Vom weißen Marsch zum allgemeinen Aufstand. Bericht über einen sehr langen Tag.
“Jeder hat seine eigene Bande, jeder hat seine eigene Mutter. Aber wenn du einen von uns anrührst, rufen wir unsere Banden zusammen, um dich in die Luft zu jagen”.
Jul, Temps d’avant
“Indem das Proletariat die Verneinung des Privateigentums fordert, erhebt es nur das zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft als Prinzip für sich aufgestellt hat.”
Karl Marx, Beitrag zur Kritik des Hegelschen politischen Rechts
Die Menschenmenge ist dicht gedrängt. Die Menschen drängen sich um den gemieteten Lastwagen, auf dem Nahels Mutter Mounia und ihre Angehörigen stehen. Drumherum besetzen Motorradfahrer die Bürgersteige und lassen die Motoren aufheulen. Es ist heiß. Wir erreichen den Palast der sogenannten Justiz. Die Architektur ändert sich. Die Atmosphäre ebenfalls. Die schattigen, von Häusern umgebenen Straßen weichen Milchglasblöcken, einem Kreisverkehr und einer riesigen französischen Flagge. Hier will sich die Republik sichtbar machen. Heute sieht es so aus, als würde sie sich selbst denunzieren. Gruppen überqueren die mit hohem Gras bewachsenen Randstreifen und huschen zwischen den Blüten der wilden Kräuter hindurch.
Plötzlich geht es am Place des Droits de l’Homme – wir haben “askip” (slang: augenscheinlich d.Ü.) auf das Straßenschild geschrieben – drunter und drüber. Die Polizei wird an einer Ecke angegriffen, sie weicht zurück. Der vorherrschende Style ist: nackter Oberkörper, T-Shirt-Vermummung, Gürteltaschen. Wir befinden uns auf einer kleinen Anhöhe an einer Abzweigung der Peripherie. Die Polizisten halten den Platz, mehr aber auch nicht. Der Wind bläst das Tränengas in ihre Richtung zurück. Dann sagt jemand: “Wir machen alles platt”. Die Idee wird wörtlich genommen. 20 Minuten lang wird alles herausgerissen: Schilder, Bäume, Steine, Zäune. Innerhalb von Sekunden wird eine Baustelle in eine Barrikade verwandelt. Ein Typ öffnet eine Garage, holt einen blechernen Eimer raus und schlägt damit gegen die Fenster. Ein anderer hat eine Schaufel. Minutenlang machen sich die Leute an den Blechen der Autobahnauffahrt zu schaffen. Dann werden auf der Straße alle erreichbaren Fensterscheiben mit Tritten zertrümmert. Jemand sprüht mit einem Feuerlöscher um sich. Die Fronttür der Bank öffnet sich inmitten kleiner Rauchwolken. Die Akten fliegen im Wind, die Schaufenster stürzen weiter ein.
Schließlich rückt die Polizei vor und drängt uns nach oben. Wir rennen zwischen den Büschen und den zersplitternden Schaufenstern hindurch. Flashballs. Ein Auto auf dem Dach liegend steht in Flammen, ein umgekippter Porsche Cayenne wird zur Barrikade. In dem Durcheinander kreisen Motorroller und Motorräder wie panische Wespen umher. Wir bitten Einheimische um ein schnelles geografisches Update: Wohin sollen wir fliehen? Sie sagen uns, in diese Richtung, zum Park und dann nach Picasso, dem Treffpunkt des heutigen Marsches.
Wir werden von einer Ladung Bastarde bis zum Park zurückgedrängt. Die Familie fährt mit dem Lastwagen um den ganzen Stadtteil herum, die Jugendlichen halten den Park wie eine ZAD. Jemand sagt: “Das ist Athena 2”. Ein Mann auf dem Rücksitz einer Motocross-Maschine warnt die Menge von einem kleinen Hügel aus. Die Polizei versucht, den Eingang zum Park zu erobern, ein langer Kampf um den Eingang zum Park. Tränengas, Granaten. Kleine Kinder verstecken sich in den Hainen. Wir stehen auf einer der Anhöhen, die den Eingang dominieren. Von dort aus sagen die Großen: “Vermummt eure Gesichter”. Zwei Hubschrauber kreisen am Himmel. Letzte Ladung für den Parkeingang. Die ersten Reihen springen über die Zäune und über die Büsche. Schöne Flugfiguren, um den Polizisten zu entkommen. Diejenigen, die sich unter den Bäumen verstecken, lachen. Dahinter kauern Vermummte im Gras. Bagger werden angezündet.
Gruppen, die im Unterholz auf der Lauer liegen. Man greift nach allem, was sich herausreißen und werfen lässt. Es ist ein Tornado von Materialien, der auf die CRS niedergeht: Holz, Steine, Feuer, Raketen. Ein Gerücht macht die Runde: Die BRI ist soeben in Nanterre eingetroffen. Eine Karussellbude wird aufgebrochen, alle stürmen hinein. Jemand betätigt das Ding, das die Spielzeuge zum Drehen bringt. Im Inneren bricht Jubel aus. Dutzende von Aufständischen springen auf und schreien wie verrückt, während sie das kleine rosa Pony in die Y-Position bugsieren. Dann sagt ein Typ: “Alle raus, wir zünden es an”, alle hören auf ihn, Ende der Pause. Der Pavillon mit den roten Planen brennt auf einmal, riesiger schwarzer Rauch.
Verfolgungsjagd durch die Hügel, auf dem Weg brennen die hölzernen Masten der Niederspannungs-Freileitungen. Wir werden bis zum Eingang von Picasso zurückgedrängt. Gebäude, die wie Fabrikschornsteine aussehen. Riesige zylindrische Türme in Pastellfarben mit Fenstern, die wie Bullaugen aussehen. Der Architekt, der diesen Komplex entworfen hat, ist ein kranker Mann. Der Abgeordnete, der beschlossen hat, ihn Picasso zu nennen, ist ein Zyniker. Aus der Siedlung werden uns Geschosse in Einkaufswagen gebracht. Einer davon ist mit Feuerlöschern gefüllt. Eine Spur mit kleinen Klumpen aus weißem, gelbem und grauem Rauch, die schließlich eine Wolke bilden. Ohne einen Laut beginnen die Menschen dahinter zu rennen, es regnet Steine, die geblendete und mit Steinen beworfene Polizei wird weiter zurückgedrängt.
“Wartet bis heute Abend, Jungs”. Eine kontrollierte Ruhe stellt sich ein. “Warte auf die Nacht, warte”. Wir gehen durch Picasso. Hinter den höchsten Türmen des Viertels befinden sich riesige, bedrohlich wirkende Glaswürfel: La Défense. “Warum greifen wir La Défense nicht an?” Ende der Peripherie, Treppen, röhrenförmige Fußgängerbrücken, Firmentürme. Auf der Suche nach der RER durchqueren wir das Labyrinth, überwinden die unsichtbaren und städtebaulichen Grenzen, die das Finanzzentrum von Nahels Siedlung trennen. Wir verschmelzen mit einer anderen – gleichgültigen und geschäftstüchtigen – Menschenmenge. Wir kehren nach Paris zurück, Richtung Nachbarschaft.
***
Die Nacht bricht über den Nordosten von Paris herein. Wir sitzen in unserem Mietshaus – mit der Idee, vielleicht in einen nahegelegenen Vorort zu ziehen. Doch ein Feuer entfacht plötzlich die benachbarte Straße. Wir treffen uns an der Kreuzung, die wir alle so gut kennen. Jemand stellt geschickt Mülltonnen auf und zündet sie an. Dann zerschlägt er methodisch Glas auf der Straße. Die Kreuzung führt in die Straße x, die in die Siedlung x führt. Auf der gesamten Länge der Straße werden Feuer angezündet. Entzücken darüber, wie unsere Straßen in Flammen aufgehen. Mehrere Mülltonnenfeuer stromaufwärts und stromabwärts schützen den Zugang zu x. Einige Feuerwerksraketen werden von einem vermummten jungen Mann in die Luft geschossen. Es ist 23:00 Uhr, ein Schrei: “Es geht los, los, wir hauen rein”.
Ein älterer Mann, der die Arme vor der Brust verschränkt hat, stimmt dem Geschehen ohne Zweifel zu. Ein Mann im Anzug steigt aus seinem Mini und möchte durchfahren. Der Brandstifter sagt zu ihm: “Tut mir leid, aber da können wir Sie nicht durchlassen. Es tut mir wirklich leid, mein Herr, da müssen Sie wohl drum herum fahren”. Der andere ist hartnäckig: “Du wirst mein Auto nicht anzünden, wie alt bist du?” Wir nähern uns sicherheitshalber dem Disput, “22 Jahre”. Wir sagen ihm, er solle sich verziehen und uns in Ruhe lassen, “Ciao, du Bevormunder”, sagt einer von uns. “Danke, Bruder, für die Sache bist du ein guter Mann”. Der alte Mann sagte: “Hey, der mit der Krawatte, für wen hält der sich?”. Am Eingang der Siedlung halten sich die Leute bereit. Eine Gruppe wirft den anderen zu: “Ihr wollt Krieg führen, also macht das auch, Jaap!”. Einige sehr junge Leute fahren zu zweit auf einem Scooter vorbei: “Na, Ihr Flocken?”. Mit Mörsern in der Hand warten sie auf die Polizei. Wir beschließen, in ihrer Nähe zu bleiben. Sie sehen ziemlich sexy aus und einer von uns kennt sie gut.
Ein Polizeiwagen kommt von der linken Seite und durchbricht die brennenden Barrikaden in einem Zug bis zum Zugang der Siedlung, wobei er auf die dort stehenden Menschen draufhält. Von rechts kommen ein paar Einheiten. Es sind nicht viele, sie sehen aus, als kämen sie gerade aus dem Büro und würden zum ersten Mal einen Helm aufsetzen. Es mangelt an Truppen. Die Siedlung wird belagert, aber sehr schnell zieht die Polizei unter Hurra-Rufen und Mörserbeschuss ab. Gerüchte machen die Runde: Alle Siedlungen in Frankreich organisieren sich, sie sind überfordert.
Wir hängen in der Gegend herum. Ein paar Straßen weiter steht auch die Siedlung Y in Flammen, ein umgekipptes Auto brennt langsam vor dem Eingangsbereich. Weiter hinten hören wir Feuerwerkskörper, die Siedlung Z muss sich ebenfalls erhoben haben. Vor unseren Augen entsteht eine andere Geografie: die der Siedlungen im Stadtteil mit ihren Mäulern, ihren Banden, ihrer Revolte. In mehreren Straßen ist das Licht erloschen, abgeschaltet. Einsatzkräfte biegen ab und nähern sich: Sie beleuchten die Gebäude mit ihren Lampen und ziehen unter Buhrufen und Feuerwerkskörpern wieder ab.
Letzter Versuch einer Intervention in der Siedlung X: Ein einsamer Kleinbus nähert sich, fährt an einigen Barrikaden vorbei, verängstigte Polizisten steigen aus, werden unter Dauerfeuer genommen, ein Feuerwerkskörper fliegt in das Fahrzeug, sie ziehen sich an eine Wand zurück, steigen wieder in ihr Fahrzeug und verschwinden. Auf dem Weg nach oben nimmt der Bullentransporter uns ins Visier – er sieht aus wie ein Gespensterwagen. Sie trauen sich nicht mehr auszusteigen. Wir rennen wie verrückt die Straße hinauf und werden von Phantom-Bullen verfolgt. Um uns herum explodieren die Feuerwerkskörper in einem ohrenbetäubenden Lärm, “Bruder zielt besser”. Wir flüchten durch eine der vielen kleinen Seitenstraßen.
Wir gehen zurück zur Kreuzung in der Siedlung X. Alles ist ruhig, die Feuer werden geschürt und die Flammen steigen in die Höhe. Wenn ein Bullenwagen auftaucht, wird er unter Beschuss genommen. Alle warten darauf, dass die Bullen auftauchen, sie sind das Ziel Nummer eins. Aber sie kommen nicht mehr. Eine Oma im Nachthemd mit ihrem Mann beobachtet die Szene mit unverhohlener Freude. Sie sagt: “Warte, wir rufen sie an”. Die Jugendlichen antworten “ja ja” und lachen und alle rufen gemeinsam an. Aber die Telefonzentrale ist überlastet und niemand kommt.
Die Straßen gehören uns. Die Plünderungen beginnen, von einem zum nächsten Laden. Aldi, Auchan, Monoprix, Picard, alles ist offen. Zuerst die Supermärkte, dann die Tabakläden und schließlich die Apotheken. Ende des Eigentums, für diese Nacht. Es ist ein Fest der Straffreiheit und doch werden nur die kapitalistischen Symbole ins Visier genommen, erstaunlich, nicht wahr? Die Granden der Siedlung gehen an der Kasse vorbei, die Späher reichen Poliakov Vodka durch die Autotür. Jemand bringt eine Tüte mit Süßigkeiten mit, die geteilt werden sollen. Die Plünderung erfolgt schrittweise: Zuerst der Alkohol, die Flaschen stammen aus dem Laden, Whisky, Wodka und Champagner. Dann werden die gepackten Tüten immer größer. Verächtlich werden Flaschen für 100 Euro ins Feuer geworfen, um die Flammen anzufachen. Wir gehen aus zum Essen: Jeder hat sein eigenes kleines Vergnügen, Nutella B-ready oder Oreo. Dann kommen einige Schwestern vorbei und gehen “einkaufen”. Sie verdecken ihr Gesicht mit einem Kopftuch und steigen durch das aufgebrochene Fenster ein. Dort liegen die Waren in greifbarer Nähe. Die Regale sind unbeleuchtet, aber frei zugänglich und kostenlos. Eine Aubergine liegt auf dem Boden. Nach stundenlanger Plünderung scheint der Laden immer noch voll zu sein.
Ein paar kleine, vermummte Kinder rennen mit einer Packung Waschmittel unter dem Arm davon. Es ist verrückt, jeder will Waschmittel haben. Stundenlang kommen verstohlene Gestalten aus dem Loch. Das Spektakel ist euphorisch. Immer größere und unwahrscheinlichere Taschen: Sporttaschen, Mülltüten, Körbe. Aus einem Beutel, der aussieht wie ein Sack des Weihnachtsmanns, dringt das Geräusch von aneinander schlagenden Flaschen. Eine Frau geht mit einem vollen Einkaufswagen zwischen zwei Feuerstellen aus Sitzmöbeln hindurch. Limonadenpack in einer Hand, offene Bierpackungen in der Mitte der Straße. ” Wollen wir rauchen?”, eine Gruppe geht in die Nacht hinaus. Jemand findet einige Päckchen und verteilt sie. Einer entdeckt eine kugelsichere Weste, die er sofort anzieht, bevor er seinen Posten auf der Barrikade wieder einnimmt. Ein anderer ist überrascht und entdeckt einen Dildo, der bei allen für Heiterkeit sorgt. “Was ist mit der Apotheke?” fragt jemand, und einige Sekunden später wird sie von einer Gruppe mit Fußtritten geöffnet, “für die Medikamente”.
3 Uhr Morgens. Die Kapitalisten müssen wütend sein, die Anrainer der Viertel grübeln in ihren Betten, die Nachbarn trauen sich nicht raus, schlafen aber auch nicht – sie schauen aus dem Fenster. Niemand wagt es mehr zu kommen. Es gibt kaum Geräusche, außer dass hier und da Feuerwerkskörper explodieren. Jede Ankunft ist verdächtig – Freund oder Feind? Einen Moment lang sah es nach einer Razzia aus, aber es war eine Bande auf Motorrollern. Ihre Ankunft löst eine kleine Party aus. Feuerwerk, Flaschen werden ausgetauscht, 360 Grad Drifts, Reifen werden heiß und die Gruppe fährt wieder. Später wird eine Gruppe zu Fuß unterhalb der Gebäude gesichtet, Bullen? Nein, es sind die Jungs aus der Siedlung Z, die uns besuchen kommen. Auf der verlassenen und ausgestorbenen Straße laufen 20 schwarz gekleidete, vermummte Personen mit Walkie-Talkies um den Hals und Mörsern auf der Schulter, die wie Gewehre getragen werden. Spät in der Nacht ist es ein Konvoi von 10 Autos, der hupend ankommt; die Mörserschützen sind bereit, aber es sind keine Polizisten. Die Leute parken, tauschen, öffnen die Kofferräume, füllen sie auf und fahren weg.
4 Uhr. Ein Auto mit urkomischen BAClern fährt vorbei, sie machen aber nur Fotos und fahren wieder weg. Es ist kein Geräusch mehr zu hören, die große Gruppe hat sich aufgelöst. Wir verlassen ungläubig die Siedlung. Andere kleine Gruppen kommen mit vollen Armen zurück. Eine Tasche wird auf dem Boden liegen gelassen, darin: Tiefkühlpizza, eine Packung Waschmittel, PAIC Zitrone, Häagen-Dazs-Eis und Toilettenpapier. Wir nehmen das Schmelzeis. In einem Gebäude in der Nähe unseres Gebäudes isst ein junger Mann, der mit einer Sturmhaube vermummt hinter einem Gitter steht, schweigend ein Eis. Wir lächeln uns an. “Komm gut heim, wir sehen uns morgen.”
Aus Neugier drängen wir bis zur Siedlung W vor. Wir sind überrascht, dass überall, absolut überall in der Gegend, das Gleiche passiert wie das, was wir gerade erlebt haben. Wir kommen zu einem Platz, auf dem ein ganzes Geschäft in Flammen aufgeht. Dichter Rauch steigt den Turm hinauf, der vom Feuer bedroht ist. Die Bewohner stehen draußen in ihren Pyjamas. Sie reiben sich die Augen, Kinder schlafen im Vorraum. Rundherum sind die Geschäfte geplündert. Eine andere Bande hält die Kreuzung. Jede Siedlung hat ihren eigenen Einflussbereich. Die Feuerwehr trifft ein, gefolgt von einer CRS-Staffel.
Die Polizisten schleichen sich unauffällig an einem Turm entlang. Dort erwartet sie ein heftiges Feuer. 30 lange Minuten lang werden sie unter Dauerfeuer von Feuerwerkskörpern stehen. Sie werden gestoppt und klammern sich an ihre Schilde, mit dem Rücken an die Wand geklebt. Die Einheit, die die Kreuzung hält, hat einen schlechten Ruf. Die Leute draußen sagen, dass sie niemanden durchlassen. Eine Mitschülerin erzählt mir, dass sie sehr misstrauisch sind. Als sie nach Hause gehen wollte, sagten sie zu ihr: “Wir kennen jeden, wer bist du? Wie lautet deine Adresse?”. Von den Polizisten abgewiesen, müssen wir eine Straße hinuntergehen und uns unter die Leute mischen. Die Jugendlichen hier sehen ehrfürchtig aus und greifen jemanden an: “Was machst du? Greif die Bullen an oder geh nach Hause, wir wollen keine Zuschauer, hast du gedacht, das ist ein Actionfilm oder was?”.
Wir gehen eine dunkle Parallelstraße hinauf, wo wir Leute aus X treffen. Eine von uns sagt: “Wir müssen eine Barrikade errichten, um die Leute aus W zu schützen”, die anderen stimmen zu: “Wir müssen ihren Rücken schützen”, und Mülltonnen werden quer über die Straße angezündet. Die Mülltonnen, die wir gerade anzünden, gehören unseren Kumpels, die um diese Uhrzeit wohl versuchen, zu schlafen. Aber die Mörser schweigen sowieso nicht. Im ganzen Viertel hallen die Explosionen wider, die Farben erobern den Himmel: rot, grün, blau, gelb, golden. Jemand sagt zu mir: “Alter, echt Alter, haben die Blitze”, und ich antworte: “Sie haben den Himmel auf ihrer Seite”.
