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Überlegungen zum Hungerstreik von Alfredo Cospito gegen 41bis und lebensfeindliche Haft und die internationale Solidaritätsmobilisierung (20. Oktober 2022 – 19. April 2023)

Am 19. April endete der am 20. Oktober letzten Jahres begonnene lange Hungerstreik des anarchistischen Gefangenen Alfredo Cospito gegen 41bis und die lebensfeindliche Haftstrafe nach 181 Tagen.

In diesen sechs Monaten hat Alfredo Cospito die Kampffähigkeit und Würde bewahrt, die ihn sein ganzes Leben lang – und insbesondere während seiner Haft – ausgezeichnet haben. Er hat die Widersprüche innerhalb des Machtapparats aufgedeckt, die internationale revolutionäre Tatkraft gestärkt und der Propaganda antiautoritärer Ideale Sichtbarkeit verliehen, indem er seinen Körper und sein Leben einsetzte, um die Vernichtungsmaschinerie, auf der der niederträchtige politische Apparat des italienischen Regimes aufgebaut ist, mit nie dagewesenen Echo anzuprangern.

Für Anarchisten ist die Verantwortung immer individuell. Dieser Aspekt unterscheidet den Anarchismus historisch gesehen von anderen Strömungen des Klassenkampfes. Eine so radikale Entscheidung wie ein kompletter Hungerstreik kann niemals das Ergebnis von Parteibeschlüssen sein, sie ist nicht die Tochter einer externen Direktive und wird nicht durch die Überlegungen einer politischen Instanz außer Kraft gesetzt, die die Ergebnisse der Auseinandersetzung abwägt und im Falle eines positiven Ergebnisses den Gefangenen auffordert, den Kampf auszusetzen.

Alfredo wollte seiner Initiative von Anfang an einen kollektiven Wert verleihen, indem er die Abschaffung von 41bis und die lebenslange Freiheitsstrafe für alle forderte. Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 18. April besagt, dass bei allen Verbrechen, die mit lebenslanger Haft bedroht sind, künftig immer die Möglichkeit besteht, mildernde Umstände geltend zu machen, um eine lebenslange Haft für den Angeklagten zu vermeiden. Das betrifft nicht nur Alfredo Cospito und Anna Beniamino im Scripta-Manent-Prozess. Es handelt sich zwar noch nicht um die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, aber zumindest um die Abschaffung der bisher für bestimmte Verbrechen zwingend vorgesehenen lebenslangen Freiheitsstrafe. Am nächsten Tag beschloss der Genosse daher, seinen Hungerstreik zu beenden.

In diesen sechs Monaten hat sich Alfredo konsequent und hartnäckig gegen Versuche gewehrt, ihn zu ermorden oder zum Aufgeben zu bewegen. Er hat sich den zahlreichen Ablehnungen durch den Überwachungsgerichtshof in Rom, durch den Kassationsgerichtshof und durch den Justizminister Nordio widersetzt, die seinen Antrag auf Abschaffung der 41bis-Regelung betrafen; er hat sich dem Antrag der Turiner Staatsanwaltschaft auf lebenslange Haft widersetzt: Er hat seinen Hungerstreik erst unterbrochen, als er zu einem seiner Anträge etwas Konkretes erreicht hatte. Alfredo hat so viel gegeben und damit gezeigt, wie stark das Ideal der Freiheit ist, das ihn im Kampf bewegt; sein Leben ist immer noch in Gefahr und er könnte in den langen Jahren der Haft, die ihn noch erwarten, bleibende Schäden davontragen.

Wir respektieren die Entscheidungen des Genossen und sind dankbar für die Kraft, die er uns allen gegeben hat. In diesen sechs Monaten konnte der internationale Anarchismus seine Energie und Radikalität in dieser Frage zum Ausdruck bringen. Die Solidaritätsbewegung hat mit ihrer Vielfalt an Praktiken, sowohl bei kollektiven Demonstrationen als auch bei individuellen Aktionen, ein Grundproblem der öffentlichen Ordnung konstituiert, indem sie die Gründe für diesen Kampf in den Mittelpunkt der Debatte gestellt hat. Vor allem in Bezug auf die 41bis-Regelung wurde diesem berüchtigten Vernichtungsregime noch nie so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Niemals zuvor wurde die Heiligkeit der Anti-Mafia, an der Kritik in Italien immer ein Tabu war, vor allem in linken Kreisen, so in Frage gestellt. Eine offene Wunde, die, da sind wir sicher, auf Dauer weiter bluten wird. Dies geschah nicht dank politischer oder kommunikativer Akrobatik, sondern auf der Welle der radikalen Initiativen, die ergriffen wurden.

Die heimtückische Entscheidung der vorherigen Regierung der Nationalen Einheit unter der Leitung von Mario Draghi und der damaligen Ministerin Marta Cartabia, einen Anarchisten in 41bis einzusperren, hat sich als Bumerang erwiesen. Wenn es das erklärte Ziel von 41bis ist, die Kommunikation mit der Außenwelt zu verhindern, dann ist dieses Ziel nicht nur gescheitert, sondern hat genau das Gegenteil bewirkt: Alfredos Schriften waren noch nie so bekannt, die Verbreitung anarchistischer Ideen hatte eine noch nie dagewesene Sichtbarkeit in der heutigen Zeit. Die 41-bis-Androhung hat nicht den von vielen befürchteten Rückzug bewirkt, sondern im Gegenteil Wut und eine Vielzahl von Initiativen hervorgerufen.

Die Entschlossenheit der neuen rechten Regierung hat sich nicht mit der mangelnden Bereitschaft des Anarchismus zu Kompromissen mit der politischen Dialektik auseinandergesetzt. Bei den strategischen Entscheidungen, vom Krieg bis zur Wirtschaft, folgt die Regierung von Giorgia Meloni ihrer Vorgängerin in vollkommener Kontinuität. Selbst in dieser Frage war sie nicht nur nicht in der Lage, die Fehler ihrer Vorgänger zu korrigieren, sondern hat mit ihrer für die extreme Rechte typischen “Recht und Ordnung”-Rhetorik den Konflikt verschärft und seine Dauer verlängert.

Wir müssen auf die bereits einsetzende repressive Reaktion – Denunziationen, Durchsuchungen, Sicherheitsmaßnahmen und Präventivmaßnahmen – reagieren, indem wir als kollektives Erbe die verschiedenen in den letzten Monaten eingeführten Praktiken verteidigen. Wir empfinden jede der Aktionen, die in dieser Zeit stattgefunden haben, als unsere eigene.

Was wir jedoch mit Abscheu zurückweisen, ist jegliche Rhetorik der “politischen Lösung” im Zusammenhang mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito. Der Genosse hat seinen Hungerstreik nicht unterbrochen, um der Zivilgesellschaft das Wort zu erteilen, oder weil es ihm gelungen ist, eine demokratische Debatte über 41bis zu eröffnen. Diejenigen, die diese Behauptungen aufstellen, verkennen den grundsätzlich antipolitischen Charakter des Anarchismus. Alfredos Hungerstreik folgte einer völlig anderen Logik, und wenn er sprechen konnte (wie bei der Anhörung in Perugia am 14. März), sagte er sehr deutlich, dass “die einzigen Lichtblicke, die ich sehe, die Gesten der Rebellion meiner revolutionären Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt sind”.

In den letzten Monaten hat der Abschaum der Radikalen Partei Versuche einer demokratischen Versöhnung unternommen, wenn auch nur marginal. Die Vereinigung des gewaltlosen radikalen Widerstands hat Alfredo die Ehrenpräsidentschaft angeboten. Der Regionalrat der Radikalen in der Lombardei, Michele Usuelli, besuchte Alfredo am 1. Februar im Gefängnis und forderte ihn auf, die gewalttätigen Aktionen, die draußen stattfanden, zu verurteilen und seinen Hungerstreik aus Protest gegen diese Aktionen zu beenden. Dies war eine feige Initiative, die sich gegen einen Gefangenen richtete, der als 41-bis-Gefangener selbst der Folter des sensorischen Entzugs ausgesetzt ist, der sich seinerzeit seit über drei Monaten im Hungerstreik befand und der außerdem den Besuch von jemandem ertragen muss, der sich als sein Freund ausgibt und dabei nur versucht, ihn auf den Weg der Distanzierung zu locken.

Aus diesem Grund waren die Mobilisierung der Anarchisten und die konfliktiven Praktiken, die zum Ausdruck kamen, so wichtig. Diese Aktionen hielten die Tür zur Politik verschlossen, sie standen auf uneinlösbarem Boden, sie schafften es, dieses nicht nur so vielen Ausgebeuteten, sondern auch Alfredo selbst zu vermitteln, indem sie den Genossen in einer Zeit großen Leids wissen ließen, dass es diejenigen gab, die das Banner des Konflikts noch hochhielten und ihm halfen, den Provokationen der Feinde und den Verlockungen der falschen Freunde zu widerstehen. Wir sollten stolz sein auf das, was getan wurde.

Trotz alledem empfinden wir es als Niederlage, dass Alfredo im 41bis verbleibt. Es macht uns wütend, wenn wir daran denken, dass sich unser Genosse immer noch in diesem Vernichtungsregime befindet, vielleicht mit dauerhaften gesundheitlichen Problemen, die durch seinen langen Hungerstreik verursacht wurden. Das sollte uns zwar anspornen, den Kampf fortzusetzen, um den Staat noch für die Widersprüche dieser Entscheidung zahlen zu lassen, aber es birgt auch Gefahren.

Die größte Gefahr besteht darin, dass wir uns in einen endlosen Kampf auf dem spezifischen Terrain des Gefängnisses verwickeln lassen. Wir waren und sind immer skeptisch gegenüber jeder Form von Anti-Gefängnis-Spezialismus. Denn das Gefängnis kann nicht das Zentrum eines Kampfes sein. Denn im Zentrum stehen die Gründe, warum Menschen im Gefängnis landen. Die Gründe, die Alfredo ins Gefängnis brachten und für die er eine lebenslange Haftstrafe riskiert, sind aktueller denn je: Ausbeutung, Rassismus, Imperialismus, Atomkraft.

Alfredo ist im 41bis gelandet, weil er auch nach dem Gefängnis weiter zur Debatte beigetragen hat, um seinen revolutionären Elan nach außen zu tragen. Mit Alfredo haben wir uns in den letzten Jahren eine Frage gestellt: Welche Internationale? Wenn wir den Weg vermeiden wollen, der uns gleichzeitig in den dritten Weltkrieg und in die Klimakatastrophe führt, ist die Zeit gekommen, diese Frage dringend zu beantworten. Die Bewegung, die sich in den letzten sechs Monaten entwickelt hat, gibt uns zweifelsohne einen Hinweis. Dies ist unsere Internationale.

Anarchisten aus Foligno

3. Mai 2023

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks.