangen Jagd nach den Verantwortlichen für den Angriff auf die israelische Sportlerdelegation von München 1972 gezeigt, wozu sie fähig sind.
Was war also die strategische Option für diese Operation, deren Federführung bei der Hamas lag, und deren militärische Kommandoebene diese Operation nicht ohne Abstimmung mit der politischen Führung im Exil sowie der Garantiemacht Iran durchführen konnte? In Hintergrundgesprächen nach dem 7.Oktober mit wichtigen Hamas Führern benutzen diese das Bild eines umgestürzten Schachspiels. Doch was genau ist damit gemeint?
Die “palästinensische Frage” befindet sich in einer völlig festgefahrenen Situation. Die “2-Staaten-Lösung” (die unter den gegenwärtigen Umständen weder für die Hamas noch den Iran ein Option darstellte) ist seit Jahren eingefroren, der “Bruderkrieg” in Gaza gegen die Fatah konnte zwar 2007 innerhalb von nur 4 Tagen gewonnen werden, in den von der Fatah, bzw. der “palästinensischen Autonomiebehörde” kontrollierten Gebieten des Westjordanland verfügte die Hamas bis zum 7. Oktober aber nur über eine sehr begrenzte politische Basis und war militärisch nahezu unbedeutend.
Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation im Gaza Streifen, der allgegenwärtigen Korruption und Misswirtschaft, die nur noch von der Misswirtschaft und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde übertroffen wird, bröckelte auch die Unterstützung für die Hamas bei der Bevölkerung im Gaza Streifen, seit Jahren kommt es immer wieder zu sozialen Protesten und Unruhen, die von der Hamas teilweise mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Auch steht die Hamas ebenso wie die Fatah vor dem grundsätzlichen Dilemma, das sich keine palästinensische Bourgeoisie etablieren kann, im Gaza Streifen wird der größte Teile des BIP im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialsektor erzielt, der eh eher unbedeutende gewerbliche Sektor liegt seit dem 7.Oktober praktisch komplett brach, ebenso entfallen die Einkünfte durch Beschäftigungsverhältnisse in Israel, was teilweise nach dem 7. Oktober auch für das Westjordanland gilt. In Gaza leben 40 % der palästinensischen Bevölkerung (jenseits der Mio im Exil), dennoch lag der Anteil am BIP 2002 (also vor dem 7. Oktober) bei nur ca 15% und ist nach dem 7. Oktober auf nur noch 3% geschrumpft.
Auch jenseits der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des Krieges nach dem 7. Oktober, um wieder auf das grundsätzliche Problem zurückzukommen, existiert kein wirkliches umfangreiches palästinensisches Kapital, wenn man von Subunternehmen für israelische Unternehmen, kleinen Klitschen, meist im Familienbesitz, kleineren landwirtschaftlichen Betriebe, sowie einige Bereiche wie Textilverarbeitung absieht. Versuche strategischer Neuorientierung wie die Schaffung von Industrieparks für den Export im Westjordanland als auch in Gaza, blieben sehr limitiert. Weit mehr als ein Drittel aller Einkünfte werden durch die direkte Beschäftigung von Palästinensern in Israel selbst erzielt, hinzu kommt das fast ein Drittel der Einkünfte sich aus Transferzahlungen aus dem Ausland generieren, zu denen noch die Gelder und Güter aus den zahlreichen Hilfsprogrammen kommen.
Unfähig einen palästinensischen Staat real kreieren zu können ohne natinonales Kapital (ein Dilemma, dass der völlig unmaterialistischen weltweiten “Free – Pelestine – Bewegung zumindestens ein sekundenschlagartiges Innehalten abringen könnte), militarisch dauerhaft in einer defensiven Dauerschleife gefangen ( aus der nur der Guerillia Krieg in einem besetzten Territorium Erlösung verspräche, der aber gerade durch die brachiale und umfassende Offensive der israelischen Armee in Gaza real ad absurdum geführt wird), politisch begrenzt durch die strategische Ausrichtung auf und Abhängigkeit vom Iran, ist die Führung der Hamas offensichtlich zu dem Schluß gekomnen, das Schachbrett umzustoßen.
Wenn nur ein begrenzter Umfang an Zugoptionen zur Verfügung steht, die auch noch fast alle vom Gegner antizipiert, bzw. vereitelt werden können, dann fällt nun die Wahl darauf, die Begrenzungen des Spielbretts zu verlassen, auch wenn das gleichzeitig das Ende der Organisation Hamas bedeutet, wie sie vor dem 7. Oktober bestanden hat.
Wie bereits oben angedeutet, ist der Entschluss für die Operation am 7. Oktober nicht allein in der Führungsebene der Hamas gefallen. Diese strategische Ausrichtung wurde von der völligen Unterstützung der Teheraner Führung mitgetragen, die, wenn auch in anderen Dimensionen, vor ähnlichen Problemen wie die Hamas Führung steht.
Eine galoppierende Inflation, die trotz Erhöhung der Erdölexporte bei mittlerweile über 40% liegt, durch Korruption und Mehrausgaben für die Rüstung, einer gescheiterten Industrialisierung und den Folgen der Sanktionsmaßnahmen liegt das BIP pro Kopf mittlerweile nur noch auf der Hälfte des Niveau des Jahres 1990. Als Folgen kommt es immer wieder zu Unruhen und Streiks, besonders im strategisch wichtigen Bereich der Erdölförderung-und Verarbeitung, der landesweite Aufstand nach der Ermordung von Jina Amini konnte erst nach Monaten blutig niedergeschlagen werden, wobei es in einigen Provinzen zu bewaffneten Guerillia Aktionen kam, und das Regime erstmalig nicht in der Lage war, wirklich wiederholt massenhaft Menschen für die Unterstützung des Regimes auf die Straße zu bringen. Hinzu kommt die Unfähigkeit unter der Bedrohung durch Israel und die USA zu einer Atommacht aufzusteigen, was den Iran erst zu einer wirklichen Großmacht in der Region machen würde (Im ersten Golfkrieg konnte der Iran gegen den wesentlich bevölkerungsärmeren Irak nur um den Preis unglaublicher Verluste [Schätzungen gehen von mindestens einer Viertelmillion Toten auf iranischer Seite aus] bestehen.
Der Iran beschloss also ‘All in’ zu gehen um im Gefolge der Auswirkungen des auf den 7. Oktober folgenden Krieges die Karten in der gesamten Region neu zu mischen. Wie die Ereignisse der letzten 12 Monate gezeigt haben, hat der Iran sich dabei deutlich verspekuliert.
Jeder Angriff muss mit einem Verteidigen enden (Carl von Clausewitz)
Während Israel nach dem 7. Oktober durch die allgemeine Mobilisierung mit einer Streitmacht von fast einer halben Millionen Frauen und Männer in den Krieg zog, konnten die Hamas und ihre Verbündeten in Gaza um die 40.000 Männer aufbieten. Die Schlacht um Gaza nahm dann den von allen erwarteten Verlauf. In den letzten 12 Monaten wurden Zehntausende Zivilisten in Gaza getötet, die Hamas und ihre Alliierten dürften fast die Hälfte ihrer Kämpfer verloren haben. Dazu kommen zahlreiche Verluste unter dem Führungspersonal der Hamas, darunter etliche hochrangige Kommandeure, die teils gezielt ausgeschaltet wurden.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober kam es zu Angriffen der Hisbollah auf den Norden Israels (vorwiegend mit Raketen und Drohnen), die mit Gegenschlägen beantwortet wurden. Zehntausende Israelis mussten den Norden Israels verlassen. In diesem “Krieg der niedrigen Intensität” wurden bis Ende 2023 um die 100 Hisbollah-Kämpfer getötet, die israelischen Verluste lagen sehr weit darunter. 2024 nahm die israelische Armee sowohl führende Funktionäre der Hisbollah ins Visier als auch sich im Libanon aufhaltende hochrangige Hamas Angehörige, als erstes erwischte es den stellvertretenden Vorsitzenden des Politbüros der Hamas in Beirut.
Ebenfalls kurz nach dem 7. Oktober begangen die Houthi Milizen im Jemen mit Angriffen auf die Handelsschifffahrt in der Region sowie Angriffen mit Raketen und Drohnen auf Israel. Diese konnten jedoch fast alle abgefangen werden oder gingen in unbewohntem Gebiet nieder. Nach mehreren Angriffen aus der Luft und von Schiffen mit Lenkwaffen durch Nato Staaten auf Houthi Stellungen scheinen die Angriffsoptionen der Houthis allerdings schon stark eingeengt zu sein.
Während der Iran also versuchte sein Blatt kontrolliert und unter dem verlustreichen Einsatz seiner Alliierten auszuspielen, scheint Israel in enger Abstimmung mit den USA und unter (mindestens) Billigung arabischer Länder wie Jordanien und Saudi Arabien entschlossen, ebenfalls ‘All in’ zu gehen, allerdings mit einem wesentlichen höheren Einsatz, um die politische Landschaft im Nahen Osten ebenfalls nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten. Nachdem Israel schon im Dezember 2023 einen General der iranischen Revolutionsgarden, der als Berater tätig war, in der Nähe von Damaskus bei einem Luftschlag tötete, griff die israelische Luftwaffe am 1. April 2024 ein Nebengebäude der iranischen Botschaft in Damaskus an, wobei mehrere hochrangige iranische Offiziere und Kommandeure der Revolutionsgarden getötet wurden, darunter ein Brigadegeneral. Der folgende Vergeltungsschlag des Iran hielt nicht annähernd das Niveau der verbalen Drohungen und Verwünschungen der Teheraner Führungsspitze. Am 13. April 2024 wurden um die 300 Raketen und Drohnen in Richtung Israel gestartet, fast alle wurden in einer koordinierten Aktion von Israel, Frankreich, GB, den USA und Jordanien abgefangen, lediglich ein Mensch wurde in Israel durch eine abgestürzte Rakete verletzt.
Unterbreche niemals deinen Feind, wenn er einen Fehler macht (Napoleon Bonaparte)
Dem Iran war es bis dahin nicht gelungen, propagandistisch erfolgversprechenden Operationen auch wirkliche militärische oder politische Erfolge folgen zu lassen, wenn man von UN Resolutionen oder Massendemos im Westen oder arabischen Ländern absieht, die aber schon in den letzten Jahrzehnten keinerlei Einfluss auf das reale Kräfteverhältnis im Nahen Osten genommen haben. Die Verwundbarkeit des Irans für Luftschläge des Westen und Israels wurde der Teheraner Führung noch einmal am 19. April 2024 in Erinnerung gerufen, als in der Nähe des iranischen Kernreaktors bei Isfahan ein israelischer Angriff auf eine iranische Militäreinrichtung erfolgte. Der nächste Schachzug des Iran konnte daher nur eine Intensivierung des Konflikts an der israelischen Nordgrenze durch die Hisbollah sein, während zeitgleich Israel die “Hamas für in Gaza besiegt erklärte”, man habe es nur noch “mit Resten zu tun”, die man “weiter bekämpfen werde”. Diese wiederum erklärt in Gestalt ihres Unterhändlers Khalil al-Hayya in Istanbul, die Hamas sei nun doch zur eigenen Entwaffnung und einer 2- Staaten Lösung bereit, allerdings mit einem palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967.
Im Laufe des Sommers 2024 spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und Israel folgerichtig auch zu. Immer wieder ortet das israelische Militär hochrangige Hisbollah Angehörige und schaltet diese mittels Luftschlägen aus. So am 3. Juli, woraufhin am nächsten Tag die Hisbollah Israel mit über 200 Raketen an einem Tag angreift. Als am 27. Juli bei einem Raketeneinschlag in einem von Drusen bewohnten Ort 12 Menschen auf einem Fussballplatz sterben, die meisten davon Kinder, hat die israelische Regierung ihr Fanal, dass sie auch von dem Druck der Straße in Israel selbst entlastet, wo immer wieder Zehntausende, teilweise Hunderttausende gegen die Fortsetzung des Krieges und für die Befreiung der verschleppten israelischen Geisels durch Verhandlungen mit der Hamas demonstrieren. Am 30. Juli wird erneut ein hoher Hisbollah-Kommandeur bei einem Luftschlag ausgeschaltet, er soll den Angriff auf das drusische Dorf verantwortet haben.
Der folgende Coup führte dann den Iran vollends vor. Der politische Führer der Hamas, I. Haniyya, wird während seines Aufenthalts in Teheran am 30. Juli im Gästehaus der iranischen Revolutionsgarden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Kommandoaktion des Mossads getötet.
Alle folgenden Versuche der Hisbollah und des Irans, wieder das Heft des Handels in die Hand zu bekommen, scheitern allerdings. Im August und September kommt es immer wieder zu gezielten Tötungen von hochrangigen Kommandanten der Hisbollah im Libanon, hunderte von Raketenstellungen werden ausgeschaltet, bevor von dort aus Angriffe auf Israel gestartet werden können. Inmitten der absoluten Defensive der Hisbollah werden dann am 17. und 18. September tausende präparierte Pager und andere Kommunikationsgeräte der Hisbollah per Fernzündung zur Explosion gebracht, die Miliz verliert große Teile ihrer Kommandostruktur durch schwere Verletzungen und tote Mitglieder ihrer Miliz. Inmitten dieses Chaos fliegt die israelische Luftwaffe ab dem 20. September schwere Luftangriffe auf Ziele in Beirut und im Süden des Libanon, erneut werden viele hochrangige Kommandeure der Hisbollah getötet. Am 27. September schließlich erfolgt ein Luftschlag auf ein HQ der Miliz in Beirut, der Angriff gilt dem Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, der dem Stand der Informationen zum jetzigen Zeitpunkt zufolge (27.9. Mitternacht), bei diesem Luftschlag getötet wurde.
Die gesamte Offensivfähigkeit der Hisbollah, die aufgrund ihres Bestandes von über 100.00 Raketen als wesentlich größere Gefahr für Israel als die Hamas beschrieben wurde, scheint innerhalb weniger Tage zumindestens vorübergehend völlig ausgeschaltet zu sein. Die Hamas hat sich, in Absprache mit der Teheraner Führung, dafür entschieden, das Schachbrett umzustoßen. Die Neuordnung der Region wird nun Realität, allerdings zu anderen Konditionen, als von Teheran beabsichtigt. Das Spiel ist erst vorbei, wenn der König fällt, das stimmt. Aber der Iran und seine Proxies haben beide Türme eingebüßt und auch die Dame steht zur Disposition.
Doch wo sich nach einem Jahr ein mögliches Ende des Krieges am Horizont abzeichnet, wird auch wieder der Horizont der sozialen Revolution sichtbar. Die inneren Widersprüche werden explodieren. In Israel selbst, wo es nur eine Frage der Zeit ist, bis die rechte Regierung zum Teufel gejagt wird, ebenso wie im Iran, wo der nächste Anlauf auf der Tagesordnung steht, die Mullahs zum Teufel zu jagen. In der gesamten arabischen Welt, wo die sozialen Widersprüche, der Hunger nach Freiheit, der 2010ff aufgebrochen ist, von einer neuen Generation von Wütenden auf die Tagesordnung gesetzt werden wird. Die Tendenz zum Krieg ist der weltweiten Verwertungskrise, der allgegenwärtigen Krise der Governance (mitsamt ihren Regionalkriegen) ebenso eingeschrieben wie die Reife zur vorrevolutionären Situation.
Das Telemeeting am Dienstagabend begann mit einer Analyse des jüngsten Angriffs auf die Hisbollah im Libanon und in Syrien.
Am 17. September wurden Tausende von Pagern, die von der Hisbollah gezielt eingesetzt werden, um die Verwendung von besser rückverfolgbaren Geräten (wie Mobiltelefonen) zu vermeiden, zur Explosion gebracht, was zu mehreren Toten und Tausenden von Verletzten führte, darunter auch der iranische Botschafter im Libanon. Abgesehen von Israel verfügt kein anderer Akteur in der Region über derartige technische Möglichkeiten und hat ein Interesse daran, die schiitische Miliz auf diese Weise zu treffen. Die Informationen über den Angriff sind nach wie vor widersprüchlich: Einige Medien behaupten, die Explosion der elektronischen Geräte sei durch eine Überhitzung der Batterien mit Hilfe von Schadsoftware verursacht worden, während andere Analysten über das Vorhandensein von Mini-Sprengladungen spekulieren, die zuvor in die Geräte eingesetzt wurden. Auf den gleichzeitigen Angriff auf die Pager folgte der Angriff israelischer Kampfjets, die mehrere Hisbollah-Stellungen 100 km von der Grenze entfernt trafen.
Milliarden von Dollar werden in die „elektronische Kriegsführung“ investiert, wobei mit dem Einsatz von Radiowellen zur Neutralisierung feindlicher Signale experimentiert wird. Es bahnt sich ein gigantischer Konflikt zwischen Empfangs-, Sende- und Verarbeitungssystemen an, die fast ausschließlich auf elektromagnetischen Wellen basieren („Phase Transition. General Warfare Trials“). Mit der Ausweitung des Internets der Dinge wird jedes Objekt potenziell vernetzt; öffentliche oder private Infrastrukturen können durch Cyberangriffe blockiert oder beschädigt werden. Die Explosion der Pager verschärft die Spannungen im Nahen Osten, wo Israel mit folgenden Problemen zu kämpfen hat: dem Krieg im Gazastreifen (der sich zu einem Vernichtungskrieg entwickelt), der Operation „Sommerlager“ im Westjordanland und den Zusammenstößen mit der Hisbollah im Libanon. Die gesamte Region hat mit einer schweren Wirtschaftskrise zu kämpfen: In Israel ist der Tourismus zum Erliegen gekommen, und die Produktionskette ist aufgrund der Mobilisierung von Reservisten an der Front in Schwierigkeiten geraten; der Libanon ist praktisch bankrott, und im Westjordanland haben Tausende von Palästinensern infolge des Krieges ihren Arbeitsplatz verloren. Zu dem sozialen Chaos und dem Krieg kommt das wachsende Elend hinzu.
Der Norden Israels ist unbewohnbar, Zehntausende von Israelis wurden wegen des ständigen Raketen- und Drohnenbeschusses aus libanesischem Gebiet evakuiert. Tel Aviv ist gezwungen zu reagieren, um die Abschreckung wiederherzustellen, und es ist falsch zu glauben, dass die „Schuld“ für das Massaker in Gaza beim jeweiligen Machthaber liegt. Nicht einzelne Personen machen die Geschichte, sondern sie sind ein Produkt der Geschichte. Es wird schwierig sein, die Hisbollah zum Einlenken zu bewegen, aber die israelische Regierung erklärt, dass sie sich darauf vorbereitet, die Situation mit der Partei Gottes zu lösen. „Die Situation im Norden kann so nicht weitergehen. Die IDF müssen sich auf eine umfassende Kampagne im Libanon vorbereiten“, sagte Premierminister Netanjahu.
In der vergangenen Woche haben die Houthis eine Rakete abgefeuert, die Israel erreichte, aber die Aktivitäten der bewaffneten jemenitischen Gruppe sind auch ein Problem für Handelsschiffe, die das Rote Meer durchfahren. In der Vergangenheit haben die USA und das Vereinigte Königreich Stellungen der Houthis im Jemen angegriffen, konnten deren Kräfte aber offensichtlich nicht neutralisieren. In diesem „Wargame“, an dem immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt sind, ist niemand „frei“, sondern jeder ist gezwungen, innerhalb eines komplexen booleschen Netzwerks (wenn/dann, 1/0) zu handeln. Wie der Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter schreibt, macht es keinen Sinn zu behaupten, „dass unsere Bedürfnisse irgendwie ‚frei‘ sind, oder dass unsere Entscheidungen es sind. Bedürfnisse und Entscheidungen sind das Ergebnis von physischen Ereignissen in unserem Kopf! Wie können sie frei sein?“ (Anelli nell’io. Che cosa c’è al cuore della coscienza?, 2010).
Im Gazastreifen, einem Gefängnis unter freiem Himmel, leben zwei Millionen Menschen auf einer Fläche von wenigen hundert Quadratkilometern zusammengepfercht, hungernd, ohne medizinische Versorgung und von der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Organisationen als Kanonenfutter benutzt. Im Westjordanland gibt es mehrere Gruppen junger Menschen, die nichts zu verlieren haben, die Israel blindlings hassen und von den IDF systematisch eliminiert werden. Die „Zweistaatenlösung“ wird von niemandem mehr geglaubt und es wird immer weniger darüber gesprochen. Israel hatte die Hypothese aufgestellt, die Palästinenser auf den Sinai, mitten in die Wüste, umzusiedeln. Unter den verschiedenen Projekten von Tel Aviv schien die Übersiedlung nach Jordanien („Jordanien ist Palästina“) das rationalste zu sein, aber selbst für diesen Plan scheint die Zeit abgelaufen zu sein.
Im Leitartikel der letzten Ausgabe unseres Magazins („”Non potete fermarvi”/ “Man kann nicht aufhören“) schrieben wir, dass wir es nicht mit lokalen Krisensituationen zu tun haben, sondern mit einer allgemeinen Krise, die die Strukturen der Staaten betrifft: Unregierbarkeit wird zur Lebensweise des kapitalistischen Systems. Im Sudan zum Beispiel ist die Situation völlig außer Kontrolle geraten, und dasselbe geschieht in Haiti. Die Ausweitung des Krieges ist eine Tatsache, der anhaltende Konflikt ist bereits weltweit. In Syrien hat der Kiewer Militärgeheimdienst eine russische Militärbasis in der Nähe von Aleppo angegriffen, und auch in Afrika kam es zu Zusammenstößen zwischen Russen und Ukrainern: Es scheint, dass die Kiewer Dienste mit den Tuareg in Mali gegen die russischen Söldner von Wagner zusammenarbeiten. Der russisch-ukrainische Krieg hat sich also nach Afrika und in den Nahen Osten verlagert, und zwar unter Beteiligung von Söldnern, Militärangehörigen und verschiedenen Parteigängern (z. B. dschihadistischen Gruppen).
Wir werden nicht von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt übergehen, wie einige Linke vage behaupten; wir werden mit einer zunehmend instabilen internationalen Situation konfrontiert sein. Dies zeigt sich an den neuen und sich verändernden globalen Allianzen, die gegen die USA gerichtet sind. Indien, ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern, versucht, sich eine eigenständige Rolle auf dem Weltschachbrett zu sichern: Es beteiligt sich mit den USA, Japan und Australien an einem antichinesischen Bündnis („Quadrilateral Security Dialogue”, QSD), ist aber auch Teil der BRICS. Die USA verlieren an Kraft, haben weltweit zu kämpfen und haben auch zu Hause verschiedene Probleme. Die politische Polarisierung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, bei der Donald Trump und Kamala Harris gegeneinander antreten, hat ihren Ursprung in der wirtschaftlichen und sozialen Polarisierung. Jedes Jahr sterben vierzigtausend Amerikaner bei Schusswaffenangriffen.
Es gibt zwei widersprüchliche Dynamiken: Auf der einen Seite breiten sich Chaos, Unregierbarkeit, Krieg und Elend aus; auf der anderen Seite führt die Notwendigkeit des Kapitalwachstums und der Steigerung der Arbeitsproduktivität zur Entwicklung strategischer Sektoren, die als profitabel gelten und von künstlicher Intelligenz über Automatisierung bis hin zu Netzwerken reichen. Auf der einen Seite löst sich die alte Gesellschaft auf, auf der anderen Seite produziert sie die materiellen Elemente der zukünftigen Gesellschaft.
Einige Studien der Bourgeoisie über Selbstorganisation konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, dass sich die Menschheit ohne Top-down-Strukturen organisiert, sondern die „netzartige“ Funktionsweise der Natur nachahmt: verteilte Informationen, autonom, aber integriert handelnde Einheiten, eine Art „organischer Zentralismus“, der auf Unternehmen, Armeen usw. angewandt wird (Auto-organizzazioni. Il mistero dell’emergenza nei sistemi fisici, biologici e sociali, De Toni, Comello e Ioan). Das Problem ist, dass die Strukturen dieser Gesellschaft hierarchisch sind, weil sie das Produkt der sozialen Arbeitsteilung sind, und wenn sie sich an eine Situation anpassen müssen, die sich zu sehr von ihren Ursprüngen unterscheidet, neigen sie dazu, sich aufzulösen.
Veröffentlicht am 24. September 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
“es ist eine täuschung, zu hoffen, es sei genug, es könne nicht schlimmer mehr kommen”
Christian Geissler: Kamalatta
Es ist erst ein paar Stunden her, dass mich Dellwo – du hast immer von ‘Dellwo’ und nicht von Karl-Heinz gesprochen, obwohl ihr euch doch so nahe standet (was für Details einem immer einfallen…)- angerufen und erzählt hat, dass sie dich heute tot in deiner Wohnung vorgefunden haben. Ich weiß nicht, ob deine Seele nicht mehr wollte, oder der Körper, es spielt auch keine wirkliche Rolle. Ich weiß, dass es dir in letzter Zeit meistens ziemlich dreckig ging, Karl-Heinz und ich haben uns neulich noch am Rande der Veranstaltung zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes in Kreuzberg darüber unterhalten. Ich habe dich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen, wir haben uns nur häufiger geschrieben und ab und zu telefoniert. Wie überraschend weich da deine Stimme immer klang, ich glaube die Wenigsten habe eine Ahnung davon gehabt, wie feinfühlig du warst. Und wir beide wissen, mein Lieber, dass es die Feinfühligen sind, die am meisten verzweifeln über dieses Elend der Welt und das, was Menschen einander antun.
Nun also werde ich keine Artikel mehr auf deinem Blog veröffentlichen können, und es waren verdammt viele Texte und Übersetzungen, die ich dank deiner Hilfe verbreiten konnte. Und niemand wird mir mehr die Geschichte mit dem Marxismus erklären…Ich weiß noch, wie ich vor nicht allzulanger Zeit zu dir meinte, ich sei einfach zu dumm dafür und du mir sagtest, das wäre alles garnicht so schwierig und du würdest es mir bei Gelegenheit erklären. Doch diese Gelegenheit wird nicht mehr kommen, dabei hatte ich mich so sehr auf die Veranstaltung mit dir im Rahmen unserer ‘Veranstaltungsoffensive’ im Sommer dieses Jahres in Berlin gefreut. Sich endlich wieder in die Augen sehen können, sich der Gemeinsamkeiten, der Wut und all der Liebe versichern können. Und natürlich das eine oder andere geteilte Bier. Wahrscheinlich wären es ziemlich viele Biere und ein paar Schnäpse geworden. Aber du musstest mir kurz vorher mitteilen, dass du es gesundheitlich nicht schaffen würdest, nach Berlin zu kommen, also haben wir improvisiert und einen Video Zoom gemacht und das hat zu meiner Überraschung gut geklappt und der volle Saal hing an deinen Lippen und du hast es sogar geschafft dich so auszudrücken dass ich Tropf alles verstanden habe. Und ich weiß wie schwierig das für dich war mit all deinen mäandernden Gedanken und Assoziationen. Und es hätte dir so gut getan, leibhaftig zu erleben, was deine Worte den Menschen bedeutet haben, wie wichtig du warst (und bleiben wirst) für die Wenigen, die in diesem elenden Lande noch ernsthaft auf der Suche nach einem neuem gesellschaftlichen Antagonismus sind. Ich weiß wie (zu Recht !) verletzt und gekränkt du durch all die Niedertracht und Missachtung der letzten Jahre warst. Wie es dich getroffen hat, dass dein letztes Buch hierzulande nicht einmal ernsthaft rezensiert wurde, während sich im fernen China einige wichtige intellektuelle Köpfe des Staatskapitalismus zur Präsentation der chinesischen Übersetzung von ‘Die Ekstase der Spekulation’ versammelten.
Nun Achim, wirst du mir nicht mehr in den frühen Stunden des Neujahrsmorgen ganz aufgeregt schreiben, ob und wie heftig das migrantische Surplus Proletariat es auf den Straßen von Berlin hat krachen lassen. Du wirst mir nicht mehr mitten in der Nacht betrunken Mitteilungen über deine Verbundenheit mit den (ehemaligen) ‘brothers and sisters in arms’ schreiben. Du wirst mir nie mehr schreiben…
Dabei hätten wir noch so vieles zu tun, Achim. Wir sind noch lange nicht fertig mit diesem Schweinesystem. Aber wie sollen wir das schaffen, endlich wieder zumindestens theoretisch wieder auf die Höhe der Zeit zu kommen wenn du nicht mehr bei uns bist. Die ganzen ersten Schritte zur Neukonstituierung einer wirklich materialistischen Kritik hierzulande hätte es wahrscheinlich ohne dich gar nicht gegeben, oder zumindestens nicht in dieser Form. Du hast den wesentlichen Anteil daran, dass Clovers epochales Werk ‘Riot.Strike.Riot’ auf deutsch erschienen ist, du hast dafür gesorgt, dass wir über das ‘NON’ reden, dass die Leute verstehen, was für eine Rolle das Surplus-Proletariat heute in den weltweiten Klassenkämpfen inmitten der allgegenwärtigen Verwertungskrise spielt (du könntest das viel geschmeidiger und substanzieller ausdrücken, ich weiß, mein Freund). Ich glaube, du hast nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie wichtig du für uns warst, auch wenn dieses ‘uns’, dieses ‘wir’, so unscharf in der derzeitigen Verwirrtheit daherkommen. Du hast das alles nicht gewusst, mein Lieber und ich habe es dir nicht wirklich oft und entschieden genug gesagt, mein Freund. Karl-Heinz hat dich noch letztens sinngemäß zitiert auf der Veranstaltung in Berlin und auch das wollte ich dir noch sagen, als ich dich vor einer Woche versucht habe anzurufen. Weil ich wusste, wie einsam und verfemt du dir häufig vorgekommen bist.
Doch du bist nicht ans Telefon gegangen und hast auch nur Karl-Heinz kurz geschrieben, dass “alles okay” sei. Doch nichts war und nichts ist ‘okay’. Nicht in deinem Leben, lieber Achim, nicht in unserem. Wir schweben alle im luftleeren Raum, so viel Geschichte, ach Achim, so viel Geschichte. Ich habe mir an diesem Abend im Jockel in Kreuzberg gewünscht, dass du dabei gewesen wärst, ich habe schon lange nicht mehr so viele aufgeregte, lebendige, warme Gesichter gesehen. Und so viel Geschichte… Die durch den Raum schwebte. Ja, so viel Geschichte. Davon haben wir reichlich. Doch was fangen wir damit an? Wie können wir daraus theoretische Werkzeuge gewinnen, um wieder in den Angriff zu kommen. Und wie sollen wir das alles anstellen ohne dich, Achim? Nein, nichts ist okay. Wir sind (fast) alle so müde und viele auch viel zu häufig viel zu einsam und verloren. Ein französischer Gefährte (auch so eine Verbundenheit, die sich merkwürdigerweise wie die unsrige über die räumliche Trennung hinweg so unwirklich real anfühlt) schrieb letztens in einem seiner klugen Aufsätze “Eine echte kollektive Macht kann man nur mit denjenigen aufstellen, die vor dem Alleinsein keine Angst mehr haben.” Und natürlich meint er damit, zumindest denke ich das, die politische Einsamkeit, die ‘wir’ alle in der Epoche des Corona Ausnahmezustandes zutiefst erfahren haben. Und die den (überfälligen) Bruch mit der gescheiterten historischen Linken unumkehrbar gestaltet. Und doch sind wir alles Subjekte, mit unseren Wunden, Wünschen, Sehnsüchten, wir sind alles und nichts, ohne den Anderen, die Andere. Martin Buber: “Der Mensch wird am Du zum Ich.”
Und so hab ich dich zu viel allein gelassen, mein lieber Achim, habe dir zu selten gesagt, wie wichtig und wertvoll du bist. Wie unersetzlich. Und so sitze ich hier mit meinen Tränen und deine Einsamkeit ist die meinige und deine Verzweiflung die meine. Und nichts bringt dich zurück zu uns, den lebenden Toten, die noch immer tanzen und hoffen und kämpfen. Aber das ist verdammt schwer ohne Menschen wie dich. Ich erinnere mich noch an diese kleine kalte Wohnung eines Genossen in der Kreuzberger Lilienthalstraße, wir hatten inmitten des Winters nur Kerzen zum Heizen, aber wir waren so unglaublich reich in jener Zeit. Und an den Wänden hing ein Plakat mit dem berühmten Foto von Gudrun und Andreas, das in einem Pariser Café entstanden ist, und darunter das Brecht Zitat: “Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. – Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. – Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. – Aber es gibt Menschen, die kämpfen ihr Leben lang: Das sind die Unersetzlichen.” Und so ein Unersetzlicher warst du, mein lieber Achim. Das wollte ich dir noch sagen, auch wenn du mich nicht mehr hören kannst.
Am 26. September findet vor dem Gericht von Turin die Anhörung der Anklageanträge statt, die sich aus den neuen Ermittlungen zur Entführung des Sektfabrikanten Vallarino Gancia ergeben, die am 4. Juni 1975 von der Turiner Kolonne der Roten Brigaden durchgeführt wurde und am folgenden Tag mit einer blutigen Schießerei vor dem Bauernhaus, in dem die Geisel festgehalten wurde, endete. Die Ermittlungen wurden wieder aufgenommen, nachdem der Rechtsanwalt Sergio Favretto im November 2021 im Namen von Bruno D’Alfonso, einem pensionierten Carabiniere und Sohn von Giovanni D’Alfonso, dem Leutnant, der bei der Schießerei ums Leben kam, bei der auch Mara Cagol [1], die Gründerin der Roten Brigaden, ihr Leben verlor und zwei weitere Mitglieder der Gruppe verwundet wurden, Klage eingereicht hatte.
Margherita Cagol
Die Anklage
Ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen beantragt die Turiner Staatsanwaltschaft den Prozess gegen vier ehemalige Brigadisten, Renato Curcio, 82, Lauro Azzolini, 81, Pier-Luigi Zuffada und Mario Moretti, beide 78, wobei letzterer „nur“ 44 Jahre Haft verbüßt hatte. Azzolini, weil er von der Staatsanwaltschaft für den (damals nicht identifizierten) „Brigadista” gehalten wurde, der zusammen mit Cagol die Geisel festhielt und nach der Schießerei in den Wäldern unterhalb von „la Spiotta“ verschwand. Die anderen drei, die nicht am Tatort anwesend waren, werden wegen moralischer Mitschuld am Tod des Carabiniere D’Alfonso angeklagt.
Die illegale Abhöraktion und der angeklagte Anwalt
Achtundzwanzig Fingerabdrücke wurden auf den Blättern gefunden, die der nach der Schießerei geflohene Brigadist an seine Genossen schrieb, um die Dynamik der Ereignisse zu beschreiben, was beweist, dass das sieben Monate nach der Schießerei gefundene Manuskript durch viele Hände gegangen war. Elf davon wurden Azzolini zugeschrieben, sieben nicht identifiziert und zehn als unbrauchbar eingestuft. Das Fehlen entscheidender Beweise – wie der Angeklagte selbst meinte – veranlasste die Staatsanwaltschaft, sich ganz auf die Überwachung des Umfelds zu konzentrieren, was dazu führte, dass eine beeindruckende Anzahl von Abhörmaßnahmen durchgeführt wurde, bei denen Dutzende von Personen betroffen waren: ehemalige Angeklagte, Familienmitglieder und Freunde, sogar Anwälte. Davide Steccanella, der Anwalt von Azzolini, wurde wiederholt ins Visier genommen, was einen schweren Verstoß gegen das verfassungsmäßige Recht auf Verteidigung darstellt. Azzolini wurde mit Hilfe eines in seinem Mobiltelefon installierten Trojaners 222 Mal abgehört, die meisten dieser Abhörmaßnahmen wurden durchgeführt, bevor die Justizbehörde im Mai 2023 die Wiederaufnahme der Ermittlungen genehmigte. Bis zu diesem Zeitpunkt war seine Rechtsstellung die einer Person, die durch ein Urteil der Justizbehörde von Alexandria vom 3. November 1987 freigesprochen wurde.
Der Freispruch verschwindet
Gegen Azzolini wurde bereits früher ermittelt und er wurde zusammen mit Angelo Basone, der inzwischen untergetaucht ist, freigesprochen. Die Wiederaufnahme der Ermittlungen wurde von der Justizbehörde bewilligt – eine beunruhigende Tatsache -, ohne dass das Urteil zum Freispruch und die Akten des Falles geprüft werden konnten, die 1994 nach dem Hochwasser des Flusses Tanaro, dessen Wasser die Archive des Gerichts von Alessandria verwüstet hatte, zerstört worden waren. Kurz gesagt, eine blinde Wiederaufnahme des Verfahrens, sozusagen auf der Grundlage der Gutgläubigkeit der Staatsanwaltschaft.
Ein Weg zur Umgehung der Verjährungsfrist
Die Liste der beunruhigenden Episoden ist lang, wir wollen nur einige erwähnen: die Anklage gegen Zuffada, der zum Zeitpunkt der Schießerei abwesend war. Trotz der Tatsache, dass er laut derselben Staatsanwaltschaft nur eine anfängliche Rolle bei der Entführung gespielt hatte (ein verjährter Straftatbestand) und dann das Gehöft verließ, als seine Aufgabe erfüllt war, wird er dennoch wegen moralischer Mitschuld an der Ermordung von Carabiniere D’Alfonso zur Rechenschaft gezogen, anstatt wegen „anormaler Mitschuld“, wie es bei Massimo Maraschi der Fall war. Der Brigadist wurde unmittelbar nach der Entführung verhaftet und auch für die Erschießung verurteilt, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Polizeibeamten von Acqui Terme befand. Das „anomale Einverständnis“ würde, da es eine andere Strafe als lebenslange Haft vorsieht, die Verjährung eintreten lassen, weshalb die Staatsanwaltschaft auf eine schwerere Verbrechensqualifikation zurückgegriffen hat, um vor Gericht zu gehen.
Das Dokument vom Oktober, das nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Vergangenheit vorweggenommen hätte
Surreal ist dann der Vorwurf der moralischen Mitschuld, der gegen Curcio und Moretti erhoben wird, auf der Grundlage eines Satzes, der in einem (nicht von ihnen) vier Monate nach der Schießerei geschriebenen Artikel in einer Untergrundpropagandazeitung, Lotta armata per il comunismo, zu finden ist, der für die Staatsanwälte einen prädiktiven Wert gehabt hätte, ein Beweis für eine von der Führung der Roten Brigaden erlassene interne Direktive. Der Text versuchte auf umständliche Weise, die Katastrophe von Spiotta herunterzuspielen, indem er das Feuergefecht als Folge einer Direktive rechtfertigte, die in solchen Fällen vorschreibt, „die Umzingelung zu durchbrechen“. Und so waren Curcio und Moretti (ersterer in Mailand, wo er sich nach der Flucht aus dem Gefängnis von Casale Monferrato im Februar letzten Jahres verstecken musste, letzterer damit beschäftigt, die Kolonne Genovese aufzubauen und die ersten Kontakte für die Gründung der römischen Kolonne zu knüpfen), nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die wahren moralischen Anstifter der Schießerei, obwohl die Entführung von der Turiner Kolonne so organisiert und durchgeführt wurde, dass jeder Kontakt mit den Ordnungskräften hätte vermieden werden müssen, auch dank der Höhenlage des Gehöfts, die es ihnen ermöglichte, die Zugangswege zu kontrollieren. In keinem strategischen Dokument, das von den BR erstellt wurde und somit normativen Wert hat, wird eine solche Regel jemals erwähnt. Mehrere wurden vor der Entführung verfasst: über die Regeln des individuellen Verhaltens der Kämpfer und über die Organisation, so dass Massimo Maraschi selbst, der eine Rolle bei der Bewachung der Geisel hätte spielen sollen (er hätte nach „la Spiotta“ zurückkehren sollen, um den beiden allein gelassenen Genossen zu helfen), im Moment der Polizeiaktion nur versuchte zu entkommen, ohne einen Schuss abzugeben. Der unvorhersehbare Charakter der Schießerei geht auch aus einigen klaren Passagen im Bericht des geflohenen Militanten der BR hervor, der von den Ermittlern als zuverlässig angesehen wird, in dem der Mann und die Frau aufgeregt darüber diskutieren, ob sie die Geisel bei der Flucht zu ihrem Schutz einsetzen sollen oder nicht, und Cagol sagt, sie sei dagegen und sie habe sich dann aus dem Bauernhaus gestürzt, „mit einer Handtasche über der Schulter und einer Pistole in der Hand“, mit „zeppe“ an den Füßen (Sommersandalen mit erhöhtem Absatz), offenem Schuhwerk, das für eine Flucht auf dem Land durch Brombeeren und Gestrüpp ungeeignet ist, wie auf den Fotos seines leblosen Körpers zu sehen ist, die von der Gerichtsmedizin aufgenommen wurden.
Schweigen über den Tod von Mara Cagol
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Fehlen einer Untersuchung der Umstände, die zum Tod von Mara Cagol geführt haben, obwohl Renato Curcio, ihr damaliger Ehemann, dies während des Verhörs gefordert hatte. Die Brigadistin, die zunächst am Handgelenk und am Rücken verwundet wurde, saß am Hang und hatte die Hände zum Zeichen der Kapitulation erhoben. Der tödliche Schuss traf sie in der Achselhöhle und durchbohrte ihre Brust von rechts nach links. Eine kalte Hinrichtung. Neben dem Carabiniere Barberis, der zuerst auf sie geschossen hatte, trafen bald auch andere Mitglieder der Polizei am Tatort ein. Die Staatsanwälte hielten es nicht für nötig, den Sachverhalt aufzuklären, um eine völlig unausgewogene Untersuchung wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Ein Waterloo für die Dietrologia [2]
Abschließend sei noch auf die unvermeidliche Einführung der Diethrologia in die Affäre hingewiesen. Die ursprüngliche Enthüllung des ehemaligen Carabiniers Bruno D’Alfonso, die die Wiederaufnahme der Ermittlungen auslöste, inspirierte nicht weniger als zwei Bücher: L’invisibile, edizioni Falsopiano (mit einem Vorwort von D’Alfonso selbst) und später Radiografia di un mistero irrisolto, Bibliotheca, beide geschrieben von zwei Journalisten, Berardo Lupacchini und Simona Folegnani. Die Autoren waren überzeugt, die Identität des „Unsichtbaren“, des nach dem Feuergefecht geflohenen Brigadisten, in der Person von Mario Moretti ausgemacht zu haben. Er wird – auf der Grundlage einer reichhaltigen Verschwörungsliteratur (es war der übliche Sergio Flamigni, der die Anschuldigung als erster in die Welt setzte) – als Erbschurke dargestellt, als skrupelloser Charakter, der, versteckt in der dichten Vegetation, wo er Unterschlupf gefunden hatte, um den Angriffen Barberis zu entgehen, einen plötzlichen Gedanken, eine strategische Voraussicht gehabt hätte, die ihn dazu gebracht hätte, Mara Cagol ihrem Schicksal zu überlassen, um ihren Platz an der Spitze der Organisation einzunehmen.
Eine Quadratur des Kreises, die den damaligen Richter Guido Salvini erregt hatte, der in der Zwischenzeit Anwalt der Zivilparteien geworden war und immer bereit war, die abstrusesten ‘ditrologischen’ Vermutungen zu reiten. Der ehemalige Ermittler stellte sich sofort zur Verfügung, indem er, wie es seine Gewohnheit war, den Boden des Fasses, die Reste des Gefängnisses, auskramte und Mitarbeiter der Justiz befragte, die immer etwas schuldig waren, um Gerüchte zu sammeln, die als Beweise verpackt werden sollten. Eine zweideutige Überschneidung von Rollen und Funktionen, bei der es schwierig zu sein scheint, zu unterscheiden, wo die neue Tätigkeit des Anwalts beginnt und die des Richters endet. Die beiden Journalisten waren damit nicht zufrieden und stellten sogar die Hypothese auf, dass der SID [3] die ganze Angelegenheit aus der Ferne gesteuert hätte, indem er über einen seiner Vertrauten die Flucht des „bösen“ Moretti in die Via Fani [4] gelenkt hätte, wohin alle Wege der Diethrologia unweigerlich führen. Nur Leonio Bozzato, der Spion des SID, der in der Autonomen Versammlung von Porto Marghera kämpfte, gab auf mehrfache Befragung durch die Staatsanwaltschaft anstelle von Moretti den (damals inhaftierten) Alberto Franceschini an, als jenen unbekannten Brigadisten, der von “la Spiotta” geflohen und Teil des Komplotts war.
Der Richter oder der Historiker?
Bislang hat die Öffentlichkeit dieser Ermittlungsmaßnahme wenig Aufmerksamkeit geschenkt, die kulturelle und politische Debatte wurde von den wichtigen Fragen, die sie aufwirft, abgelenkt. Nach den Absichten der Staatsanwaltschaft und der Liste der geladenen Zeugen soll dieser Prozess eine Art abschließendes historisches Ereignis darstellen, eine Neuauflage des Prozesses gegen den so genannten „historischen Kern“, der die endgültige Abschließung des italienischen zwanzigsten Jahrhunderts unter der Axt der permanenten Bestrafung jenseits aller Zeiten und Epochen sanktionieren soll, eineDamnatio memoriae, die jedoch den Beigeschmack eines Exorzismus hat und hinter der sich eine pathogene Angst, eine quälende Furcht vor der Vergangenheit verbirgt. Dennoch wäre es naheliegend zu fragen, ob es ein halbes Jahrhundert später noch sinnvoll ist, sich dieser fernen Zeit mit den Mitteln der Strafverfolgung zu nähern. Wer sollte sich damit befassen: Staatsanwälte oder Historiker? Ist es nicht nur irreführend, sondern auch die effektivste Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung, eine historische Epoche von sozialen Fakten zu entleeren und sie ausschließlich durch strafrechtliche Erinnerung zu ersetzen? Die Frage betrifft natürlich nicht nur die Methode, die Instrumente zur Kenntnis der Fakten, sondern auch die Ziele: Was braucht die Gesellschaft, die sich fünfzig Jahre später verändert hat, wirklich? Nur Schuldige, die um jeden Preis zu verurteilen sind und die am Ende Gefahr laufen, nur Sündenböcke zu sein?
Fussnoten der deutschen Übersetzung
[1] Zum Tod von Margherita Cagol siehe die Erzählung von Nanni Balestrini: ‘Lasst tausend Hände die Waffe aufheben’, auf deutsch auf Sunzi Bingfa veröffentlicht.
[2] Spezielle italienische Verschwörungserzählung, ursprünglich u.a. im Zusammenhang mit der OK, dann später aber sehr gerne im Zusammenhang mit der Genese des Bewaffneten Kampfes in Italien, und insbesondere im Zusammenhang mit der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, wo die irrsinnigsten Theorien und angebliche Beweise in den Medien breit getreten wurden (und werden), von der Beteiligung des Mossads, der Freimaurer bis hin zu KGB und CIA.
[3] Servizio Informazioni Difesa (SID), mittlerweile aufgelöster Geheimdienst, der dem Verteidigungsministerium unterstellt war
[4] Ort der Entführung von Aldo Moro
Ursprünglich veröffentlicht am 20. September 2024 auf Insorgenze, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
Ein eigentlich nicht besonders ergiebiges Gespräch für alle, die sich mit dem Thema schon beschäftigt haben, da aber Indymedia Deutschland diese Übersetzung mittlerweile wieder im ewig gestrigen Wahn gelöscht hat, dokumentiert Bonustracks in verschwörerischer Verbundenheit an dieser Stelle die Übersetzung, die uns erreicht hat.
Vor vier Jahren löste die Ankunft der Covid-19-Pandemie in Frankreich eine Reihe von Gesundheitsmaßnahmen aus, um sie einzudämmen. Von Einschließungen über Ausgangssperren, Schließungen öffentlicher Orte bis hin zu Gesundheits- und Impfpässen war es oft der polizeiliche Aspekt des Umgangs mit der Pandemie, der den rein gesundheitlichen Aspekt überlagerte, ohne dass dies enorme Protestwellen auslöste. In einem Versuch, diese Verblüffung abzuwenden, stellt das Konspirationistische Manifest (veröffentlicht 2022) die Bewältigung der Covid-Krise in einen langfristigen Kontext: den der Arbeit, die von zahlreichen Institutionen geleistet wird, um die Meinung zu manipulieren und die Massen zu konditionieren.
Wir teilen einige Analysen mit diesem wuchtigen und sehr gut recherchierten Buch und wollten einige Punkte (über Verschwörungstheorien, die Schädlichkeit des Virus oder die extreme Rechte) klarstellen. Denn wenn ein Buch wie dieses veröffentlicht wird (und dann wieder depubliziert wird, wie man im Interview unten erfährt), muss es zur Debatte gestellt werden – ihm mit stiller Verachtung zu begegnen, wäre lächerlich. Aus diesem Grund haben wir eine Reihe von Fragen an die Autoren gerichtet. Wenn man ihre Antworten liest, besteht unsere größte Meinungsverschiedenheit in den Gefahren einer Position der Gegenexpertise. Wir halten es nicht für notwendig, sich auf hochspezialisierte medizinische Studien zu stützen, um politische Fragen zu beantworten, genauso wie wir es für möglich halten, politische und sogar radikale Positionen zu beziehen, ohne sich auf irgendeine „Wahrheit“ zu berufen. Viel Spaß beim Lesen!
Vorwort Collectif Ruptures
Frage: Das Manifest ordnet das Covid-Krisenmanagement mit seinen Anstupsern, Bescheinigungen, Ausgangssperren und Kommunikationsmaßnahmen in eine lange Geschichte ein: die Arbeit zahlreicher Institutionen (allen voran der Staaten) im 20. Jahrhundert Können Sie die Grundzüge dieses „social engineering“ skizzieren?
Antwort: Das Trauma, so ein gewisser Freud, entsteht durch die Verbindung von Schrecken und Überraschung. Alle Arten von Regierungsdokumenten, die seither veröffentlicht wurden1, belegen, dass das Covid-Krisenmanagement sowohl in China als auch in Europa bewusst mit diesen beiden Hebeln gearbeitet hat. Es handelt sich hierbei um die Herstellung eines Massentraumas durch die Machthaber in ganzen Ländern. Wie meist nach einem Trauma herrscht seither Schweigen über die Episode, eine dumpfe Weigerung, sie wieder aufzugreifen, ein verlegenes Ausweichen bei ihrer Erwähnung und schließlich eine plötzliche, zittrige Verletzlichkeit gegenüber allem, was sie reaktiviert – die QR-Codes für die Olympischen Spiele, eine neue Impfkampagne, die Erpressung mit dem sozialen Tod bei jedem, der es wagt, den aufgezwungenen Konsens über den Krieg in der Ukraine, die Massaker in Palästina, den „kommenden Faschismus“ usw. in Frage zu stellen. Dieses Schweigen zeugt sowohl in Gesprächen als auch in den Medien von der Verleugnung des Traumas. Jahr für Jahr vertieft sich das Trauma so im Unbewussten der Epoche, von wo aus es schließlich unsichtbar alles steuert. Das macht diesen Moment des „Corona“ nicht zu einer „dystopischen“ Episode, sondern zu einem echten konstituierenden Akt, der blitzartig eine neue Konfiguration der Welt entwirft – die Art von Ausnahmemoment, mit dem der Herrscher eine neue Ordnung errichtet.
Die Macht der Verleugnung ist so groß, so zwingend, so allgemein, dass im Fall des Konspirationistischen Manifests in Frankreich ein beispielloses Verfahren erfunden werden musste, um es aus dem Verkehr zu ziehen: seine Depublizierung durch den Verlag Le Seuil nach mehr als einem Jahr der Verbreitung des Titels – und das natürlich in völligem Schweigen. Die Perfektion der Zensur ist erreicht, wenn man sogar die Tatsache, dass man zensiert, zensiert2. Die Frage, die sich uns allen seither stellt, lautet: Wie kämpft man gegen die Verleugnung? Reicht es aus, darüber zu sprechen, auch auf die Gefahr hin, dass das Corona-Krisenmanagement zur Obsession wird, wenn die meisten „sich bemühen, nicht daran zu denken“ (Freud, Jenseits des Lustprinzips)? Wie soll das gehen, wenn 85 % der erwachsenen französischen Bevölkerung zweimal „geimpft“ sind? Wer will schon zugeben, was mittlerweile in den „etabliertesten“ medizinischen Fachzeitschriften3 steht, nämlich dass das Heilmittel „Impfung“ für die meisten Menschen schädlicher war als das Übel, das es angeblich verhindern sollte, wie das Manifest so skandalös zu behaupten wagte? Wie kann man in Unschuld weiterleben, wenn sich herausstellt, dass der alte Freund, der sich nie von den Schlaganfällen nach der zweiten und dritten Dosis erholt hat, durch Euer Wohlwollen auf Vorschlag der gesamten „Gesellschaft“ gestorben ist? Was sagt man denjenigen, die ihr allzu sportliches Kind mit 15 Jahren durch einen Herzinfarkt oder ihren Partner innerhalb eines Monats nach der Injektion durch einen aggressiven Bauchspeicheldrüsenkrebs verloren haben? Wie kann man aus der Reihe der Mörder herausspringen? Mit dem Manifest sind wir die Wette eingegangen, dass eine der Möglichkeiten, nicht vor Schmerz verrückt zu werden, darin besteht, einen Schritt zurückzutreten und sich ein wenig Tiefeschärfe zu gönnen, insbesondere eine historische. Wer aus dem Alptraum der Geschichte erwachen will, muss sich sehr wohl darum bemühen, die Abfolge von Katastrophen zu verstehen, die uns an diesen Punkt des globalen Wahnsinns gebracht haben. Das ist die Funktion aller Genealogien, die im Manifest enthalten sind – keine Übung in Gelehrsamkeit, sondern ein Versuch des Exorzismus. Wir waren die ersten, die erschüttert waren, als wir einen Monat nach Erscheinen des Buches die skrupulöse Bestätigung dieser Genealogien durch den in der ukrainischen Affäre erklärten „neuen Kalten Krieg“ feststellten. All diese Rhetorik der totalen Mobilisierung, all dieses Pathos der heiligen Einheit, all diese neue khakigrüne Wirtschaft sind die logische Folge der Offensive, die anlässlich von „Corona“ gestartet wurde.
Frage: Das Ergebnis der Geschichte ist selten das, was ihre Akteure, selbst mächtige, angestrebt hatten. Läuft eine Sichtweise wie die von Ihnen dargestellte nicht Gefahr, die Kohärenz all dieser Vorkehrungen zu übertreiben? Eine allgemeine und siegreiche Verschwörung zu sehen, wo es in Wirklichkeit eine Vielzahl kleinerer Verschwörungen gibt, die nicht genau die beabsichtigten Wirkungen erzielen?
Antwort: Lassen Sie uns aus dem Konspirationistischen Manifest zitieren: „Die Verirrung ist nicht der Verschwörungswahn, sondern der Unterverschwörungswahn: die Tatsache, dass man nur eine große Verschwörung erkennt, obwohl es unzählige gibt, die in allen Richtungen, überall und zu jeder Zeit ausgeheckt werden.“ (S. 55) Das Minimum an dialektischem Sinn erfordert, dass man sich von historischen Allgemeinplätzen fernhält, wenn man sich um das Verständnis einer bestimmten Konjunktur bemüht. Es gibt ein kleines Detail, das man im Hinterkopf behalten sollte, wenn man die aktuelle Periode entschlüsseln will: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren Reichtum und Macht auf sozialer und globaler Ebene noch nie so konzentriert. Wie es im Vorwort zur US-amerikanischen Ausgabe des Manifests heißt, „gibt es einen solchen Grad der Anhäufung von Reichtum und Macht, dass die Führungsteams trotz all ihrer Empirie Pläne und nicht mehr nur Strategien entwickeln können“. Pläne, Sie haben richtig gelesen, nicht einen einzigen Plan.
Frage: Sie zeigen, wie das Management der Gesundheitskrise es ermöglicht hat, die weltweite Welle von Revolten im Jahr 2019 (Gelbwesten, Hongkong…) zu ersticken. Muss man daraus schließen, wie Sie es tun, dass diese Episode nur eine Medienoffensive war und dass das Virus harmlos war? Es ist erwiesen, dass die industrielle Produktionsweise pathogen ist, vor allem in der Massentierhaltung. In unserer Gesellschaft der allgemeinen Lüge meldet sich manchmal das Verdrängte auf brutale Weise. War Covid-19 nicht diese Wiederkehr des Verdrängten der Industriegesellschaft?
Antwort: Wir können Ihnen die Lektüre des Konspirationistischen Manifests nicht genug empfehlen. Im Gegensatz zu dem, was die journalistische Verleumdungskampagne, die es seltsamerweise schon vor seinem Erscheinen ins Visier genommen hat, behaupten konnte, ist darin von „einem Virus, das kaum dreimal tödlicher ist als die saisonale Grippe“ (S. 255) die Rede, wovon Ihnen jeder seriöse Statistiker heute rückblickend sagen wird, dass das schon großzügig genug ist. Angesichts der weltweiten Welle von Revolten, die im Herbst 2019 ihren Höhepunkt erreicht, stellt das Manifest fest, dass das Auftreten dieses neuen Coronavirus für die Regierenden dieser Welt eine „göttliche Überraschung“ (S. 91) darstellte – was durch die seither andauernde Konterrevolution hinreichend belegt wird.
Es hat etwas Rührendes an sich, wie man in Frankreich [wie in Deutschland auch, AdÜ] verzweifelt versucht, die im Ausland erscheinenden Entdeckungen, Studien und Enthüllungen rund um das Thema Covid-19 zu ignorieren. Wer hat in Frankreich von dem Skandal gehört, der diesen Sommer in Deutschland durch die Offenlegung des gesamten Schriftverkehrs zum Umgang mit Covid zwischen dem Robert-Koch-Institut und der deutschen Regierung4 ausgelöst wurde? Oder darüber, was die englischen Statistiken über die Sterblichkeit aller Todesursachen in Abhängigkeit vom „Impfstatus“ offenbaren5, oder über die japanische Studie über die Nebenwirkungen der „Impfung“6 und die komischen Umstände ihres Widerrufs? Wer hat von den urkomischen Anhörungen im Mai und Juni dieses Jahres vor einem Ausschuss des US-Kongresses von Anthony Fauci7 und Peter Daszak8 oder von der Veröffentlichung der E-Mails dieser Leute erfahren? oder das Projekt der Umweltorganisation EcoHealth Alliance, das 2018 bei der DARPA eingereicht wurde, um in das Spike-Protein eines Coronavirus die Furin-Spaltstelle einzuführen, die SARS-Cov 2 beim Menschen so ansteckend macht und es gleichzeitig zu einer derartigen Anomalie im Vergleich zu allen anderen Sarbecoviren9 macht, und in Wuhan daran zu arbeiten? Es ist eine seltsame Magie des Geistes, dass solche Nachrichten die französischen Grenzen nur schwer überschreiten können. Um ehrlich zu sein, stößt man auch auf taube Ohren, wenn Nicolas Mariot, ein Historiker des Ersten Weltkriegs am CNRS, die Absurdität der Einschließung mit ihren Selbsttests, dem Verbot in bestimmten Departements, auch nur ein Baguette oder eine Zeitung zu kaufen, und dem beispiellosen Polizeieinsatz noch einmal aufgreift, um darin den Ausdruck der „alten Gewohnheiten der strafenden Verwaltung der Bevölkerung“ in Frankreich und ein Maß an Gehirnwäsche zu erkennen, das der Union sacrée10 im Jahr 1914 würdig ist.
Es hat auch etwas Rührendes, wie sich Linke und Umweltschützer seit den ersten Tagen des Jahres 2020 an die These der Zoonose, des Schuppentiers oder des Marderhundes klammern. Wir verstehen sehr gut, wie ideologisch tröstlich es für sie und für uns alle wäre, wenn ein tödliches Virus, das „den Planeten zum Stillstand gebracht“ hat, aus den konzentrationslagerähnlichen Lebensbedingungen stammt, die Haustieren in der Massentierhaltung auferlegt werden – wenn diese Gesellschaft selbst endlich die Toxizität und den selbstmörderischen Charakter ihrer eigenen Organisation anerkennen würde. Diese erfreuliche Aussicht wird nur durch alle Enthüllungen widerlegt, die seither über die Forschung zur Funktionsverbesserung von potenzierten Coronaviren in den BSL-2-Laboren11 in Wuhan gemacht wurden. Leider deutet alles auf das Institut für Virologie in Wuhan hin. Die Zoonose-These hat außerdem den entscheidenden Nachteil, dass bislang niemand den Vermittler zwischen Fledermaus und Mensch gefunden hat. Erlauben Sie uns, Sie ausnahmsweise auf die New York Times12 zu verweisen, ohne den US-Senat zu erwähnen13. Es gibt zwar eine Studie zur Verbreitung von SARS-CoV-2 rund um den Meeresfrüchtemarkt von Wuhan im Dezember 2019 und Januar 2020, also mehr als zwei Monate nach seinem Auftreten, wenn man seiner molekularen Uhr glauben darf14, aber diese Studie kann sich nicht auf seinen Ursprung beziehen, sondern nur auf seine Ausbreitung. Außerdem haben wir jetzt einen überzeugenden Einblick in die Atmosphäre der echten Verschwörung, die im Februar und März 2020 herrschte, als Fauci, Daszak, Farrar oder Collins die These vom Laborleck disqualifizierten, mit ihren geheimen Treffen, Wegwerfhandys, gelöschten Nachrichten und Ad-hoc-Mailadressen15. Wir wissen heute, dass diejenigen, die im März 2020 in Nature medecine einen Beitrag veröffentlichten, in dem die These vom Laborleck als „Verschwörungstheorie“ gegeißelt wurde, zunächst eher Befürworter dieser These waren, da sie die Molekularstruktur von SARS-CoV-2 beobachtet hatten. Doch wie einer von ihnen damals schrieb: „Eine langwierige Debatte über solche Anschuldigungen [eines Laborlecks] würde Spitzenforscher unnötig von ihren Pflichten ablenken und der Wissenschaft im Allgemeinen und der chinesischen Wissenschaft im Besonderen unnötigen Schaden zufügen.“ Damit ist alles gesagt, oder?
Frage: Der Autoritarismus der liberalen Eliten verkörperte sich beispielhaft im Umgang mit der Gesundheitskrise und während der beiden Fünfjahresperioden unter Macron. Heute sehen wir den Aufstieg von politischen Kräften, die ebenso autoritär sind, aber aus dem Postfaschismus, dem populistischen Nationalismus oder der identitären Strömung stammen. Nähren sich diese reaktionären politischen Kräfte nicht von den verschwommenen Protesten (gegen „das System“ oder „die Eliten“), die von einem Teil der jüngsten Bewegungen getragen werden? Besteht nicht die Gefahr, zu den „nützlichen Idioten“ der extremen Rechten zu werden, wenn man nicht Positionen vertritt, die einen klaren Bruch mit ihren Werten darstellen?
Antwort: Es ist die gleiche Bereitschaft in uns, die sich dem Nachweis eines aus einem Labor entwichenen SARS-CoV-2 widersetzt, der Feststellung, dass die „gesundheitspolitischen“ Maßnahmen gegen Covid-19 Syndemie16 völlig abwegig waren, den Beweisen für den bewussten Umgang der damaligen Regierungen mit dem Trauma oder dem Erkennen der zynischen Bosheit der multinationalen Pharmakonzerne. Zuzugeben, dass Regierende nicht einfach nur Versager und Inkompetente sind, die „tun, was sie können“, sondern dass eine Bevölkerung zu regieren im Wesentlichen bedeutet, Krieg gegen sie zu führen, dass wir uns also in den Händen von Menschen befinden, die uns nichts Gutes wollen, bedeutet, dass uns plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird und der Großteil unserer Gewissheiten wegbricht. Das widerspricht dem so verbreiteten Traum, endlich Frieden zu haben. Das ist der Grund, warum so viele Opfer von Perversen Entschuldigungen für denjenigen finden, der sie traumatisiert. Die verdrehten Vorstellungen von Aufstandsbekämpfung in der Bevölkerung sind längst vom Militär auf die Marketingabteilungen, Kommunikationsagenturen und die Spitzen von Unternehmen und Staaten übergegangen.
Wenn wir sie [also Spitzen der Unternehmen und Staaten; AdÜ] wären, würden wir uns, anstatt verirrte „Verschwörungstheoretiker“ zu bekehren, mehr um all die „aufgeklärten“ Protestler, die „politisierten“ Gewissen, die engagierten Aktivisten und die guten Seelen der Linken kümmern, die sich durch ihre Identifikation mit der Gesellschaft, sich periodisch – anlässlich einer Pandemie, einer Protestbewegung, einer Wahl oder der Olympischen Spiele – dabei wiederfinden, genau das zu tun, was die Regierungsstrategen von ihnen wollen, und dies auch noch ideologisch und moralisch zu rechtfertigen. Nur sie können nicht erkennen, dass ihre Art und Weise, überall „Faschisten“ aufzuspüren, auch in Leuten, die nicht die geringste politische Konsistenz haben, zwar ihrem Ego schmeichelt, aber tatsächlich diejenigen faschisiert, die sie verunglimpfen. Schließlich ist es nicht so einfach, im Zeitalter der allgemeinen Regierungstrollerei wirklich, einzigartig und gelassen eine Position zu vertreten. Was die systemische Komplizenschaft zwischen dem macronistischen Machtzentrum und dem RN angeht, so ist diese seit der Wahlsequenz im Juni und Juli letzten Jahres durch zahlreiche Quellen belegt17 – und es gibt immer noch linke Idioten, die Elisabeth Borne18 wählen und sich dabei die Nase zuhalten. Was wollen Sie?
Frage: Ist das Buch noch in Buchhandlungen erhältlich?
Antwort: Nein. Wie wir präzisieren, wurde das Konspirationistische Manifest im Frühjahr 2023 auf Druck von innen und außen beim Verlag Seuil depubliziert. Im Verlagswesen ist die Depublizierung ein neuartiges Verfahren, eine Erfindung, die zweifellos das Buch ehrt, für das sie erdacht werden musste. Man depubliziert Facebook-Posts oder Tweets, aber ein Buch…, das sich zudem gut verkauft. Die „Depublizierung“ eines Buches besteht in der einseitigen Rückgabe aller Rechte, aller Beträge und aller Bücher an die Autoren, verbunden mit der Löschung des Buches aus dem Katalog des Verlagshauses. Frankreich ist – muss ich das erwähnen? – das einzige Land, in dem ihm dies passiert ist. Das bedeutet, dass das Manifest nun in den meisten „großen“ Sprachen der Welt erhältlich ist, abgesehen von seiner Originalsprache. Das ist ziemlich genial, oder?
Die ganze Geschichte hat etwas ziemlich Putinsches an sich, muss man sagen. Denn nicht nur haben sich die Polizeidienste im Vorfeld der Veröffentlichung erlaubt, unsere doch diskreten Treffen mit dem Chef des Verlags Seuil zu überwachen, sondern sie sind sogar so weit gegangen, unsere Korrespondenz mit ihm abzufangen und zu vernichten, sobald wir ihn darüber informierten, dass die schlecht gemachte staatliche Beschattung aufgeflogen war. Die letzte Nachricht über das Manifest stammt aus dem Mai dieses Jahres: Die Eigentümer von Le Seuil haben beschlossen, den Geschäftsführer ohne Abmahnung zu entlassen, weil er es unter anderem gewagt hat, dieses Buch zu veröffentlichen. Auch wenn es ihnen nur darum ging, die im Wesentlichen politischen Motive für diese Entlassung zu verschleiern, ist bekannt, dass eine Reihe von Menschen das Erscheinen des Buches bei Le Seuil nie verdaut haben.
Die Neutralisierung der rhetorischen Waffe, die das Epitheton „Verschwörungstheoretiker“ seit Popper darstellt, indem man es in einem neuen Sinn annimmt – nämlich als Befürworter der Tatsache, dass man sich verschworen hat -, bleibt dennoch eine gute Idee und eine Sache, die mehr denn je notwendig ist. Wer sieht nicht, dass diese Waffe tagtäglich dazu dient, jede Kritik am Bestehenden zu disqualifizieren, die auch nur ansatzweise Konsequenzen hätte? Aber wir leben in einer Welt, in der es an ubu-haftem „Umor“19 mangelt! Vielleicht ist dies im Grunde das erste Zeichen des „Faschismus“.
2 [Für die deutsche Übersetzung konnte zunächst gar kein Verlag gefunden werden. Es erschien dann eine klandestine Version, sowohl online als auch gedruckt. – http://magazinredaktion.tk/konspiration/inhalt.php – Später erschien doch eine Verlagsversion, leider in einem fragwürdigen Verlag. AdÜ]
10 [Als Union sacrée (etwa: geheiligter Bund) wird in Frankreich die Aussetzung innenpolitischer Streitigkeiten angesichts der Verteidigung der Nation im Ersten Weltkrieg bezeichnet. AdÜ]
11 Oder ein niedriges Schutzniveau, das lediglich aus einem geschlossenen Raum mit Abzugshaube, einem sterilen Arbeitsbereich und grundlegenden Schutzmaßnahmen für die Arbeitnehmer besteht.
16 https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(20)32000-6.pdf [Das Konzept der Syndemie wurde ab den 1990er Jahren durch den Medizinanthropologen Merrill Singer geprägt. Laut Merrill müssen drei Kriterien erfüllt sein, um von einer Syndemie sprechen zu können: 1.) Zwei oder mehr Krankheiten oder Gesundheitsprobleme treten innerhalb einer Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe auf. 2.) Innerhalb sozialer oder anderer Kontextfaktoren entstehen Bedingungen, in denen diese Krankheiten sich häufen. 3.) Dieses Zusammenspiel von Erkrankungen und sozialen Determinanten hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Menschen. Quellen: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28271845/. AdÜ]
18 [Élisabeth Borne ist eine französische Politikerin (LREM = Macrons Partei La République En Marche, TdP = Territoires de Progrès – La gauche progressiste, dt. Gebiete des Fortschritts – die progressive Linke), ehemalige Beamtin und Managerin. Sie war vom 16. Mai 2022 bis zum 9. Januar 2024 Premierministerin Frankreichs. AdÜ]
19 [Kaum zu übersetzendes Wortspiel, bei dem das Wort „Humor“ mit der Anspielung auf das Stück König Ubu (1885) von Alfred Jerry verknüpft wird (https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nig_Ubu), was hier einen sarkastischen, bitterbösen schwarzen Humor ausdrücken soll. A.d.Ü]
Das vor kurzem von Sébastien Navarro rezensierte Buch, um das es hier geht, ist uns den Bericht eines anderen, intimeren Blickwinkels auf das wert, was der Widerstand der ZAD von Notre-Dame-des-Landes an individuellen und kollektiven Emanzipationsträumen mit sich brachte und was der „Sieg“ von 2018 an Rückkehr zum Pragmatismus und in vielerlei Hinsicht an Bruch mit dem Geist der Utopie bedeutete. Wenn dieses Zeugnis von Jean-Luc Sahagian unsere Aufmerksamkeit erregt hat, dann nicht nur, weil er sich dem strikt anarchistischen Standpunkt anschließt, den er darin entwickelt, sondern weil er dabei klar die dialektische Frage schlechthin stellt: wie man sich einrichtet, ohne sich zu verlieren. Oder anders ausgedrückt: Wie man siegt, ohne sich selbst zu verleugnen.
A contretemps
Uns gefielen die Geschichten, die uns aus der ZAD Notre-Dame-des-Landes erreichten, sehr.
Ich lebte damals in den Cevennen und war Mitglied einer kleinen Anarchistischen-Bibliothek, die sich am Ende der Hauptstraße befand, die unser Dorf von unten nach oben durchtrennte. Die Bibliothek befand sich eher unten, wenn man das Dorf verließ, um in Richtung des „vallée borgnes“ zu gehen. Wir müssen die Geografie der Orte festlegen, denn die Geschichten der ZAD betreffen auch ein Territorium, physisch und mental, das von den wunderbaren Märchen der Kindheit begrenzt wird. Mit dem Wald und den Baumhäusern. Mit den behelmten Monstern, denen ein ganzes kleines Volk aus Schlamm widerstand. Das Gebiet war durch eine Straße in zwei Hälften geteilt, die als “Straße der Schikanen“ bezeichnet wurde, da sie mit verschiedenen Hindernissen versehen war, um den motorisierten Verkehr und damit das Eindringen von Polizisten zu verhindern. Auf der Ostseite dieser Straße befanden sich zahlreiche Hütten und ungewöhnliche Unterkünfte, und es war dieser Bereich, der 2018 als erstes geräumt wurde, nachdem ein Teil der Bewohner selbst die „Schikane-Straße“ abgebaut hatte.
Die Magie war da, und dieser starke Wind beflügelte plötzlich unsere Vorstellungskraft und erweckte eine ganze intime Mythologie wieder zum Leben, die wir aus unserer Kinderlektüre kannten, aus den alten Filmen, die wir nachts auf uralten Schwarz-Weiß-Fernsehern gesehen hatten. Geschichten von Loyalität und Widerstand, von wahren Gefühlen und starken Emotionen. Wenn wir die Bilder betrachteten, die uns von der ZAD erreichten, wenn wir die Worte lasen, die unbekannte Freunde an uns richteten, stieg in uns ein großes Hochgefühl auf. Wir träumten gemeinsam in unserem kleinen, spärlich beleuchteten Raum, gemeinsam gingen wir in La Borie baden, einem kleinen freien Gebiet direkt oberhalb des Dorfes, und das Leben schien frei zu sein. Ich erinnere mich an die ersten Begegnungen mit Zadisten in der Bretagne: Einer, der auf einem Bauernhof unweit der Zone eine ländliche Bibliothek aufgebaut hatte, einer, der uns von seiner Teilnahme an den Kämpfen während des Widerstands gegen die Operation Cäsar erzählte, unter seinem gallischen Helm und bewaffnet mit seinem knorrigen, von einem Eisenhammer gekrönten Knüppel, den er – wie er sagte – auf die echten Helme der gendarmes mobiles niederschmetterte. Ich erinnere mich noch an einen Freund, der versuchte, auf Seitenwegen in das von den Gendarmen abgeriegelte Gebiet zu gelangen, von einer großen Kuh gejagt wurde und sich nur durch einen fantastischen Sprung über eine Drahtzaunhecke retten konnte.
All diese Geschichten waren unsere
Später, genau zu dem Zeitpunkt, als ein Teil der ZAD geräumt wurde, waren wir gezwungen zu gehen. Es war wie ein Schlussstrich, eine Rückkehr in die triste Realität. Der Wind hatte sich gelegt. Wie sollten wir von nun an ein gutes, einfaches Leben führen? Viele von uns erlebten zu dieser Zeit wunderbare Momente außerhalb der Stadt. Es fällt uns schwer, uns daran zu erinnern, jetzt, wo alles so schlecht geworden ist, wo die gesamte Welt von den kalten, teuflischen Objekten der technisch-kommerziellen Macht abgeschöpft zu sein scheint und wo „Aufstände“ jetzt wie eine gewöhnliche Serie angekündigt werden.
Ein Buch ohne Angabe von Titel, Autor(en) oder Verlag [1] ist auf diese wunderbare und grausame Geschichte der ZAD zurückgekommen. Es enthält einundzwanzig Berichte von Menschen, die dort gekämpft haben, und ist allgemein unter dem Titel Histoires de la ZAD de Notre-Dame-des-Landes (Geschichten aus der ZAD Notre-Dame-des-Landes) bekannt. Hier kommt es auf das „s“ in Histoires an. Es ist ein Buch mit wilden Geschichten. Ohne Verlag und ohne Copyright. Der Geist der Piraterie wird hier großgeschrieben. Keine Anführer, keine Parteien, keine Gewerkschaften, keine Klüngel, sondern die Bande, la Horde, Lone Wolf.
Dieses Buch ist für mich deshalb so wichtig, weil es viele Fragen aufwirft. Und Zweifel weckt. Es berührt mich deshalb so sehr, weil es von Lebenswegen erzählt, die nicht exemplarisch, aber alle spannend sind. Es ist eine Art Treue zu den Idealen einer Kindheit vor dieser Welt der Maschinen. Die Verteidigung der Schwächsten, Mut, Entschlossenheit und die Lust, sich zu wehren. Ohne sich jemals den Gründen der Erwachsenenwelt zu ergeben. Denn hier geht es darum, die Kehrseite einer Geschichte im Singular zu erzählen, die von den offiziellen Siegern der ZAD ausgearbeitet wurde. Diejenigen, die die Zustimmung der Behörden erhalten haben. Und die mehr oder weniger direkt zur Räumung eines Teils der zu verteidigenden Zone beigetragen haben, nachdem der Staat 2018 das Flughafenprojekt aufgegeben hatte. Geschichten von Verlierern der Geschichte. Diejenigen, denen Unrecht angetan wurde. Und die bis heute nicht wirklich zu Wort gekommen sind. Mit diesem Buch soll auch versucht werden, die Schande noch schamloser zu bezeichnen. Denn die Gewinner der ZAD gedeihen in dieser Welt, die die Verlierer hasst, weiterhin im politischen und medialen Spiel.
Als Notre-Dame-des-Landes an Bedeutung gewann, hatten wir ein offenes Ohr für diese Baumhausbewohner. Wir veröffentlichten sogar einen Auszug aus der Rede einer dieser Bewohnerinnen in der Ausgabe 14 des Bulletin des compagnons de nulle part, dem kleinen Fanzine, das von den Teilnehmerinnen unserer „Infok-Bibliothek“ herausgegeben wird. Ich drucke hier einen Teil dieses Textes ab, um zu zeigen, was uns damals, im Jahr 2013, mobilisierte – und was mich auch heute noch mobilisiert. Diese Sätze stammen aus einem Film – Quand les arbres s’agitent -, der von diesen Bewohnern der ZAD gedreht und ausgestrahlt wurde:
Die Augen sind umrandet, aber unter der schwarzen Kapuze weit geöffnet, und die Stimme kommt klar hinter dem weißen Kopftuch mit indianischen Mustern hervor. Sie ist mit Seilen ausgestattet, um in eine der im Wald aufgestellten Hütten hinaufklettern zu können. […] Im Moment hört man nur das Rauschen des Waldes hinter ihr, oder eher eine bevölkerte Stille. Ihr Französisch ist etwas stockend, man merkt, dass sie nach Worten sucht, um auf die Frage zu antworten, die wir ihr gerade gestellt haben:
„… weil überall auf der Welt die ganze Welt, die ganze Natur, alles, was wir zum Leben brauchen, zerstört wird, und das kann so nicht weitergehen, Menschen, die nur an Geld und Wachstum denken, aber was wir brauchen, ist Sauerstoff und Nahrung, und es ist an der Zeit, dafür zu kämpfen, weil wir sonst alle sterben werden. Und alle Tiere auch. Ich kämpfe vor allem für die Tiere, weil wir Menschen selbst schuld daran sind, dass wir so dumm sind, aber die Tiere liebe ich zu sehr.“
In diesen Geschichten finden sich einige Aussagen der WaldbewohnerInnen wieder. Einleitend erfahren wir eine der Besonderheiten dieses Kampfes, die wir, da wir weit entfernt von der Zone leben, zu diesem Zeitpunkt nicht wahrgenommen haben:
„Der Widerstand gegen die Räumungen im Jahr 2012 ist durch zahlreiche Fotos und Videos dokumentiert. Einige zeigen Genossen, die sich in zehn oder fünfzehn Metern Höhe auf Affenbrücken von Baum zu Baum bewegen. Auch wenn sich diese Seiltanzpraktiken dem Wunderbaren nähern, spielt sich das Berührendste am Fuß der Bäume ab. Dutzende oder sogar Hunderte von Menschen feuern die FreundInnen in der Luft an, applaudieren ihnen, spielen Musik, pfeifen und singen. Auffallend sind euphorische, schreiende Gesichter, die ihre Begeisterung, ihre Angst und ihre Solidarität zum Ausdruck bringen“.
Was vielleicht am meisten an diesem Buch stört, ist, dass es auf unsere gemeinsame Schwäche gegenüber einer Form der Verführung hinweist. Nach dieser ersten und verbindenden Begeisterung für die Hütten, dem offensichtlichen Widerstand gegen die Polizei und dem anhaltenden Interesse an der ZAD, das selbst bei den Medienvertretern ein unvorhergesehenes Ausmaß annahm – „und dem Ende einer Periode mit der Intimität und Bescheidenheit eines Anfangs, so reich an unwahrscheinlichen Erfahrungen und so weit entfernt von einem akzeptablen Modell“, fügt eine der Herausgeberinnen dieses Buches hinzu -, haben wir Genossinnen und Genossen der Zadisten eingeladen, um über ein gerade erschienenes Buch über die ZAD zu sprechen – Contrées [2] – ein schönes Buch, gut herausgegeben, gut aufgebaut, in dem Zeugenaussagen über den Kampf von Notre-Dame-des-Landes und den der No TAV im Val Susa gegenübergestellt werden. Klare Problemstellungen, Perspektiven, die sich aus diesen territorialen Kämpfen ergeben, die Erzählung war natürlich verführerisch, ebenso wie die Personen, die sie vorstellten. Ohne es wirklich zu wollen, auch wenn wir von den wachsenden Meinungsverschiedenheiten in der zu verteidigenden Zone wussten, haben wir zugegebenermaßen das Wort der zukünftigen Sieger begünstigt, die sich vielleicht schon auf die Post-ZAD vorbereiteten. Da wir für schöne, gut geschriebene Bücher, für das Wort, das reinknallt, für eine bestimmte Form der Literatur, für die Schriften der Surrealisten und Situationisten empfänglich sind, haben wir uns auf das gestützt, was wir am besten kennen, und uns von der kargen Kritik, den grauen Broschüren mit dem militanten Jargon oder der stacheligen Prosa abgewandt.
Glücklicherweise findet man sie, diese Ader, in diesem neuen Buch wieder. Seine kritische Kraft steigert sich in der Wiederholung – dem Ressentiment, wie die Sieger von oben herab sagen werden -, der Enthüllung von Lebenswegen auf der ZAD, der Freude, endlich etwas zu erleben, das sich der Anarchie nähert… und die Wut darüber, dass sie von denjenigen vertrieben wurden, die sich bereit erklärt hatten, Journalisten zu empfangen, dann Verträge mit der Präfektur unterschrieben und schließlich geholfen hatten, all diejenigen zu entfernen, die einen schlechten Eindruck machten – „diese außer Kontrolle geratenen Individuen, die die Situation explosiv und unverständlich machten“, wie es in einem der Augenzeugenberichte heißt. Und die keinen Zugang zur linken Bourgeoisie, zu Journalisten, Akademikern oder Schriftstellern hatten. Sie hatten nicht die Kontakte und die Verführungskünste der Gewinner. Vielleicht wollten sie nichts anderes aufbauen als einen Moment des Antagonismus, einen Traum. Sie waren vielleicht und vor allem gegen die Welt und ihren Flughafen, aber ganz sicher nicht bereit, mit der Linken zu paktieren oder eine Partei aufzubauen, selbst wenn sie sich das nur einbildeten.
Es geht hier nicht darum, den einen alle guten und den anderen alle schlechten Gründe zu unterstellen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, die wir in der „Infok-Bibliothek“ in Saint-Jean-du-Gard während der zehn Jahre ihres Bestehens gemacht haben, wie sehr sich negative Dynamiken über einen längeren Zeitraum hinweg entwickeln und in erbitterten Hass münden können. Wir haben auch erlebt, wie in unserem Cevennen-Dorf, das man doch vor der Dummheit der Zeit geschützt glaubte, Identitäre der Postmoderne mit ihren elenden Verwicklungen gelandet sind. Und man kann sich gut vorstellen, was das an einem Ort wie der ZAD, der jeglichem politischen, polizeilichen und medialen Druck ausgesetzt ist, auslösen konnte. Aber das hindert mich nicht daran zu denken, dass ich durch dieses Buch zu erkennen glaube, dass eine Tendenz der Kritik letztendlich die Waffen gestreckt hat, indem sie der Linken einen neuen Anstrich verliehen hat.
„Natürlich ist das Ende dieses Kampfes ein Spiegelbild vieler anderer. Es erinnert daran, dass die Profiteure mächtig und sehr unterschiedlich sind, und dass sie oft unter den ‘Eliten’ des Kampfes selbst auftauchen. Der Staat sucht sie, um einen Dialog zu schaffen, und bestätigt sie, um ihnen die Befriedung dessen zu übertragen, was ihm entgleitet. Dann ist die Tür für eine lange Karriere offen.
Die kleine Clique, die das Ende des Kampfes gesteuert hat, stammt tatsächlich aus der Besetzungsbewegung. Sie hat die Gelegenheit genutzt, um die rebellische und unbeugsame Vorstellungswelt der ZAD zu kapitalisieren, während sie gleichzeitig dem von den Bürger-, Landwirtschafts- und Politikerorganisationen vorgezeichneten Weg folgte.
Vor allem aber wurde ihnen die seltene Möglichkeit geboten, ‘Sieg’ zu rufen. Und auf diesem Lorbeerkranz konnten diese wenigen Strategen die Grundlage für ihr ‘neues’ Kampfmodell legen: politische Allianzen, die die reformistische Linke recyceln, generalstabsmäßige Strategien, die spektakuläre Momente einleiten, die durch endlos weitergeleitete Medienclips unterstützt werden.
‘Les Soulèvements de la terre’ etablierten sich also sehr schnell als eine Art zentralisierte Gewerkschaft der Umweltkämpfe, mit der Umweltkatastrophe und der Wut, die sie hervorruft, als Geschäftsgrundlage.“ (Mimi Cracra, Auszug aus einem der Texte von Histoires de la ZAD).
Anmerkungen
[1] Das Buch kann über landes@riseup.net bestellt werden. Das Buch ist auch in einigen guten Buchhandlungen erhältlich, wie z. B. der Pariser Quilombo.
[2] Collectif Mauvaise troupe, Contrées, histoires croisées de la ZAD de Notre-Dame-des-Landes et de la lutte No TAV dans le Val Susa, collection „Premier secours“, Éditions de l’éclat, 2016.
Veröffentlicht am 16. September 2024 auf A contretemps, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
Das Tele-Meeting am Dienstagabend begann mit einem Kommentar zum Newsletter von Federico Rampini, der im Corriere della Sera veröffentlicht wurde und den Titel „Italien ist in Gefahr, will sich aber nicht verteidigen“ trägt.
Als guter Patriot mit einem Helm auf dem Kopf wünscht sich Rampini ein Italien, das bereit ist, Kriegsbedrohungen zu begegnen, und dessen Bevölkerung auf die Ideologie des Krieges vorbereitet ist. Europa hat keine einheitliche Verteidigung, ist bei der Beschaffung von Rüstungsgütern von anderen abhängig und hat keine klare militärische Strategie. Der Journalist fordert den Westen auf, sich für eine hybride Kriegsführung zu rüsten, bei der es Kräften, die nur über wenige Mittel verfügen, gelingt, weitaus mächtigere Gegner in Schach zu halten. Wie zum Beispiel die Houthis, die Handelsschiffen (und anderen) bei der Durchfahrt durch die Straße von Bab al-Mandab das Leben schwer machen. Oder wie der Iran, der bei seinem Angriff auf Israel im vergangenen April mit Raketen und Drohnen, der auf den ersten Blick erfolglos war, weil er durch das Raketenabwehrsystem Iron Dome und die Israel unterstützende Koalition (USA, England, Jordanien, Saudi-Arabien) wirksam abgewehrt wurde, einen Aufwand von 100 Millionen Dollar gegenüber den 2 Milliarden Dollar der israelischen Verteidigung hatte.
Die hybride Kriegsführung findet auch in sozialen Netzwerken statt, wie die jüngsten Gerichtsverfahren gegen Plattformen wie X und Telegram zeigen, sowie im Internet durch Cyberangriffe auf Infrastrukturen und Verkehrssysteme. Rampini zufolge müssen wir auf diese Herausforderungen mit einer Allianz zwischen Privatunternehmen, Streitkräften und Geheimdiensten reagieren: ein neuer Korporatismus an der Spitze der Technologie. Der Journalist plädiert auch für die Wiedereinführung der Wehrpflicht, denn „die Welt von heute zeigt uns, dass Kriege nicht allein mit Berufsarmeen gewonnen werden können“. Er sagt dies zu einer Zeit, in der in der Ukraine Tausende von Männern fliehen oder sich verstecken, um nicht an die Front geschickt zu werden. Das Halten der Heimatfront ist das große Problem, vor dem die herrschenden Klassen stehen. Der NATO-Block kann Waffen und Militärberater nach Kiew schicken, aber wenn es keine Fußsoldaten gibt, die sich in den Schützengräben opfern, gibt es auch keine Rohstoffe.
Mario Draghi ist ebenfalls besorgt über das Schicksal Europas und hat einen Appell gestartet: „Wenn es nicht gelingt, produktiver zu werden“, wird die EU gezwungen sein, „sich zu entscheiden und einige, wenn nicht sogar alle, Ambitionen zurückzuschrauben“. Gegen die europäische Logik der Sparsamkeit schlug er einen doppelten Marshall Plan vor: 800 Milliarden pro Jahr, die durch die Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel in Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit investiert werden sollen. „Ohne diese Investitionen sind unser Wohlstand, unsere Gesellschaft und sogar unsere Freiheit in Gefahr“. Draghis Plan steht in gewisser Weise im Zusammenhang mit den jüngsten Äußerungen des ehemaligen Ministerpräsidenten Enrico Letta, demzufolge es notwendig ist, die enormen Ersparnisse, die in die USA fließen, um die Unternehmen anderer zu stärken, in Europa zu halten. Die USA leben von der Abschöpfung der vom Rest der Welt produzierten Werte und werden dafür sorgen, dass ihre Untertanen nicht auf dumme Gedanken kommen.
Die Hegemonie des Greenback wird durch die militärische Macht der USA ermöglicht, die jedoch durch das sich verändernde globale imperialistische Gleichgewicht in Frage gestellt wird. Jeder staatliche Akteur versucht, die neue Situation nach seinen eigenen Interessen zu nutzen. China nimmt den afrikanischen Kontinent ins Visier, siehe das jüngste Forum für die Zusammenarbeit zwischen China und Afrika. Die Türkei hat sich um die Aufnahme in die BRICS beworben und hat sich, obwohl sie Mitglied der NATO ist, sehr kritisch gegenüber Israel geäußert: Ankara spielt eine wichtige imperialistische Rolle in einer strategischen geopolitischen Region (Turkestan).
Wenn die Decke zu kurz ist, versucht jeder, sie auf seine Seite zu ziehen, aber unweigerlich steht jemand mit nackten Füßen da. Arbeitslosigkeit, Unruhen, soziales Chaos und Krieg sind der Beweis dafür, dass sich diese Produktionsweise gegen sich selbst wendet. Darüber hinaus bläst sie eine enorme Finanzblase auf, die unweigerlich platzen wird, sobald das Vertrauen der Welt in das Dollarsystem gebrochen ist. Die Staatsverschuldung der USA hat 35 Billionen Dollar erreicht, was über 130 % des BIP entspricht, während das Haushaltsdefizit im Jahr 2024 6,7 % des BIP übersteigen wird.
Die Bourgeoisie investiert massiv in die Chip-Produktion, künstliche Intelligenz und hochtechnologische Waffen, die alle einen hohen organischen Anteil an Kapital und relativ wenig Arbeit erfordern. Aber wie kann das System der Lohnarbeit funktionieren, wenn es immer weniger davon gibt? Von Zeit zu Zeit schlägt ein „Giga-Kapitalist“ (Elon Musk, Sam Altman) Alarm wegen der zunehmenden „technologischen Arbeitslosigkeit“ und schlägt ein universelles, vom Arbeitsangebot abgekoppeltes Grundeinkommen vor. In den Grundrissen argumentiert Marx, dass der Reichtum ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr an der menschlichen Arbeit gemessen wird (Wertgesetz):
„In demselben Maße, in dem die Arbeitszeit – die bloße Quantität der Arbeit – vom Kapital als das allein bestimmende Element gesetzt wird, verschwindet die unmittelbare Arbeit und ihre Quantität als das bestimmende Prinzip der Produktion – der Schaffung von Gebrauchswerten – und wird sowohl quantitativ auf einen dürftigen Anteil als auch qualitativ auf ein gewiss unverzichtbares Moment reduziert, aber untergeordnet gegenüber der allgemeinen wissenschaftlichen Arbeit, der technologischen Anwendung der Naturwissenschaften einerseits und gegenüber der allgemeinen Produktivität, die sich aus der gesellschaftlichen Artikulation in der Gesamtproduktion ergibt, andererseits – einer allgemeinen Produktivität, die sich als natürliches Geschenk der gesellschaftlichen Arbeit darstellt (obwohl sie in Wirklichkeit ein historisches Produkt ist). Das Kapital arbeitet also auf seine eigene Auflösung als herrschende Produktionsform hin.“
Zum Thema Einkommensumverteilung haben wir das Kapitel „Umverteilung des Einkommens oder Negation des Kapitals?“ aus unserem Artikel „Der Mensch und die Arbeit der Sonne“ kommentiert. Der Agrarsektor wird vom Staat weitgehend unterstützt, weil er für die Ernährung der Bevölkerung von strategischer Bedeutung ist. Es geht also nicht darum, noch mehr Kapital in den Boden zu stecken und auch nicht um eine vage Rückkehr zu einer vorkapitalistischen Landwirtschaft, sondern um die Wiederentdeckung eines Energiegleichgewichts in der Nahrungsmittelproduktion.
Die „italienische“ kommunistische Linke hat wichtiges Material zum Thema der kapitalistischen Verschwendung produziert. Man denke nur an die Arbeitslosenindustrie, die davon lebt, die Zahl der Arbeitslosen zu erhöhen: Arbeitsagenturen, Ausbildungskurse, bilaterale Einrichtungen, Arbeitsämter usw. Ganz zu schweigen von der immensen Verschwendung sozialer Energie durch die Ausbreitung von Kriegen: Die Spezies vergeudet immer mehr Energie, um ein menschenfeindliches System aufrechtzuerhalten („Das Kapital und die Theorie der Verschwendung“).
Das Ende der Naturalwirtschaft und die daraus resultierende Verwertung der Erde wurde auch durch den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht:
„Die Agrarrevolution, wie auch die industrielle Revolution, drängte sich mit universellen wissenschaftlichen Prämissen auf, die für eine potenziell von der Not emanzipierte Menschheit bereits nützlich waren, aber der Kapitalismus destillierte sofort nur den Teil, der für die Verwertung des Kapitals nützlich war, und nahm die Früchte der wissenschaftlichen Forschung bis zu den äußersten Konsequenzen mit, bis hin zur wahllosen Anwendung der Chemie, der Prämisse der Mineralisierung des Bodens.“ (‘Der Mensch und das Werk der Sonne’)
Die künftige Gesellschaft wird das Problem der Energiebilanz sicherlich nicht dadurch lösen, dass sie zu den Produktionsformen der Vergangenheit zurückkehrt, und auch nicht dadurch, dass sie das Land an den aussterbenden Landwirt umverteilt. Die Wissenschaft ist nicht das Problem, sondern ein Teil der Lösung. Menschliches Wissen, solange es sich in den engen Grenzen der gegenwärtigen Gesellschaftsform bewegt, ist nicht wirklich ein solches.
„Die krampfhaften Versuche aller Weltgremien, eine allgemeine Kontrolle der Wirtschaft zu erreichen, sind eine implizite Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte im globalen Maßstab, eine wahre Kapitulation dieser Gesellschaft vor dem Marxismus.“ (‘Der Mensch und das Werk der Sonne’)
Es geht also darum, mit der Unternehmensform (vom Familienbetrieb bis zum multinationalen Unternehmen), mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den nationalen Grenzen zu brechen, um die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (Wohnen, Reisen, Ernährung usw.) unter einem einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkt zu betrachten. Dies haben wir versucht, indem wir die auf dem Treffen von Forli ’52 skizzierten Punkte weiterentwickelt haben (Revolutionäres Sofortprogramm im kapitalistischen Westen, PCInt.).
Veröffentlicht am 10. September auf Quinterna Lab, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.
Hinter der Verhaftung des ehemaligen Brigadisten Leonardo Bertulazzi, der heute 72 Jahre alt ist, steckt ein Pakt zwischen Meloni und Milei, um einen italo-argentinischen Priester, der in die Verbrechen der südamerikanischen Diktatur der 1970er Jahre verwickelt war, vor der argentinischen Justiz zu retten. Sein Name ist Franco Reverberi, mittlerweile über 80 Jahre alt, der in jungen Jahren nach Argentinien ausgewandert ist, wohin seine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Suche nach Glück gezogen war.
Der mörderische Priester, der die Folter absegnete
Auf dem neuen Kontinent landete der junge Reverberi im Priesterseminar, bevor er sein Gelübde ablegte und Pfarrer von Salto de Las Rosas wurde, einer kleinen Stadt unterhalb der Anden. Während der 24-jährige Bertulazzi 1976 Lotta Continua, eine Formation der krisengeschüttelten radikalen Linken, verließ, um sich der entstehenden Genovese-Kolonne der Roten Brigaden anzuschließen, wurde der damals 39-jährige Don Reverberi nach dem Militärputsch von General Jorge Videla Militärseelsorger, Hilfskraft der VIII. alpinen Erkundungsgruppe in San Rafael.
Im Jahr 1980 – so die argentinische Justiz – begann er, das geheime Internierungslager „La Departamental“ zu besuchen, eine der Einrichtungen, die das diktatorische Regime im Rahmen des Projekts „Condor-Plans“ nutzte. Ein Projekt zur Auslöschung der politischen Opposition gegen die Diktatur, das durch Verhaftungen, Verschwindenlassen, massenhafter Folter und Ermordung von Kämpfern der revolutionären Linken, Peronisten und Radikalen durchgeführt wurde (mindestens zweitausend getötete und dreißigtausend verschwundene Personen, die so genannten Desaparecidos). Die zwischen den (damaligen) faschistischen Diktaturen Südamerikas (Chile, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay und Peru) vereinbarte Operation wurde von der CIA überwacht. Reverberi wurde beschuldigt, 1976 an der Entführung und anschließenden Folterung und Ermordung eines jungen Peronisten, José Guillermo Beron, beteiligt gewesen zu sein. Nach den Aussagen mehrerer Überlebender der Internierungslager der Diktatur pflegte der Priester in die Folterkammern zu kommen, um den Vernehmungsbeamten beim Vorlesen von Bibeltexten beizuwohnen und die Gefolterten aufzufordern, mit ihren Peinigern zu kollaborieren, weil dies der Wille Gottes sei. Nach dem Ende der Diktatur gelang es Reverberi, sich in Vergessenheit zu bringen, indem er weiterhin Messen abhielt. Erst 2010 wurden die ersten Verantwortlichkeiten bekannt, aber der Priester konnte rechtzeitig nach Italien zurückkehren, um in seiner Heimatgemeinde Sorbolo, einem kleinen Dorf in der Provinz Parma, als Gast von Don Giuseppe Montali die Messe zu halten.
Doppelte Standards
Ein erstes Auslieferungsersuchen lehnte die italienische Justiz 2013 ab, weil die direkte Verantwortung des Priesters nicht klar ersichtlich sei. Im Oktober 2023 bestätigte die Kassationskammer jedoch die Stellungnahme zugunsten eines neuen Auslieferungsantrags, der zuvor vom Berufungsgericht in Bologna formuliert worden war und diesmal neue Beweise für seine Beteiligung am Tod des jungen Beron und an der Folterung von neun Gefangenen enthielt. Nach Ansicht des Kassationsgerichts waren die von Reverberi begangenen Verbrechen Teil „eines seriellen Systems von Folterungen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden können und sich gegen politische Dissidenten des damals in Argentinien herrschenden Militärregimes richteten, die in einer zu diesem Zweck eingerichteten Hafteinrichtung durchgeführt wurden, in der der jetzige Ausgelieferte als Militärseelsorger tätig war und die Aktionen des Militärs begünstigt haben soll“.
Aber auch diesmal kam Reverberi ungeschoren davon: Im November desselben Jahres wurde der Rechtsextremist Javier Milei zum Präsidenten der argentinischen Republik ernannt. Im Januar 2024 lieferte der Justizminister der Regierung Meloni, Carlo Nordio, der die endgültige Entscheidung zu treffen hatte, den Folterer-Priester aufgrund seines hohen Alters (86) und seines prekären Gesundheitszustands nicht aus. Eine Entscheidung, die nur auf den ersten Blick eine Garantie darstellte, ganz im Gegensatz zur Verfolgung von Leonardo Bertulazzi durch die italienische Regierung, der – im Gegensatz zu Reverberi – nur wegen Vereinigungsdelikten und der Entführung des Reeders Pietro Costa verurteilt worden war, und zwar auf der Grundlage der Aussagen zweier Verräter, die nicht an dem Ereignis teilgenommen hatten; einer der beiden war zum Zeitpunkt der Tat noch nicht einmal Mitglied der Roten Brigaden.
Der Bravi-Pakt
Die soeben aufgeführten Fakten zeigen, dass die Entscheidung von Nordio das Ergebnis einer politischen Vereinbarung war, die durch das herzliche Tête-à-Tête, das Meloni und Milei den Fotografen während des G7-Gipfels in Apulien im Juni 2024 anboten, sanktioniert wurde. Nachdem er dem Folterer Reverberi auf Wunsch von Milei Immunität gewährt hatte, erhielt Premierministerin Meloni als Geschenk die Festnahme von Leonardo Bertulazzi, die einen offenen Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung darstellt. Die argentinische Justiz hatte das Auslieferungsersuchen bereits 2002 abgelehnt, weil es mit dem argentinischen Justizsystem unvereinbar war, in dem die Möglichkeit, rechtskräftige Urteile in Abwesenheit zu verhängen, nicht vorgesehen ist. Nach dieser Entscheidung wurde Bertulazzi im Jahr 2004 der Status eines politischen Flüchtlings zuerkannt. Dieses Asyl wurde plötzlich am Tag seiner erneuten Verhaftung, dem 24. August 2024, in einem Akt reiner Willkür ohne jegliche Rechtsgrundlage widerrufen. In den letzten Tagen sind in der argentinischen Presse erste Hintergründe zu dieser Entscheidung aufgetaucht. Laut Tiempo argentinoerhielt Luciana Litterio, die auf Vorschlag des Innenministers der Regierung Milei zur Leiterin der Nationalen Flüchtlingskommission (Conare) ernannt worden war, „einen Anruf, der sie in eine Zwickmühle brachte. Der Präsident der Republik, Javier Milei, bat sie, oder befahl ihr wahrscheinlich, den Flüchtlingsstatus von Leonardo Bertulazzi unverzüglich aufzuheben“. Die neue Leiterin von Conare “hätte mit dem Rücken zur Wand gestanden“, schreibt die argentinische Tageszeitung weiter: “Litterio hatte zwei Möglichkeiten: die Aufforderung zu ignorieren und damit die vom Land unterzeichneten internationalen Abkommen zu respektieren und ihre Vergangenheit als Akademikerin, die sich auf Flüchtlinge und internationale Migration spezialisiert hat und 16 Jahre lang Leiterin der Abteilung für internationale Angelegenheiten in der Nationalen Migrationsbehörde war, zu ehren. – Ein Amt, in das sie während der ersten Amtszeit von Cristina Fernández berufen und von allen nachfolgenden Regierungen bestätigt wurde – oder sie respektiert die Anordnung des Präsidenten und wirft ihre Karriere und ihren absehbaren Wechsel in eine Führungsposition beim UNHCR oder einen diplomatischen Posten bei den Vereinten Nationen über Bord“.
Eine neue weltweite Jagd auf Kommunisten
Das Scheitern der Auslieferung von Don Reverberi und die erneute Verhaftung von Bertulazzi trotz des gewährten politischen Asyls zeigen, dass in beiden Fällen unterschiedliche Verfahrensweisen angewandt wurden, die jeglicher Rechtsnorm entbehren und nur von einem heftigen antikommunistischen Revanchismus und dem Wunsch nach Schutz von Schwerverbrechern südamerikanischer Diktaturen geleitet sind. Ein Beweis dafür sind die Erklärungen, die der derzeitige Stabschef des Sicherheitsministeriums, der die Verhaftung von Bertulazzi in seinem argentinischen Haus koordinierte, gegenüberSussidiario.net abgab, nur wenige Minuten nachdem ihm das politische Asyl entzogen worden war. Carlos Manfroni zufolge „hat das von Patricia Bullrich geleitete Sicherheitsministerium die Entscheidung getroffen, ehemalige Terroristen [revolutionäre Kommunisten der 1970er Jahre, Anm. d. ital. Ü.] nicht mehr vor Auslieferung zu schützen. In Bezug auf die argentinischen Terroristen [die antifaschistischen Gegner der Diktatur, Anm. d. ital. Red.], die im Jahrzehnt der 1970er Jahre ‘abartige Verbrechen’ begangen haben, bedauert Manfroni, dass „das [argentinische, Anm. d. ital. Red.] Gericht in jenen Jahren leider entschieden hat, dass ihre kriminellen Handlungen verjährt sind und dass es sich nicht um Verbrechen handelt, die der Kategorie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzurechnen sind. Ein Kriterium, mit dem ich nicht einverstanden bin, das aber derzeit ihre Inhaftierung verhindert“.
Die Verbrechen der Macht und die Verbrechen der Aufständischen
Manfroni verweist auf die Rechtsprechung, die die argentinische Justiz in den Jahren des Übergangs nach der Diktatur hervorgebracht hat. Demnach sind Verbrechen, die von Gegnern der Militärdiktatur begangen wurden, aufgrund der verstrichenen Jahrzehnte de facto verjährt, während die Verbrechen der diktatorischen Macht (Morde, Folter und Verschwindenlassen), die so genannte „guerra sucia“, die von Mitgliedern des Militärregimes begangen wurden, immer noch strafrechtlich verfolgt werden können, da sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten und daher nicht geächtet werden können. Eine fortschrittliche Rechtsprechung, die die Grundsätze des Widerstandsrechts aufgreift und zwischen Gewalt, die aus der Unterdrückung durch die Staatsmacht resultiert, und Gewalt von unten, die von Aufständischen begangen wird, unterscheidet. Am Ende seines Interviews enthüllt Carlos Manfroni auch die zwischen Milei und Meloni vereinbarte Strategie, um die Auslieferung Bertulazzis zu erreichen: „2004“, erklärt er, „wurde der ehemalige Brigadist nicht ausgeliefert, weil er in Italien verurteilt worden war. Aber nach dem Auslieferungsabkommen zwischen Argentinien und Italien kann Bertulazzi ausgeliefert werden, wenn Italien bereit ist, ein neues Verfahren anzubieten, anstatt die alte Strafe anzuwenden, und ich glaube, dass dies letztendlich das Instrument sein wird, das eingesetzt wird“. Allerdings gibt es in Italien keine Vorschrift, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach einem rechtskräftigen Urteil vorsieht.
Die französische Erfahrung
Ein aktueller und wichtiger Präzedenzfall, der an diese unüberwindbare Grenze stößt, betrifft die Weigerung der französischen Justiz, zehn ehemalige Kämpfer der bewaffneten italienischen Linken aus den 1970er Jahren auszuliefern. Die französischen Gerichte stellten fest, dass die italienische Seite nicht in der Lage war, ein Wiederaufnahmeverfahren für die in Abwesenheit Verurteilten zu garantieren, und verweigerten daher die Auslieferung unter Hinweis auf die Nichteinhaltung des in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundsatzes eines ordentlichen Verfahrens. Darüber hinaus verwiesen sie auf die Notwendigkeit, die Rechte zu schützen (Art. 8), die im Laufe der Jahrzehnte des Aufenthalts auf französischem Boden erworben wurden (d.h. die zahlreichen gerichtlichen, politischen und administrativen Entscheidungen, die im Laufe der Zeit von den französischen Behörden getroffen wurden). Ein juristischer Präzedenzfall, den die argentinischen Richter, die den Fall Bertulazzi zu beurteilen haben, sicherlich nicht ignorieren können.
Erschienen am 12. September 2024 auf Insorgenze, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. Zur Inhaftierung von Leonardo Bertulazzi siehe auch den Artikel vom 31. August 2024 auf Bonustracks.
Trotz ihres vermeintlichen Nutzens können uns die Wissenschaften nicht glücklich machen, denn der Mensch ist ein sprechendes Wesen, das Freude und Schmerz, Vergnügen und Leid in Worte fassen muss, während die Wissenschaft letztlich auf ein stummes Wesen abzielt, das man numero et mensura erfassen kann, wie alle Gegenstände der Welt. Die natürlichen Sprachen, die die Menschen sprechen, sind bestenfalls ein Hindernis für die Erkenntnis und müssen als solche formalisiert und korrigiert werden, wobei die Redundanzen, die wir in erster Linie beachten, wenn wir unsere Wünsche und Gedanken, unsere Neigungen und Abneigungen ausdrücken, als „poetisch“ eliminiert werden.
Gerade weil sie sich an einen stummen Menschen wendet, kann die Wissenschaft niemals eine Ethik hervorbringen. Dass angesehene Wissenschaftler skrupellos Experimente an den Körpern von Deportierten in den Lagern oder Sträflingen in amerikanischen Gefängnissen durchgeführt haben, sollte uns in diesem Sinne nicht überraschen.
Die Wissenschaft beruht in der Tat auf der Möglichkeit, auf allen Ebenen das biologische Leben eines Lebewesens von seinem Beziehungsleben zu trennen, also das stumme vegetative Leben, das der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam hat, von seiner geistigen Existenz des Sprechens.
Es ist gut, sich daran zu erinnern, heute, wo die Menschen alles, woran sie geglaubt haben, beiseite gelegt zu haben scheinen, um der Wissenschaft eine Glückserwartung anzuvertrauen, die nur enttäuscht und verraten werden kann. Wie die letzten Jahre zweifelsfrei gezeigt haben, sind Menschen, die ihr Leben mit den Augen ihres Arztes betrachten, aus diesem Grund bereit, auf ihre grundlegendsten politischen Freiheiten zu verzichten und sich uneingeschränkt den Mächten zu unterwerfen, die sie regieren.
Das Glück ist untrennbar mit den einfachen, banalen Worten verbunden, die wir austauschen, mit dem Jubel und dem Lachen der Freude, aber auch mit der Erschütterung, die uns zum Weinen bringt, ohne dass wir wissen, ob vor Kummer oder vor Freude. Überlassen wir die Wissenschaftler der Stille und der Einsamkeit der Zahlen, sorgen wir dafür, dass sie nicht in den Bereich der Ethik und der Politik eindringen, der als einziger uns wirklich erfüllen kann.
8. September 2024
Übersetzt aus dem italienischen Original von Bonustracks.
Nach der Veröffentlichung des Textes von Gigi Roggero ‘Tra realtà dei centri sociali e centrosocialismo reale: il ciclo degli anni Novanta’ in ‘Machina’ wird beschlossen, eine kollektive Diskussion unter den Genossen verschiedener Generationen des centro sociale ‘Gabrio’ zu entwickeln. So fanden zwei Treffen statt, deren Inhalt hier transkribiert wird. Die Übersetzung des Teils 1 findet sich hier.
Zweite Zusammenkunft, Gabrio 7. Mai 2024
Anwesend: Marco, Salvatore, Stefanone, Guazzo, Alex von der ersten Generation Gabrio
Sollazzo von der zweiten Generation
Claudio und Marco M. von der dritten Generation
Salvatore: Jede Generation hat ihren eigenen Werdegang und (leider) fast immer ihre eigene Parabel. Gigi Roggero ist es gewohnt, in seinem Aufsatz [s.o., d.Ü.] (den ich Gelegenheit hatte, mit ihm zu diskutieren, bevor er veröffentlicht wurde) in Zyklen zu denken: Zyklen der Subjektivität, der Repräsentation und der politischen Militanz. Wenn wir von dieser Methode ausgehen, dann ist die von Gigi vorgeschlagene Periodisierung meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Auch für mich stellt der 10. September 1994 in Mailand (natürlich „symbolisch“) den Höhepunkt der Parabel dar. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Phase des „aufkeimenden Staates“, um es im Lexikon der Soziologen zu sagen, der Bewegung des centro sociale ging zu Ende. Der sprachliche Schöpfung und subjektive Verwandlung, durch die etwas Neues und Anderes geboren wird, das vorher nicht da war oder ganz anders charakterisiert wurde (z.B. die Jugendproletarierkreise in den 1970er Jahren). .
Mit der aufsteigenden Phase der Parabel meine ich den Übergang von den politischen Formen der 1980er Jahre als Überbleibsel (natürlich nicht unbedingt konservativ oder „Rest“) des vorangegangenen Kampfzyklus, der in meinem Fall das Kollektiv S-contro war… aber mit dem grundlegenden Übergang der universitären Bewegung der Pantera [s. Teil 1, d.Ü.] der 1990er Jahre, denn ohne die Pantera kommt man nicht zu den centri sociali (hier spreche ich allerdings ein wenig über mich selbst, wie auch über viele andere Realitäten in Italien, mit denen ich die Gelegenheit hatte zu diskutieren, aber vielleicht ist diese Annahme in Turin viel weniger gültig). Außerdem ist die Gruppe der „Panterozzi“, die dann den Gabrio besetzen, ebenfalls sehr klein.
Die Gruppe, die das Gabrio besetzt, ist dieselbe, die im Jahr zuvor das Isabella besetzt hatte [13], und sie entstand aus dem Zusammentreffen zweier Wege, die vielleicht eher biografisch-generationell als politisch im engeren Sinne sind: die jungen, die sehr jung waren, zu denen auch Andrea Guazzo gehörte, die sich mehr oder weniger um die jungkommunistische Neugründung scharten; die zweite, zu der ich gehörte, von denen, die nach dem Panther versuchten, ein Kollektiv zu bilden, Ombre rosse, eine Universitätszeitschrift, „Riff Raff“ [14], und eine Reihe von Sachen, mit wenig Einflussmöglichkeiten. Die Erfahrung von Ombre rosse war innerhalb eines Jahres nach seiner Gründung (1991) praktisch vorbei. Wir befanden uns in einem Kontext, in dem es in ganz Italien eine Vielzahl von Besetzungen aller Art gab. Wahrscheinlich gab es nur in Turin eine so hohe Relevanz der HausbesetzerInnen, die sich wiederum in „spessi“ und „lessi“ aufteilte (für die Geschwindigkeit, zwischen einem eher „militanten“ Bereich und einem eher „erfahrungsorientierten“ Bereich, aber das sind unzureichende Begriffe), eine Aufteilung, die jedoch auch uns betraf und oft dieselben Personen schizophren spaltete. Es war jedoch klar, dass wir nach den „Panthern“ nicht zu dem alten Kollektiv zurückkehren wollten, wir wollten nicht zu Rifondazione comunista gehen. Ich und jemand anderes sind sogar hingegangen, um uns das anzusehen, wir sind fast sofort wieder ausgestiegen. Wir wollten das nicht tun. Überall in Italien entstanden Besetzungen, in Turin gab es Radio Blackout [15], wir bauten eine Generationenerfahrung auf, die eine sehr begrenzte politische Wirkung hatte, das war Ombre rosse (Rote Schatten), und mit der Zeitschrift, im Radio, traten wir in eine Debatte ein. Ich spreche von meinen Altersgenossen, das ist der Teil, der in die Besetzung der Isabella und dann in die des Gabrio mündet. Das ist der Weg, über den wir zur Besetzung kommen. Damals, so möchte ich hinzufügen, erschien mir der 10. September 1994 wie ein Anfang, während ein Jahr später klar war, dass wir in eine andere Phase der Erfahrung der centri sociali eingetreten waren!
Mich interessiert jedoch die Tatsache, dass eine andere Gruppe derzeit damit beschäftigt ist, die 1990er Jahre in Turin zu rekonstruieren (auch mit ikonischer, Audio- und Videodokumentation), wobei der Schwerpunkt auf den centri sociali oder dem antagonistischen Gebiet liegt: Sie organisierten vor kurzem einen Moment der Auseinandersetzung im Prinz Eugen [16], in dem sie eine Periodisierung der 1990er Jahre vorschlugen, die sich von der von Gigi unterscheidet, in der der Höhepunkt weiter nach vorne verlagert wird, in Richtung 1998 (zur Zeit der Demonstrationen nach den Selbstmorden von Sole und Baleno und dem gerichtlichen Rummel, aus dem sie hervorgingen). … jeder rekonstruiert die Passagen eindeutig nach seiner eigenen Perspektive und politischen Biographie. Das gilt für die großen Epochen der Geschichte, ganz zu schweigen von den centri sociali.
Ich muss sagen, dass die Erfahrung der centri sociali, in die wir eintauchen wollten, uns dazu diente, uns dem Entstehen einer neuen Subjektivität nicht zu verschließen, die nicht mehr die der Panthers war. In den Jahren 1992-93-94, rund um Radio Blackout… aber eigentlich allgemeiner in einem hybriden Raum zwischen Politik, Gegenkultur, urbanem Konsum… bei den Murazzi gab es Giancarlo, aber es gab auch die Konzerte, die von der Lega dei furiosi [17] organisiert wurden, es gab das Phänomen der Posse, die ersten Raves waren da, das waren sehr wichtige Dinge, die die Leute zusammenbrachten, indem sie Netzwerke schufen, fast vergemeinschaftete Formen; aber sie waren nicht dasselbe wie Pantera, die, wenn überhaupt, das letzte Überbleibsel der 80er Jahre waren (die pazifistischen Überbleibsel, etc.). Eine andere Generation war aufgetaucht, und wir sagten fast spontan, dass wir, wenn wir unser Kollektiv mit unserer Zeitschrift weiterführen würden, keine öffentliche Dimension mehr haben würden. Dann gab es all die anderen Vorschläge (denen ich immer noch besonders zugeneigt bin), eine Reihe von Zeitschriften im operaistischen Bereich waren entstanden, ich kam nicht aus dem Operaismus vom politisch-organisatorischen Standpunkt aus, aber ich besuchte die Seminare von Romano Alquati, wir lasen die Forschungen über das Becken der immateriellen Arbeit in Paris, wo es die operaistische Diaspora gab, die Forschungen von Lazzarato, diese Dinge eben. Unsere Zeitschrift beschäftigte sich mit diesen Dingen. Für uns war es fast eine spontane Idee, unsere organisierte Mikroerfahrung in dieser Dimension aufzulösen, zumindest für mich war es das, worum es ging (zum Zeitpunkt der Ereignisse): die Formen der Militanz aufzulösen, die wir in dieser Zeit in der Bewegung des sozialen Zentrums geschaffen hatten, was in Turin Radio Blackout bedeutete, die kulturellen und intellektuellen Bezüge, von denen die Rede war.
Zurück zum Thema… Ich stimme zu, dass 1994-95 (die Wahl des genauen Datums 10. September 1994 ist symbolisch) der Höhepunkt des Loncavallini-Konflikts ist, aber es ist nicht nur dieses Datum, es ist ein ganzes politisches Bild, das sich verändert. Wir betreten die Zweite Republik! Es ist jedoch klar, dass diese Subjektivität (die des „ aufkeimenden Staates “) zurückweicht, sich zurückzieht! Nach etwa drei Jahren verlasse ich persönlich das Projekt Gabrio, denn diese Untersuchung, diese Spannung zwischen politischem Raum und sozialem Raum, zwischen Militanz und Gegenkultur ist erschöpft, sie ist verarmt. Zumindest so, wie ich es persönlich erlebt hatte, ich will nicht sagen, dass es die Realität war, fiel es zurück in eine identitäre, gemeinschaftsbezogene und sogar etwas marginale Dimension. Ich war damals, mehr noch als heute, davon überzeugt, dass es in der Marginalität keine proaktiven Räume für politisches Wachstum geben kann, sondern nur die Dialektik von Vertreibung-Repression-Relaxation. Andererseits ist es klar, dass um 2001 eine andere Geschichte beginnt (auch für die centri sociali); ich bin nicht mehr bei Gabrio, während zum Beispiel Marco und Paolo (um uns natürlich auf die Anwesenden zu beschränken) gerade in diesen Jahren eine prägende Rolle spielen.
Sollazzo: In dieser Zeit entstanden aus einer ganzen Reihe von Faktoren, die unabhängig voneinander zu sein scheinen, kleine Realitäten, die mit Zeitschriften verbunden sind. In dieser Zeit habe ich mich mit dem Bereich der Autonomie auseinandergesetzt und eine Zeit lang das „Politische Labor“ gegründet, eine interessante Erfahrung. Es gab eine Reihe von kleinen Zusammenschlüssen, die interessante Dinge hervorgebracht haben. Ich erinnere mich an eine Ausgabe des „Laboratorio politico“, die sich mit allen Einschränkungen der damaligen Zeit mit der Umweltfrage befasste, wir analysierten die Schriften von O’Connor und seinen Ökomarxismus. Natürlich wurden diese Dinge dann beendet, aber sie waren eine Folge dessen, was vor sich ging. Es bestand die Notwendigkeit, Ideen und Kategorien neu zu definieren, um zu verstehen, wie sich die Gesellschaft verändert.
Luca: Wir, zuerst das Kollektiv Falsospettacolo und später Punto.zip, haben zum Beispiel beschlossen, keinen Ort zu besetzen, sondern zu versuchen, unsere Inhalte, die wir von den Situationisten bei den Pariser Seminaren übernommen hatten, unter den Studenten oder den Leuten zu verbreiten, die die besetzten Orte besuchten oder zu den Demonstrationen gingen, wobei wir oft unsere großen, schönen Zeitschriften-Plakate kostenlos verteilten, in der Hoffnung, dass die Leute sie in ihren Zimmern aufhängen würden…
Salvatore: Es gab eine Zeit, bis zum Ende des ersten Blackout-Radios, 1995, die meiner Meinung nach die Zeit der maximalen Mobilisierung war. Die Dimension der politischen Militanz mit der Dimension der Gegenkultur und der Sozialität zusammenzuhalten, bedeutete, eine Struktur der Zusammenarbeit, der Praktiken zu suchen, die nicht mehr auf den Kategorien beruhte, mit denen ich aufgewachsen war. Aber dann, zehn Jahre später, habe ich meine Meinung ein wenig geändert. Das war es, was ich damals dachte. Ich konnte es nicht einmal explizit sagen, weil ich wusste, dass die Mehrheit der Gabrio-Versammlung dagegen war, vor allem nach dem Weggang all derer, mit denen ich zehn Jahre lang Politik gemacht hatte (die zum Teil nach einem Jahr der Besetzung gegangen waren, während sich andere Subjekte dem Zentrum angeschlossen hatten, wie es immer passiert, zusätzlich zu der sehr wichtigen Komponente des Viertels)… Ich war damals davon überzeugt, dass die Perspektive, die später in der Charta von Mailand [18] umrissen wurde, irgendwie umgesetzt werden sollte… nur dass sie in Turin sehr unpopulär war. Für mich mussten die centri sociali in eine Richtung gehen, die vor allem die Venezianer anwendeten. In diesem Punkt stand ich dem Punto.zip nahe. Aber ich wusste, dass ich in der Gabrio in einer absoluten Minderheit war, ich habe das deshalb nicht einmal vorgeschlagen.
Luca: Nochmals eine Klarstellung zum 10. September 1994. Wenn ich die damaligen Zeitschriften und Zeitungen durchblättere, fällt mir auf, dass wir damals über so viele Dinge sprachen, die Leoncavallo-Affäre war eng mit dem Wechsel zwischen der Ersten und Zweiten Republik verbunden, die Liga hatte Mailand erobert, es gab Formentini als Bürgermeister und Maroni als Innenminister. Berlusconi ist die neue Konkretisierung des Politikers in der Zeit des generalistischen Fernsehens. Eine neue soziale Zusammensetzung, eine neue Dimension der Kultur. Wir haben früher viel über den Postfordismus diskutiert, über eine Million Dinge, und die centri sociali standen nicht im Vordergrund dieser Diskussion. Sie waren eine wichtige materielle Tatsache, sie ermöglichten es uns, viele Leute um uns herum zu haben, aber die Diskussion drehte sich nicht darum, mit Ausnahme einiger weniger Momente, wie der verpassten Konferenz in Arezzo. Die Debatte über die centri sociali erscheint mir heute ziemlich grob, vereinfacht: es gibt die Besetzer und die Selbstverwalter, es gibt die Selbstproduktion, den Kampf gegen die Repression, den Antifaschismus, den Widerstand gegen die Liga. Der 10. September 1994 war der Höhepunkt einer Vorstellung, die wir damals als Militante hatten und die auch sehr an ’77 erinnerte. Es war das, was wir uns unter der Stärke der centri sociali vorstellten: in der Lage zu sein, Mailand, die Hochburg des Kapitals, zu erschüttern. Glänzende Schaufenster zu zertrümmern und zu zeigen, dass wir wussten, wie man eine sozialpolitische Opposition zur Liga und zur Rechten sein konnte, während die Ex-PCI-Linke noch vom Fall der Mauer geschüttelt wurde. Aber wir waren der Meinung, dass dieser Tag wiederholbar sein musste, wenn möglich in noch stärkerer Form. In jeder Stadt. Die Tatsache, dass dies nicht geschah, zeigt die Grenzen der Vorstellungskraft, die wir für uns selbst aufgebaut hatten.
Damals haben wir viel über die Schaffung eines kollektiven Imaginären nachgedacht, was auch immer das für jeden von uns bedeutet. Außerdem finde ich es heute bezeichnend, dass dieser Konflikt, der nach dem klassischen Schema Vertreibung-Konflikt-Repression-Konflikt ausgetragen wurde, einige Tage später nicht von Maroni und auch nicht von uns, sondern von Cabassi, d.h. von der Mailänder katholisch-sozialen Bourgeoisie (natürlich unter dem Druck der Leoncavallo-Horde) aufgelöst wurde! In Turin erinnere ich mich an eine Inschrift vor der Stadtbibliothek: „Der 10. September kann immer stattfinden“, das war die Idee, die wir hatten. Aber sie wurde nicht umgesetzt. Stattdessen erreichten wir meiner Meinung nach 2001, nach Jahren einer langen, „akkordeonartigen“ Geschichte, wie Sollazzo zu sagen pflegte, den höchsten Punkt.
Ein großes Bündnis zwischen Veneti und Rete del sud ribelle, mit tausend anderen Gruppen, die in diesem Netzwerk und in der Symbolik der weißen Overalls zusammengeschlossen sind. Weil wir in die globale Welt und die globalen Bewegungen eintreten, sind wir auf der Welle von Seattle, wo der Sektor der sozialen Zentren es schafft, etwas Unglaubliches zu tun, einen Versuch einer großen Allianz. Dort ist man nicht mehr eine Komponente, die von anderen „ertragen“ wird, sondern man repräsentiert wirklich eine Welt. Und es war ein langer Weg dorthin, und dieser Versuch hielt bis zum Krieg 2003 und der pazifistischen Bewegung gegen den Irakkrieg 2003.
Salvatore: Jede Generation hat ihre eigene Biografie, und das ist richtig, aber nach ’95 schrumpft die Bewegung. Bis ’95 waren die centri sociali ein Subjekt (nicht im Sinne einer politischen Einheit, wohlgemerkt). Danach sind die centri sociali nur noch ein Teil (wenn auch ein wichtiger) der Tute Bianche, des Bereichs, der sich im Carlini-Stadion in Genua trifft.
Luca: Aber sie sind immer noch der wichtigste Teil der Tute Bianche.
Salvatore: Vom Standpunkt der Organisation und der Logistik der Mobilisierungen aus gesehen, gibt es keinen Zweifel. Wahrscheinlich irre ich mich, aber ich sehe die centri sociali immer noch nicht als die treibende Kraft in dieser Phase.
Claudio: Wenn ich meine Ankunft in der Welt der centri sociali datieren soll, dann fiel sie mit Genua 2001 zusammen, ich war in meinen Zwanzigern und war in einer Parteiorganisation, den Jungkommunisten, wir schlossen uns dort dieser Bewegung an. Diese Bewegung gab den Anstoß, den sie geben sollte. In dieser Bewegung, in den Sozialforen, in einer heterogenen Dimension, in der es auch die centri sociali gab. Sie gaben diesen Anstoß, und nach Genua 2001 waren die centri sociali das einzige Subjekt unter allen Kräften, die die Sozialforen belebten, das vielen jungen Menschen die Möglichkeit bot, diesen Weg fortzusetzen, und sie boten dies auch mir an, der ich ein treuer Militanter einer Parteiorganisation war. Die Funktion der centri sociali in dieser Phase ist genau die, den Kampf fortzusetzen, ein Ventil für die Fortsetzung der Militanz. Der Fall Genua hat diese Bedeutung, in seiner ganzen Komplexität, von der Straße bis zur Artikulation der politischen Diskussion innerhalb der Sozialforen. Als ich zu den Sozialforen ging, hatte ich zwar eine gewisse Parteilinie, aber ich war viel näher an der Intervention der Genossen aus den centri sociali, nicht nur des Gabrio.
Salvatore: In Turin war es auch so.
Claudio: Ich denke, Turin hat Besonderheiten, über die man nachdenken sollte. Die centri sociali hatten dort eine große Kraft, sowohl politisch als auch auf der Straße. Rifondazione hatte dann 2002 die traurige Idee, eine nationale Konferenz über Gewaltlosigkeit zu veranstalten, für mich war das der Moment des Bruchs, nicht in der institutionellen Dimension! In einer Phase, die bereits von Unzufriedenheit geprägt war, sagte ich: „Aber wie, vor einem Jahr haben sie uns abgeschlachtet, und wir diskutieren über Gewaltlosigkeit… Wovon reden wir eigentlich? Hallo Rifondazione, und Gott sei Dank gibt es die centri sociali, sonst wäre die Dimension meiner Militanz und die so vieler anderer, die um die 1980er Jahre herum geboren wurden…, wie hätte sie enden können? Sie würden sich zurückziehen. Selbst angesichts des Verlustes des anfänglichen Impulses dieser Bewegung nach kurzer Zeit war diese Bewegung in der Lage, eine Delle in etwas Großes zu machen, das die internationale No-Global-Bewegung war, und zu sagen: „Wir sind auch dabei! Wir sagen diese Dinge, wir praktizieren Selbstverwaltung und wir haben in Bezug auf die institutionelle Politik diese Dinge zu sagen“. Zwischen 2001 und 2003 war ich in der nationalen Koordination der Jugend von Rifondazione, viele haben wie ich Rifondazione verlassen und sind in der Welt der centri sociali gelandet, im Bereich des Ungehorsams, der die Intelligenz hatte, sich in einer bestimmten Weise zu platzieren und zu sammeln. Wenn es bei der ersten Besetzung des Gabrio 1994 eine Gruppe von Exilanten aus Rifondazione gab, so kam mit Genua im Gabrio eine weitere kleine Gruppe von jungen Leuten aus dieser Erfahrung im Bruch mit der Partei, aber mit diesem Kopf dort an. Wir treffen einige ‘alte Männer’, mit denen wir auch über die Art und Weise, wie wir Politik verstehen, streiten, über Militanz, eine Zeit von 2001 bis 2004, die auch eine Zeit der Reibung war. Aber an einem bestimmten Punkt, ich erzähle euch eine Anekdote, hatten wir gerade einen anderen Ort besetzt, um zu versuchen, ein paar Blocks vom Gabrio entfernt einen anderen sozialen Raum zu schaffen, weil diese jungen Leute ein bisschen Schwierigkeiten hatten, mit dem alten Gabrio zurechtzukommen, und ich ertappte mich dabei, wie ich eine lange Diskussion mit Paolo über die Erfahrung der Zapatisten führte, wobei Paolo mir sagte, dass die Perspektive der centri sociali darin bestand, ein militantes Argument im Territorium, im Viertel, vorzubringen und so etwas wie das Selva Lacandona im Viertel aufzubauen. Wenn ich daran denke, was ich mit meiner Generation von Genossen und Genossinnen im Gabrio gemacht habe, dann war der Versuch, das, was dort war, in die Praxis umzusetzen, was wir dann mit den Kurden wieder aufgenommen haben, auf der Grundlage dieser Erfahrung. Wir sind von einer Struktur ausgegangen, die es schon gab, von dem, was in dieser Struktur aktiv war, und haben sie wiederbelebt. Das gab dem Zentrum einen weiteren frischen Wind.
Salvatore: Es gab einen Generationswechsel in der Leitung! Das Gabrio war am Ende, ihr habt es wiederbelebt.
Claudio: In jenen Jahren, nachdem wir Rifondazione verlassen hatten, wohin konnten wir gehen? Es gab nicht nur das Gabrio, es gab auch das Askatasuna. Wir hatten das Gefühl, dass der Raum der centri sociali uns eine Reihe von Möglichkeiten bot, uns einen Weg boten, unsere Dimension der Militanz fortzusetzen, in einer Dimension der Radikalität, in Übereinstimmung mit unserer Idee des Kommunismus im Jahr 2001. Letztendlich haben wir den Disobedienza-Workshop mit dem Gabrio gemacht, nicht mit dem Aska.
Salvatore: Nun… Aska war dem Bereich des disobbedienza gegenüber feindlich eingestellt!
Stefanone: Das Gabrio hatte sich immer eine große Offenheit in Bezug auf seine Debatten bewahrt, schon seit der Isabella, seit dem Part davor. Man hat von Ihnen nicht verlangt, dass Sie sich auf seine Positionen einlassen. Wenn man sich die Initiativen und Gespräche seit 1994 ansieht, so sind sie beachtlich. 1996 gab es eine große Initiative zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Spanischen Bürgerkriegs mit der Anarchistischen Föderation. Jahrestag des spanischen Bürgerkriegs. Diese Art der Offenheit war ein Mittel der Anziehungskraft, gerade weil wir über den Aufbau möglicher Wege der Militanz sprachen, die nicht bereits festgelegt waren.
Salvatore: Ich möchte Claudio jedoch daran erinnern, dass ihr nicht sofort in das Gabrio gegangen seid, ich war auch bei der Versammlung zum disobbedienza dabei, die auf dem Corso Brescia tagte. Zuerst habt ihr Via Elba, Via Gioberti, Cit Turin besetzt, ihr habt Besetzungen gemacht, um den Raum des Ungehorsams zu schaffen. Erst später seid ihr in das Gabrio eingetreten und habt es wiederbelebt, natürlich ohne denen, die schon dort waren, etwas wegzunehmen. Aber zwei Jahre später, nicht im Jahr 2001.
Claudio: Aber damals gab es das Laboratorio delle disobbedienze, und es stimmt, dass wir versuchten, Besetzungen zu machen, „Zähler“ zu machen, womit die centri sociali experimentieren wollten, um zu versuchen, die soziale und politische Intervention in den Territorien nach Genua auf eine neue Art und Weise neu zu definieren, zu bestimmten Themen wie Wohnen, Arbeit, die Migrantenfrage usw… Als der Versuch, einen neuen Raum neben dem Gabrio einzurichten, scheiterte, beschlossen wir schließlich, ins Gabrio zu gehen.
Alex: In Turin gab es das Modell der Hausbesetzer und das der Autonomie von Aska, und dazwischen konnte ein weiteres Modell für diejenigen entstehen, die sich von diesen beiden Modellen nicht vertreten fühlten. Und diese Realität reicht aus, um nicht nur ein centro sociale zu schaffen, sondern zwei, denn in Turin ähnelt uns das Manituana. In Rom ist es die Geschichte des Forte, das eine besondere Geschichte hat, die die Tute bianche tangential erlebt hat… Sie repräsentieren Fraktionen der umanità. [anarchistische Zeitschrift, d.Ü.]
Sollazzo: Es ist kein Zufall, dass der Gabrio als ‘soziales Scharnierzentrum’ definiert wurde… Wir drehen einige Elemente um, eines davon ist die Generationendynamik. Ich fange auch an, das, was ich erlebt habe, in der Dimension der Generationendynamik neu zu lesen. Das sind die klassischen Dynamiken, bei denen neue Dinge in der Welt passieren, es gibt junge Leute, die andere Bezugspunkte haben und nicht mehr die eigenen sind, und sie sind diejenigen, die sie in die Politik einführen, und dann werden sie zu den Alten und andere junge Leute kommen, um sie zu untergraben. Das geht immer so weiter. Eine zweite Dynamik ist folgende: Wenn wir über die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit dieser großen Momente der Konfrontation und der Revolte, wie dem 10. September 1994, gesprochen haben, dann ist das etwas, das man gut analysieren sollte: Vor dem 10. September gab es die Räumung von Leoncavallo im Jahr 1989. Unmittelbar nach der Räumung von Leoncavallo gibt es die in Conchetta, es gibt keine Wiederholung dieser Art von Zusammenstößen, aber die in Conchetta gehen auf das Dach und fangen an, ihre Körper zu zerschneiden. Der 16. August 1989 wurde nicht reproduziert, genauso wie der 10. September 1994 nicht reproduziert wurde, genauso wie der Corso Traiano im Jahr 1969 nicht reproduziert wurde. Diese Reproduzierbarkeit findet nicht statt. Diese Ereignisse erregen viel Aufmerksamkeit, und die Leute, die Militanten, glauben, dass von da an alles mehr ist, nach dieser Logik der Reproduzierbarkeit, und das ist nie der Fall. Es gibt immer etwas anderes, das dazwischen kommt.
Stefanone: Der Tag ist nicht reproduzierbar und wird normalerweise zu einem Mythos. Der Mythos ist von Natur aus nicht reproduzierbar. Aber dieser Mythos wirkt auf die Subjektivitäten, die sich ihm nähern. Er fungiert als Bezugspunkt, d.h. „machen wir es wie am 10. September“…
Paolo: Aber das waren die Schlagworte, die wir benutzt haben, wir wollten es eigentlich noch einmal machen.
Stefano: Aber die Realität ist, dass man es nicht reproduzieren kann, sondern dass es als Mythos für diejenigen bleibt, die es nicht praktiziert haben, für die nächste Generation.
Luca: Wenn ich zurückdenke, ist mir eine Sache aufgefallen, die ich jahrelang verdrängt hatte: Ich erinnere mich an eine Demonstration, die um das San-Vittore-Gefängnis in Mailand herum ging, einige Monate nach dem 10. September 1994, und ich habe das Bild von Primo Moroni vor Augen, der, glaube ich, mit Manconi und vielleicht auch mit Daniele Farina spricht, und sie sagen: „Wir müssen sie schnell wegbringen, sonst wird es wieder so wie am 10. September“. Vielleicht ist es eine falsche Erinnerung oder auf jeden Fall eine sehr verzerrte, aber ich weiß, dass ich gedacht habe: ‘Aber wie, das ist doch unser Ziel! Oder nicht?“. In dem Buch über die Geschichte von Leoncavallo [19], das zum 40. Jahrestag des Zentrums erschienen ist, sind dem 10. September zwei knappe Seiten gewidmet, auf denen dieses Ereignis eindeutig heruntergespielt wird. Ich bin heute der Meinung, dass dieses Ereignis sehr schwierig zu bewältigen war. Aber für uns war es grundlegend, faszinierend, unser Ziel. Ich muss darüber nachdenken… Ich denke zum Beispiel an die Broschüre 10 settembre 1.9.9.4. Per l’antagonismo dei centri sociali [20], die von Velleità alternative dai Murazzi herausgegeben wurde und die genau im 10. September den höchsten Punkt der Konfrontation identifiziert, den es zu reproduzieren gilt: das ist die Form der Radikalität dieser Realität.
Nach den Kollektiven der 1980er Jahre schienen die centri sociali, die ihre eigene Tradition hatten, die neue Form der gesuchten Politik zu sein, die eine enge Verbindung zur kulturellen und sozialen Dimension hatte. Damals erlebten wir sie als die Entdeckung einer Form des politischen Handelns, als ein großes Novum. In einigen Fällen handelte es sich nur um eine reine Maskerade der politischen Tätigkeit der früheren Kollektive: Ich bin eine kleine Gruppe, ich besetze einen Raum und versuche, mich in etwas anderes, Größeres zu verwandeln. In anderen Fällen, wie Du es geschildert hast, war es das Ergebnis von tiefgreifender Arbeit und großen Veränderungen in Theorie und politischer Praxis. In jenen Jahren entwickelten sich auch die Basisgewerkschaften, es gab andere Neuerungen, Radios, Ecn. Aber das schien eine neue Form der Politik zu sein. Dreißig Jahre später würde ich sagen, dass es ein großzügiger Versuch war, an dem Tausende von Genossen beteiligt waren, aber dass er in Wirklichkeit alles gegeben hat, was er geben konnte, und nicht in der Lage war, auf das Bedürfnis zu reagieren, ein neues Instrument der politischen Organisation zu finden, nach dem Niedergang der Parteiform, und dass er den Veränderungen nicht standgehalten
Stefano: Eine Zeit lang waren die centri sociali eine mögliche Form der Politik, allerdings in einer unvollendeten Form. In einer Zeit tiefgreifender Umwälzungen, deren Ergebnisse sich erst heute abzeichnen. Mit dieser Form ging die Möglichkeit einher, sich noch einmal neu zu erfinden. Die Kollektive der 1980er Jahre konnten die dreißig Jahre, die uns von 1989 trennen, nicht überdauern. Die Form des centro sociale hat es geschafft, diese dreißig Jahre zu überstehen und hat immer noch etwas zu sagen. Jede Form ist vergänglich, und diese Form entsprach den Bedürfnissen sowohl der kleinen militanten Gemeinschaft als auch eines Teils der Jugendlichen, die auf der Suche nach Formen der Zusammenkunft, der Sozialität, der Sichtbarkeit und der Selbstverwaltung waren, und zwar in anderen Formen als den heutigen.
Salvatore: Ich kann das nicht nachvollziehen. Damals war ich davon überzeugt, dass das grundlegende Schritte waren, weil das Kollektiv nicht mehr ausreichte, aber ich weiß nicht, inwieweit das einer rationalen, analytischen Vision entsprach, sondern eher einem Gefühl, einer Wahrnehmung… An einem bestimmten Punkt gaben wir auch die Idee auf, dass wir wer weiß wen vertreten müssten… Als wir diese Zeitschriften machten, haben wir wirklich das Problem aufgeworfen, was in den Neunzigern das Äquivalent zum wilden Streik oder zur Sabotage der Sechziger sein könnte, wir haben es als Problem aufgeworfen. Aber ich habe das centro sociale nie als die privilegierte Form der Militanz gesehen … Vielleicht ist das der Unterschied. Ich habe es damals so nicht gesehen. Später, denke ich, war es die Rüstung, die Infrastruktur, die viele Dinge ermöglichte, auch fortschrittlichere Dinge. Es wurde von neuen Generationen bewohnt, die zu Recht ihre eigene Vision haben. Damals hatte ich das Gefühl – und nicht nur ich -, dass man in einer Gesellschaft, die das Bildungsniveau, die Sphäre des Konsums bei der Vermittlung von Sozialität, die Arbitrage des kapitalistischen Konsums bei der Bildung von Subjektivitäten und Identitäten veränderte, irgendwie auf dieser Ebene agieren musste – und sei es auf zweideutige Weise. Es ist klar, dass wir damit gleichzeitig auch ein eigenes Bedürfnis befriedigt haben: Wir haben die Angewohnheit, uns immer als externe Subjekte darzustellen, als wären wir eine ahistorische Subjektivität, die sich über die Jahrhunderte erstreckt, wie Leninisten, Anarchisten, Libertäre, die sich angesichts einer sich verändernden Gesellschaft nicht verändert. Aber wir selbst sind immer ein Produkt. Als ich sah, dass die centri sociali ein anderes reproduzierten, das nicht einmal mehr eine Militanz war, in einer Phase der Beendigung der Ziehharmonika der Kämpfe, war es klar, dass eine Periode zu Ende ging… Sogar nach 2003-2004 passiert etwas Ähnliches, diese Erfahrung kehrt zurück, die disobbedienze enden; ab 2008 ändert sich alles wieder, die Krise, l’Onda und dann die 5 Sterne-Bewegung verändern die Szene. Für mich (zurückgehend auf die 1990er Jahre) war es die Erkenntnis, dass wir uns selbst verändern müssen, als Individualität, Subjektivität. Ich hatte damals heftige Diskussionen mit denjenigen, die eine abstrakte militante Anthropologie vorschlugen, die nicht zu denen gehörte, mit denen ich einen Dialog führen wollte, zuerst in den Panther, dann in den Vierteln, aber sie gehörte auch nicht zu mir.[…] Und dann ist es klar, dass es sich ändert. Aber es ist die jüngere Geschichte: alles, was dem Ungehorsam Leben einhaucht, die Idee, dass es möglich war, die postfordistische kapitalistische Innovation von einem antagonistischen Standpunkt aus zu bekämpfen (denn das war die Operation, die dann begann, als Post-Operaismus definiert zu werden), dann war es erlaubt, mit diesen Wegen zu experimentieren, auch wenn sie dann absolut unbefriedigende Formen hervorbrachten. Ich glaube, dass die Bewegung von Seattle nach Genua nicht in den Raum der sozialen Zentren eingegrenzt werden kann.
Luca: Aber die Argumentation ist anders: Die centri sociali, zumindest ein wichtiger und bedeutender Teil von ihnen, schaffen es, als Protagonisten dabei zu sein, mit sozialen Verbündeten, die ihre Legitimität anerkennen. In Mailand hingegen waren sie praktisch allein. Wir erinnern uns, dass „il manifesto“ am 11. September mit der Schlagzeile „Brutta Milano“ (Hässliches Mailand) herauskam, was eine gewisse Isolation signalisierte…
Salvatore: Aber 1994 war da nichts! Im Jahr 2001 war es etwas anderes, da gab es Seattle, das war die letzte weltweite Bewegung der Subjektivierung…
Luca: Die FFF-Leute waren es auf ihre Weise.
Alex: Occupy Wall Street auch.
Marco: Es ist wirklich schwierig, sich daran zu erinnern, was die Leute vor zwanzig oder dreißig Jahren wirklich gedacht haben. Wenn man die Dinge heute betrachtet, waren wir ein Haufen Unwissende. Sogar naiv, denn 1991 gingen wir zu El Paso, um um Hilfe zu bitten, wir konfrontierten sie, um zu erklären, was wir tun wollten, um zu besetzen. Das heißt, es gab diese Versammlung mit denjenigen, die von Rifondazione weggelaufen sind, weil es ein undurchführbares militantes Milieu war, auch weil ein großer Teil der Partei in den Händen der Kosaken, Togliaten war. Diese Aktion, zu der wir gekommen sind, die Besetzung der Isabella in Lucento-Vallette, haben wir gemacht, indem wir ein wenig an die Vergangenheit gedacht haben, an ein centro sociale, das im Viertel agiert, das versucht, einen Kampf um die Bedürfnisse zu führen und mit der Arbeiterklasse und der proletarischen Zusammensetzung des Viertels zu sprechen, sie zu vereinen und zu vertreten. Der erste interessante Ort, den wir fanden, war ein verlassener öffentlicher Platz, an dem die Basisgruppen ihre Versammlungen abhielten, die Rana Gresba [21], und wir dachten daran, Unterstützung in der Erbengemeinschaft dieser Realitäten zu finden, die damals mit den Grünen im Viertel saß. Die Grünen waren diejenigen, die am meisten gegen die Besetzung waren, auch weil sie etwas anderes damit machen wollten. Aber wir waren „Vermittler“, wir hatten auch die Idee, dass man durch die Besetzung eines verlassenen öffentlichen Ortes, auf Gedeih und Verderb, selbst wenn man geräumt wird, den Prozess der öffentlichen Umnutzung beschleunigt, weil man auf jeden Fall anprangert, agitiert und Propaganda macht. Die Besetzung der Isabella hatte dann ihre Brüche und ihre Nachwirkungen in Bezug auf die Tatsache, dass es sich nicht um ein handhabbares Gebäude handelte, das Dach kam herunter und während der Räumung gab es Leute, die Gefahr liefen, herunterzufallen… Der Bruch zwischen den jüngsten und den etwas älteren Mitgliedern der Pantera betraf den Gegenstand des Austauschs, denn die Stadtverwaltung bot uns eine Wohnung in Corso Umbria an, die eine Bruchbude war. Wir hätten viele Millionen ausgeben müssen, die wir nicht hatten, um sie bewohnbar zu machen. Schließlich kam Toni auf die Idee, San Paolo zu besetzen, weil es dort ein Gebäude gab, das gerade aufgegeben worden war.
Alex: Ein paar Tage nach dem 10. September 1994…
Marco: Ja, ein paar Tage danach, aber die Diskussion war schon vorher geführt worden. Wir hatten uns der Demonstration am 10. September angeschlossen, wir haben uns als Gruppe auf dieses Ziel hin neu formiert.
Salvatore: Das war der Moment, in dem sich die Gruppe aufspaltete in eine Isabella A, die den Austausch mit der Gemeinde akzeptiert, und eine Isabella B, die den Austausch mit der Gemeinde nicht akzeptiert.
Marco: Die Idee ist also, ein anderes Ziel zu finden, zwei Plätze zu besetzen und die Verhandlungen mit der Gemeinde wieder aufzunehmen, um dann zu sehen, was passiert. In der Zwischenzeit war es zu einer weiteren Diskussion mit einer Gruppe von Jugendlichen aus der Nachbarschaft gekommen, ein weiteres Element, das ins Spiel kommt, wenn wir das Gabrio betreten. Die Isabella war zu diesem Zeitpunkt für uns nur ein Tauschobjekt, aber als es darum ging, sie zu verlassen, gab es Widerstand von den Jugendlichen aus dem Viertel, aus dem Delta House [22], die sich in einem kleinen Raum eingeschlossen hatten. Es waren Vallette-Jungs auf ihre eigene, nette und temperamentvolle Art. In Lucento-Vallette gab es für uns wirklich keine Bedingungen, um diesen Versuch der sozialen Verwurzelung im Viertel zu unternehmen. Das haben wir in Borgo San Paolo gefunden. Hier trafen wir auf junge Leute, die zum Teil schon das centro sociale Murazzi besuchten, junge Leute aus den Wohnsiedlungen in der Umgebung, die diese Aufgabe zu sehen begannen und sie sich langsam zu eigen machten. Es gab auch die Frage des geschützten Konsums von Drogen, und das sollte ein grundlegendes Element in der Geschichte von Gabrio werden, nämlich die Selbstverwaltung des Drogenhandels.
Salvatore: Wenn ich mich richtig erinnere, lösen sie die „Widersprüche im Volk“ auf.
Alex: Sie konnten im Gabrio nicht dealen.
Marco: Ja, die lange Diskussion über diese Frage führte zur Einrichtung der „Apotheke“, einem einzigen Dealer für das ganze Gabrio, und nur für bescheidene Mengen. Kurz gesagt, am Ende waren wir kein belebter Ort, und in Turin war die Hegemonie der belebten Orte in den Achtzigern und ein wenig in den Neunzigern ein bisschen wie eine Schule. Wir waren ein anomaler Aspekt. Wir waren diejenigen, die das centro sociale für die Bevölkerung geöffnet haben, man konnte jeden Tag hineingehen, wir haben sogar versucht, die Teile den verschiedenen Gruppen zuzuordnen. Das war ein nicht unerhebliches Managementproblem, aber es war eine strategische und erfolgreiche Entscheidung, weil wir dadurch eine Verbindung mit der Jugend des Viertels herstellen konnten, die sich im Laufe der Zeit in der Via Revello fortsetzte. Aber die Besonderheit war auch, dass wir weder orthodoxe Autonome noch anarchistische Hausbesetzer waren, wir vertraten einen dritten Pol, wir versuchten den Dialog mit allen, mit Teilen der linken Gewerkschaft, mit la Cub.
Salvatore: Auch weil es uns damals unmöglich war, mit den Hausbesetzern zu diskutieren…
Marco: Wir waren auf einer objektiven Suche, und den Verzicht auf eine bestimmte Art von politischer Militanz haben wir in der Praxis erlebt. Wir legten unsere Kleidung als politische Militante ab und wurden zu sozialen Militanten, Aktivisten. Das war ein gewisser sozialer Prozess, ein Versuch, vor Ort aktiv zu sein. Die letzte Generation hat es geschafft, das fortzusetzen, viel, viel später…
Salvatore: Wenn du die Zeitspanne eingrenzt, wie viele Generationen meinst du dann?
Claudio: Ich bin nicht der letzte… Die letzten sind die Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen von heute. In Übereinstimmung mit der Geschichte vom Gabrio gibt es eine Gruppe sehr junger Genossen, meist Studenten oder Berufsanfänger, sogar Facharbeiter. Sie kommen aus der Nachbarschaft, aus San Paolo. Gabrio war schon immer ein Schwamm, der in der Lage war, alle sensiblen Dinge, die er um sich herum hatte, aufzusaugen, auch auf Umwegen. Was Marco beschrieben hat, dieser Prozess wurde später im Gabrio abgeschlossen, diese Dimension der sozialen Verwurzelung wurde langsam erreicht und findet heute durch Aktivitäten wie die Palestra popolare statt, die eines der Haupttore zum Zentrum war. Viele neue Genossinnen und Genossen kamen über diesen Weg der sozialen Verwurzelung in das centro sociale. Das centro sociale ist ein solches, wenn es nicht nur eine politische Gemeinschaft bildet, die das Kollektiv ist, sondern auch die Genossen, die nicht mehr im Kollektiv aktiv sind, die aber da sind, auch wenn sie nicht mehr zu den Versammlungen gehen, aber die vorbeikommen. Die centri sociali sind nicht die endgültige Form, sondern die Abfolge der Generationen, die sie bewohnten und versuchten, dort Politik und soziale Initiativen zu machen. Es war die einzige Form, die in der Lage war, die Außenwelt, aber auch sich selbst zu überleben, die in der Lage war, sich zu verändern und das Erbe einer nachfolgenden Generation zu bleiben, die mit anderen politischen Erwartungen ankommt, die aber das soziale Zentrum mitnimmt. Die 20- bis 30-Jährigen, die jetzt im Kollektiv des Gabrio sind, bekommen alles, was vorher war, im Guten wie im Schlechten. Und jede Generation hat einen Beitrag in praktischer Hinsicht hinterlassen, in Bezug auf das Lesen und Interpretieren der Welt, aber auch in menschlicher Hinsicht. Die menschliche Dimension innerhalb des Zentrums ist die Dimension des Aufbaus dieser Gemeinschaft, die nicht ignoriert werden kann, wie wir in Chiapas oder Kurdistan sehen. Und die Zentren sind auch heute noch die einzige Realität, die aus sozialer Sicht (ich möchte nicht in die politische Subjektivierung vordringen) eine Sphäre der Radikalität innerhalb der Furche der Geschichte der Arbeiterbewegung bieten kann und weiterhin junge Menschen zusammenbringt, die eine Dimension der Militanz leben, aber auch junge Menschen, die in der Umgebung leben und manchmal mit dieser Dimension der Militanz in Konflikt geraten. Sie schlagen zum Beispiel Fensterscheiben ein, um in das centro sociale zu gelangen und einen sicheren Ort in der Nachbarschaft zu finden, an dem sie sich aufhalten können, für diejenigen, die in der Nachbarschaft keinen Platz zum Wohnen finden. Natürlich kann das centro sociale nicht das Instrument sein, das alle Bedürfnisse erfüllt, die wir uns im Laufe der Jahre gesetzt haben.
Marco: Heute findet man junge Leute hier im Gabrio, im
Askatasuna. In El Paso findet man uns 55-Jährige. Das ist eine Form, die sich nicht weiterentwickelt hat. Es gibt keine anderen Formen der Aggregation….
Salvatore: In diesem Punkt stimme ich nicht zu!
Luca: Ich auch nicht, heutzutage gibt es so viele, dass wir Gefahr laufen, ausgegrenzt zu werden.
Salvatore: Ich füge hinzu… Um ehrlich zu sein, hat mich das Viertel nicht interessiert. Ich beende es hier. Trotzdem gehöre ich im Isabella zu denjenigen, die versuchen, eine Brücke zu dieser sozialen Zusammensetzung zu schlagen, aber das endet in einem Kampf…das Gabrio ist anders. Ich glaube wirklich, dass das Gabrio das einzige soziale Zentrum ist, das eine symbiotische Verbindung mit dem Viertel hat, aber das kam erst später. Wir hatten das damals nicht im Sinn, vielleicht haben wir es rhetorisch unterstützt, aber nicht realistisch. Paul sagte vorhin, dass das centro sociale ein Raum ist, der von neuen Subjekten für neue Zwecke angeeignet werden kann. Das Viertel bestand damals aus Menschen mit geringer Bildung, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen. Jetzt, Claudio, sprichst du von Studenten: Auch das Viertel hat sich verändert. Die Leute im Isabella-Saal waren Bauarbeiter, das war etwas anderes… Andererseits bin ich völlig anderer Meinung: In den letzten Wochen habe ich versucht, die Mobilisierungen gegen den G7 zu verfolgen, die Rebellion gegen das Aussterben, diese Generation hat sehr wenig mit den Sozialzentren zu tun und sie fängt sehr wenig von dem Imaginären auf, das wir mit uns tragen, wie auch immer es verändert wird.
Guazzo: Heute zieht das Gabrio viele Studenten an. Als wir heute Abend ankamen, war der Studienraum noch in Betrieb, der ein offener Raum ist und sogar während der Pandemie offen blieb, als alles andere geschlossen war. Das Viertel hat sich verändert, und es verändert sich sehr schnell. Aber Gabrio konnte hier eingreifen. Man schaue sich nur an, was aus dem alten Gabrio-Gebäude in der Via Revello [23] geworden ist, was zurückgegeben wurde. Schaut euch nur an, was mit der Umstrukturierung des Diatto [24] passiert ist. Wir haben es geschafft, einen Teil des Betons zu blockieren und einen Garten zu schaffen, der zwar noch nicht geöffnet ist, aber er ist da, ein Raum, der öffentlich bleibt. Und wir haben erreicht, dass in dem historischen Teil des Gebäudes kein Supermarkt gebaut wurde und dass er von der Öffentlichkeit zurückgekauft wurde, und jetzt wird er mit dem Pnrr wiederhergestellt. Genauso wie die Sache mit dem Westinghouse [25], bei der auch so viele Stimmen von den 5 Sternen aus Appendino gesammelt wurden, ohne die Großzügigkeit der Genossen das Gabrio nicht wiedereröffnet worden wäre. In der Anziehungskraft der Menschen, die hierher kommen, liegt eine große Spontaneität und ein Bedürfnis nach Bildung, sich in einer Geschichte wiederzuerkennen, sich mit den Älteren zu konfrontieren, um die Vergangenheit zu verstehen, es ist eine Generation, die sich viel und tief in Frage stellt. Auch im Persönlichen, wie ich es seit Jahren nicht mehr erlebt habe. Die Non una di meno-Bewegung hatte hier den Raum zu wachsen, der der gesamten feministischen Bewegung Beine machte. Aber in Gabrio gibt es viele Leute aus der Nachbarschaft, die kleine Fachleute sind, Installateure, die Schmiedeeisen herstellen und so weiter. Es gibt eine sehr widersprüchliche Jugendkomponente, Ausländer der zweiten oder sogar dritten Generation, die hier aufgewachsen sind und mit denen die einheimischen Jugendlichen konfrontiert werden. Es stimmt, dass die Versammlung von Gabrio sehr rassistisch ist, es gibt nur Weiße. Im Vergleich zu früher ist die Mehrheit der Gabrio-Versammlung weiblich, sie ist nicht mehr so männlich wie früher.
Stefanone: Neben der Nachbarschaftsebene gibt es in der Gabrio Ausschüsse, die nicht unbedingt Nachbarschaftsausschüsse sind, wie z.B. das Schuldenkomitee oder das No-Olympics-Komitee, die eine andere Dimension des Gebiets als Nachbarschaftsraum haben. Ich stimme Salvatore zu, dass ich mich anfangs, wie einige von uns, wenig um die Nachbarschaft gekümmert habe, und es ist die Nachbarschaft, die sich aufdrängt, die Nachbarschaft, die diesen Ort entdeckt. Die Komitees zu evozieren bedeutet, die Idee des Territoriums als Stadt zu evozieren, der Versuch, gegen die Dynamik der Verwaltung des Territoriums in Turin einzuschreiten, was etwas besonders Interessantes ist, es ist ein Versuch, sich als wirksamer Bezugspunkt zu positionieren, der die Fähigkeit hat, mit der Stadt zu sprechen.
Luca: Ein letzter Punkt: Die centri sociali entstanden zu einer Zeit, als sich die Stadt, die alte Industriestadt, veränderte. Das ist in Turin und Mailand sehr deutlich zu sehen. Und sie entstanden zu einer Zeit, und ich spreche für Turin, in der selbst die Ebene des Systems nicht weiß, was zu tun ist, da es riesige leere Flächen, stillgelegte Fabriken, gibt, in die man eindringen kann. Unter anderem beginnt in Turin eine demographische Schrumpfung und eine Neudefinition der Produktion. Eine Situation, in der die Stadt voller leerer Flächen ist, ist eine eigenartige Situation, vielleicht einzigartig in ihrer Größe.
Vielleicht lag es an den Karten, dass in diesem Moment jemand auf eine andere, alternative Nutzung für diese Flächen kommt, damit sie nicht nur zu Gebäuden, Mieten, Supermärkten, neuen Straßen werden, sondern zu Räumen der Sozialität, zu Gemeingütern. In Turin gibt es immer noch den riesigen Mirafiori-Raum, der aufgegeben wird, was ein ziemliches Problem darstellen wird… Die etwas utopische Idee, Schulen, Kindergärten, Fabriken, die öffentliche Räume waren, in die soziale und politische Dimension zurückzuführen, war in den 1990er Jahren eine starke Botschaft. In der Stadt kann so etwas sogar ein Katalysator für ganz andere soziale Spannungen sein, ich denke da an den Kampf um den Gezi-Park in Istanbul… Heute, da die Stadt durch das Kapital umgestaltet wurde, das Territorium in Wert gesetzt wurde, das Leben der Menschen (und der Jugendlichen) vollständig zur Ware geworden ist, gibt es in der Metropole verschiedene Lebensformen, wie Alex sagte, und die sozialen Zentren können jene Lebensformen beherbergen, die besondere Sensibilitäten, radikale Antriebe haben, die Hyperproletarier, die Alquati als „nicht akzeptierend“ bezeichnete, aber in einem Kontext, in dem andere Lebensformen unendlich viele Orte finden, materielle und immaterielle, die sie aufsuchen oder durchqueren können, dauerhaft oder nomadisch, in dem, was Alquati immer das große Feld der Reproduktion der menschlichen Fähigkeiten nennt. Als die centri sociali entstanden, hatte man die Vorstellung, dass jedes Viertel sein eigenes centro sociale haben würde, dass es eine kapillare Ausbreitung geben würde, dass es zumindest ein nationales Netz von Zentren geben würde. Das ist nicht geschehen, außer in Rom. Aber in der Zwischenzeit veränderte sich die Stadt, verwandelte sich durch immense Kapitalströme in eine gigantische Aufwertung des Raums und der Zeit der Menschen, die 24 Stunden am Tag in neuen phänomenalen Formen arbeiten, wofür die Viertel der „Vergnügungsviertel“, der movida, ein Sinnbild sein könnten.
Sollazzo: In Rom gab es eine Zeit, in der jedes Viertel sein eigenes centro sociale hatte, das einen Weg der direkten Demokratie entwickelte, an dem viele Tausende von Menschen beteiligt waren, auch wenn dies vielleicht nicht in die Geschichte einging. Es war eine ganz andere Geschichte als in Turin, Mailand oder anderen Städten.
Salvatore: Beginnen wir mit einer Banalität: Mailand, Turin, Rom, das sind sehr unterschiedliche Städte. Ich glaube, es gibt ein Bewusstsein, das später gereift ist. Damals gab es keinen Diskurs gegen die Gentrifizierung, das kam erst später, zusammen mit den aufkommenden Formen des Kapitalismus, der die Stadt auffrisst. Es ist ein Bewusstsein, das in Italien in den Jahren 2008-2009 vor allem in Mailand aufkam, sehr wenig in Turin. Eine Besetzung, die aus diesem Diskurs hervorging und ihn in den Mittelpunkt stellte, war Macao in Mailand, die Besetzung von Torre Galfa entstand ausdrücklich mit der Idee, den Umstrukturierungsplan für das Mailänder Stadtviertel Porta Nuova und die Gentrifizierung des Mailänder Zentrums in Frage zu stellen, aber sie kam erst 2012. In den 1990er Jahren war dieses Bewusstsein noch nicht vorhanden. Ich weiß, dass es damals bei Gabrio Leute gab, die den Masterplan von Gregotti [26] und Cagnardi studierten, der versuchte, die Stadt auch ideologisch in einer postindustriellen Perspektive neu zu gestalten. Aber in den centri sociali war man nicht in der Lage, diese Ebene der Gestaltung des städtischen Raums anzugreifen, und das war eine verpasste Gelegenheit. Aber es war zu der Zeit schwierig.
Marco: Es geschah auf dem Terrain der Hausbesetzungen, des Kampfes um Wohnraum.
Salvatore: Du hast Recht, aber es ist anders. Heute gibt es bei Gabrio das Komitee gegen den Masterplan.
Stefanone: Damals fehlten in unserer Generation diejenigen, die mehr von der Stadt verstanden, und das war für uns das geringste Problem. Man kann das schon früher sehen wie in den centri sociali im Susatal, dort gibt es eine Reihe von Spezialisten auf hohem und sehr hohem Niveau, die sich einmischen und ein spezifisches Wissen zu diesem Thema aufbauen, das sie teilen, indem sie es öffentlich machen, und das wir nicht hatten. In diesem Moment gibt es eine Kluft zwischen dem mikroskopisch kleinen Teil der Gesellschaft, der wir sind und der im Durchschnitt über sehr geringe Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, und dem Großteil der Gesellschaft. Wir sind eine oppositionelle und losgelöste Variable, hier hingegen gibt es eine Verschiebung, wenn sich Menschen mit Fähigkeiten und Wissen dieser Welt nähern, eine nicht unbedeutende Verschiebung, denn sie verändert ein Stück der sozialen Referenz, sie ermöglicht Allianzen mit sehr unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft, die sich auf dem Boden der Opposition befinden, wenn auch nicht anders.
Alex: Eine große Einschränkung bei dieser schönen Diskussion ist, dass keine Frauen anwesend waren. Unverzeihlich.
Guazzo: Um auf Lucas Frage zurückzukommen, es stimmt, in jenen Jahren gab es viel mehr Räume, die besetzt werden konnten. Damals war es viel einfacher, einen besetzten Raum zu eröffnen, denn auch der Staat hatte nicht all die Waffen, die er heute hat, man denke nur an das Rave-Dekret: Nach dem Rave-Dekret gab es sehr wenige Raves… Es gab auch eine Reaktion des Staates.
Salvatore: Man denke nur, als Lucia Tozzi [27] vor zwei Monaten ins Gabrio kam, waren es einhundertfünfzig Leute.
Guazzo: Marcello Vignardi, der ehemalige Stadtrat der Novelli-Junta, der dann mit Raffaele Radicioni, dem Stadtbaurat in der Novelli-Junta der PCI zwischen ’75 und 1985, zusammengearbeitet hat, kommt zu diesen Versammlungen gegen den Masterplan… das bedeutet, dass ihr eine politische Kraft in der Stadt aufgebaut habt und so zieht ihr auch diese Leute an.
Was ist heute noch übrig? Wo kann ich frei Sprachen entwickeln, die sich von der Unterdrückung, die es gibt, unterscheiden? Wir lassen Euch mit dieser Frage zurück… Vielen Dank!
Anmerkungen
[13] Kulturzentrum Principessa Isabella, früher Kindergarten Principessa Isabella, heute Sitz des Dokumentationszentrums des Turiner Bezirks 5, in der Via Verolengo 212, Lucento. In den frühen 1980er Jahren war es ein Nachbarschaftstreff, der 1987 geschlossen wurde. Im Jahr 1993 wurde es besetzt und blieb es bis 1994.
[14] Turiner Universitätszeitschrift.
[15] Radio der Bewegung, gegründet im September 1992.
[16] Hausbesetzung in der Corso Principe Eugenio in Turin.
[17] ‘Die Liga der Wütenden’ entsteht 1990 nach einer Reihe von Treffen in Imperia, La Spezia und Florenz und ist ein kollektiver Index, der aus dem Bedürfnis verschiedener Realitäten entsteht: Kollektive, Gruppen, soziale Zentren, Einzelpersonen, die an der Selbstverwaltung/Selbstproduktion/Vertrieb von Büchern, Platten, Audio- und Videokassetten, Zines, Postkarten, T-Shirts usw. interessiert sind.
[19] Leoncavallo Spazio Pubblico Autogestito (herausgegeben von), Centro sociale Leoncavallo. Quarant’anni di cultura a Milano, Edizioni Interno 4, Mailand 2019.
[20] Csa Murazzi, 10 September 1.9.9.4. Per l’antagonismo dei centri sociali, Velleità alternative, Turin 1994.
[21] RA.NA. GR.ES.BA., Akronym für RAssegna NAzionale dei GRuppi ESpressivi di BAse, kulturelle Veranstaltungen, die 1981 aus den Theater- und Musiklabors der Begegnungszentren der Stadtviertel Vallette und Lucento hervorgingen und zwischen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre im Rahmen von Veranstaltungen wie Stadtteilfesten, Karneval und den 150-Stunden-Kursen stattfanden.
[22] Dann Delta House Occupied, aus dem besetzten Turiner Viertel.
[23] An der Stelle des Gabrio in der Via Revello befindet sich heute ein Garten.
[24] Ehemalige Fabrik, lange Zeit Sitz von städtischen Ämtern. Im Jahr 2012 beschloss die Stadt Turin, das Gebäude abzureißen, um neue Luxuswohnungen, ein Einkaufszentrum und Parkplätze zu errichten. Ein spontaner Nachbarschaftsausschuss Snia Rischiosa kämpft zusammen mit Pro natura, Legambiente und Gabrio gegen den Abriss, der am 5. Juni 2013 stattfindet. Im Jahr 2020 wird ein Projekt für den Bau eines Studentenwohnheims mit einer angrenzenden Grünfläche zur öffentlichen Nutzung festgelegt.
[25] Das Sanierungsprojekt der ehemaligen Bremsenfabrik Westinghouse in der Turiner Via Borsellino sieht den Bau eines Konferenzzentrums im ehemaligen Industriegebiet und eines Esselunga-Supermarktes im Park vor. Das Komitee Essenon, das von den sozialen Zentren Gabrio und Askatasuna unterstützt wird, protestiert gegen diese Nutzung des städtischen Raums.
[26] Raffaele Radicioni, Stadtbaurat der beiden Turiner Pci-Juntas von Diego Novelli (1975-1985), bereitete den neuen Generalregulierungsplan nach dem Regionalen Stadtplanungsgesetz 56/1977, dem so genannten Astengo-Gesetz, vor, das darauf abzielte, die Stadtentwicklung auf regionaler Ebene neu auszutarieren, die Dienstleistungen zu vervielfachen und die städtischen Einnahmen umzuverteilen. Gerade um die Verabschiedung dieses Masterplans zu verhindern, der die konsolidierten Interessen untergraben hätte, wurde im Januar 1985 die zweite Novelli-Junta gestürzt und mit dem Pentapartito ein anderer Ansatz als das PRG (Architekten Gregotti und Cagnardi) initiiert, der dann von der Castellani-Junta übernommen und 1995 von der Region verabschiedet wurde.
[27] Öffentliche Diskussion mit den Autoren des Buches Le nuove recinzioni a Torino, Carocci 2023, Lucia Tozzi, Stefano Portelli, Luca Rossomando, im Gabrio, 29. Februar 2024.
Veröffentlicht am 3.9.24 auf Machina, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.