Morgens auf dem Platz machen die Leute Fotos von den zerstörten Geschäften und besuchen den verwüsteten Monoprix. Alle erholen sich von einer unruhigen Nacht. Der Morgen ist die Stunde der linken Schnulzen, der Reaktionäre und der “Oh nein, der arme kleine Käsehändler”.
***
Selbst in unserem Lager gibt es Leute, die diese Revolte nicht verstehen, die nicht wissen, wie sie sich auf die Situation beziehen sollen; ganz zu schweigen von der extremen Linken und der institutionellen Linken, die natürlich in die Röhre gucken.
Wir stehen dem etwas sprachlos gegenüber: Das heißt, eine Revolte muss gelebt werden. Was wir sagen können, ist, dass die Polizei in diesem Land keine Grenzen kennt. Der Polizist, der Nahel getötet hat, war für seine Tapferkeit im Kampf… gegen die Gelbwesten ausgezeichnet worden. Heute sitzt er im Gefängnis und man spricht ernsthaft über diesen Fall. Das ist angesichts der vielen stillen Morde der letzten Jahre schon ein Sieg. Wir müssen diese Bewegung fortsetzen und die Regierung dazu bringen, ihre Polizei fallen zu lassen.
Denn da die Regierung und die Kapitalisten nur mit ihrer Hilfe regieren können, spielt die Polizei mit ihren fadenscheinigen Verlautbarungen den Erpresser. Erinnern wir uns an das alte Sprichwort: “Wer wird uns vor der Polizei schützen?”. Die Jugendlichen auf der Straße erinnern uns durch ihre Machtdemonstration daran, dass das, was uns vor der Polizei schützt, die Selbstverteidigung des Volkes ist. Die Jugendlichen in den Stadtvierteln haben es am Donnerstag, den 29. Juni, bewiesen: Wenn sich Banden gleichzeitig organisieren, können sie die Polizei zumindest für eine Nacht in Schach halten. Diese Erinnerung im Herzen der katastrophalen Zeit, in der wir leben, ist ebenso freudig wie notwendig.
Eine weitere Lehre, die man aus dieser Stärke ziehen kann: Die Jugendlichen konnten 40.000 Polizisten nur deshalb in Schach halten, weil sie sich auf bereits vorhandene Kräfte stützen, die über die logistische Frage hinausreichen und die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Gemeinschaft, Territorium, Organisation. Man darf dem Gejammer der einen oder anderen Seite nicht glauben: Die Revolte, die sich anbahnt, wird in den Arbeitervierteln breit getragen. Zwar werden die von den Jugendlichen eingesetzten Mittel in Frage gestellt, nicht aber die Entstehung einer Revolte nach diesem Mord. Die Jugendlichen, die auf der Straße sind, sind nicht besonders kriminell, und wenn sie sich der Polizei so mutig entgegenstellen, dann auch, weil sie sich alle mit Nahel identifizieren. Welchen Sinn hat es, in einem “republikanischen Pakt” zu leben, der die Tötung eines der eigenen Leute erlaubt?
Wir dürfen uns nicht von faschistischen Reden oder dem spektakulären Einsatz der bewaffneten Truppen beeindrucken lassen, sondern müssen die Aufstandsbewegung unterstützen. Eine Entpolitisierung der Revolte wird nicht helfen, sondern im Gegenteil den Wachhunden der Macht Recht geben, die Aufständischen isolieren und sie nur noch mehr in den Nihilismus treiben, vor dem die Wohlhabenden so viel Angst haben. Diejenigen, die Zweifel an den Zielen oder den verwendeten Mitteln haben, sollen ihren Standpunkt auf der Straße vertreten, in direkter Konfrontation mit den Aufständischen, im Dialog mit ihnen und mit konkreten Vorschlägen. Zu den Plünderungen ist nichts Besonderes zu sagen. Bei der Plünderung geht es darum, die Gewalt der wirtschaftlichen Segregation zu beseitigen. Die Aufständischen wollen die Polizei anlocken, sich amüsieren, an das herankommen, was ihnen im Alltag vorenthalten wird: Sie zielen natürlich auf die Waren ab.
Gezeichnet X
Veröffentlicht am 3. Juli 2023 auf Lundi Matin. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks.