Lasst die Masken fallen!

Michele Fabiani

Erklärung, die während der Anhörung vor Gericht zur Sonderüberwachung am 30. Juni in Perugia verlesen wurde.

Die Anhörung vor dem Gericht in Perugia zur Entscheidung über die Sonderüberwachung gegen einen anarchistischen Gefährten aus Spoleto ist beendet. Sie war öffentlich und der Gefährte gab eine Erklärung ab. Die Richter zogen sich zurück, um zu entscheiden, ob die Sonderüberwachung angewendet werden soll oder nicht, und kündigten an, dass sie 90 Tage brauchen, um “die Maßnahme festzulegen”. Aktualisierungen werden folgen.

Ich möchte damit beginnen, die Aussage eines Gefährten, für den ich eine große Zuneigung empfinde, vor Gericht zu zitieren.

“Gerichtsverhandlungen waren schon immer eines unserer besten Propagandamittel. Und die Anklagebank war immer die wirksamste und, man möge es mir gestatten, die glorreichste Tribüne” (1). Diese Worte stammen von Errico Malatesta und die Verhandlung fand am 29. Juli 1921 vor dem Mailänder Schwurgericht statt. Malatesta wurde zusammen mit anderen Anarchisten und Gewerkschaftern angeklagt, nichts weniger als einer der Anstifter – auch mithilfe der anarchistischen Zeitung Umanità Nova – der revolutionären Periode namens biennio rosso [die beiden Jahre 1919-1920, die in Italien durch große Streiks, Fabrik- und Landbesetzungen, Aufstände und revolutionäre Versuche gekennzeichnet waren; Anm. d. fr. Ü. ] gewesen zu sein. Vielleicht sollte das Frau Staatsanwalt Comodi [die Anklägerin im Fall Sibilla; Anm. d. fr. Ü.] etwas sagen.

Trotz der stolzen und unbußfertigen Haltung der Angeklagten (bei einer anderen Anhörung am 27. Juli hatte Malatesta deklamiert: “Meine Herren Geschworenen! Ich bin ein Strafgefangener, die Geschichte meiner Beziehungen zur Obrigkeit ist lang und langweilig” und “Ihnen zu sagen, dass ich den Klassenkampf anerkenne, ist wie Ihnen zu sagen, dass ich Erdbeben und das Nordlicht anerkenne”(2)) nun, die Gefährten wurden allesamt freigesprochen.

Machen wir einen kleinen Schritt vorwärts in der Zeit. Wir schreiben das Jahr 1923, zwei Jahre später, Mussolini ist bereits Regierungschef und das Gericht ist das Gericht in Rom. Im Zeugenstand befinden sich die Anführer der Kommunistischen Partei. Auch hier zeigen die Angeklagten eine aufmüpfige Haltung gegenüber den Richtern und der bürgerlichen Justiz, indem sie erklären, dass sie eine revolutionäre Bewegung und keine kriminelle Vereinigung seien und dass ihr Verhalten daher niemals eine gerichtliche Dimension haben werde; sie weigern sich daher, an die “Abstraktionen eines hohlen Liberalismus zu appellieren, für unser Recht, verschont zu werden”, wie Bordiga vor Gericht erklärte (3). Allerdings wurden auch dieses Mal alle freigesprochen.

Ich führe diese beiden, sozusagen weit zurückliegenden “Präzedenzfälle” an, weil ich einen Terminus festhalten möchte. Die faschistischen Sondergerichte entstanden, rein juristisch gesehen, als ein Instrument, um solche Freisprüche zu verhindern. Es gibt Epochen in der Geschichte, in denen der Krieg zwischen den Klassen die Justiz dazu zwingt, Instrumente einzusetzen, die, befreit von der Dialektik eines Prozesses, auf die Liquidierung eines konkreten und erklärten Feindes abzielen können, ohne die ordentlichen Verfahren zu durchlaufen.

Ich mag es nicht, mich zu beschweren oder zu übertreiben. Ich werde also nicht sagen, dass wir uns im Faschismus befinden oder dass die Maßnahme, die man auf mich anwenden will, eine faschistische Maßnahme ist. Außerdem sind die präventiven Zwangsmaßnahmen viel älter: Sie gehen auf die Anti-Anarchistengesetze – ein durchaus aussagekräftiger Name – der Regierung Crispi vom Juli 1894 zurück. Drei Gesetze, die die Straftatbestände im Zusammenhang mit dem Besitz von Sprengstoff verschärften, zum ersten Mal die Straftaten der Aufforderung zu Verbrechen und Vergehen und der Verherrlichung, auch wenn diese durch die Presse ausgedrückt wurde, unter Strafe stellten und schließlich einen neuen Passus mit der Bezeichnung ” Verfügungen zur öffentlichen Sicherheit ” (Deportation, Hausarrest) enthielten.

Wie Frau Staatsanwältin Comodi sehr gut weiß, weil sie versucht hat, den Text verschwinden zu lassen, wurde in der anarchistischen Zeitung Vetriolo geschrieben, dass wir uns auf eine autoritäre Wende neuen Typs zubewegen. Eines der Merkmale des autoritären Regimes des neuen Jahrtausends ist die multipolare, pluralistische Natur seiner politischen Form. Es gibt keine einzige Partei an der Macht, man kann wählen, wen man will, auf jeden Fall bleibt die strukturelle Politik unverändert: die Politik, die mit Krieg, sozialen Schlächtereien und Unterdrückung verbunden ist.

Der neue Autoritarismus ist nicht politischer Art, sondern das Ergebnis der Dominanz der technischen Vernunft, so dass im Grunde die Notwendigkeit des Algorithmus regiert; die willentliche, subjektive und parteiliche politische Organisationsform kann die Achse nicht verschieben. Seit mehr als einem Jahr werden von den armen Bevölkerungsschichten große Opfer verlangt, um einen Krieg der Zivilisation gegen die Autokratien zu führen, aber man sieht nicht, dass unsere Gesellschaft mit jedem Tag, der vergeht, Putins Russland ein wenig ähnlicher wird. An diesem Wendepunkt der Geschichte ist diese Art von Staat einfach der evolutionär am besten geeignete Organismus, um die Herausforderungen der vom Kapitalismus verursachten Krisen zu bewältigen.

Der neue Autoritarismus ist also nicht faschistisch, es gibt kein Parteiregime und auch keinen Führer, einen Duce, der ihn leitet. Stattdessen ist er unpersönlich und durchdringt die verschiedenen Regierungen und die autonomen Staatsgewalten. Auf der eigentlichen repressiven Ebene ist seine Speerspitze die Integration des Prunks der politischen Polizei in den Anti-Mafia-Rahmen. Man bedenke, dass der Mann, der die größte Verantwortung für dieses repressive Meisterwerk trägt, heute Abgeordneter der Opposition, genauer gesagt der 5 Sterne Bewegung (Movimento 5 stelle), ist.

Das wohl aufsehenerregendste Beispiel für diesen Freiheitswahn ist die im letzten Jahr erstmals in der Geschichte erfolgte Verlegung eines Anarchisten in das Strafvollzugssystem 41bis, ein Fall, der dank des heldenhaften Kampfes von Alfredo Cospito, der sich sechs Monate lang im Hungerstreik befand, und der Solidaritätsbewegung in Italien und im Ausland Schlagzeilen machte.

In seinem kleinen Maßstab entspringt das Verfahren, das heute stattfindet, derselben Logik. Der informative Vermerk, auf den sich die Staatsanwaltschaft stützt, um die Anwendung der Sonderüberwachung gegen mich zu beantragen, stammt aus einer Kontrolle der Guardia di Finanza [italienische Zoll- und Finanzpolizei; Anm. d. Red.] aus dem Jahr 2021 im Rahmen der üblichen Aktivitäten, um jemanden zu erwischen, gegen den Anti-Mafia-Präventionsmaßnahmen angewendet werden können. Eine Kompetenzverschiebung, die wirklich ins Paradoxe führt, denn es kommt so weit, dass die Guardia di Finanza ihre Zeit und ihr Geld nicht dafür verwendet, Mafiosi und Steuerhinterzieher zu verfolgen (wie es die ideologische Desinformation, die in allen Medien läuft, gerne hätte), denn niemals geht sie das Risiko ein, den Hochmut der reichen Herren auch nur zaghaft zu beleidigen, sondern dafür, eine Anti-Mafia-Präventionsmaßnahme für einen anarchistischen Arbeiter zu beantragen, der 450 Euro im Monat verdient.

Nach dem Scheitern mit anderen Mitteln holt die Staatsanwaltschaft erst heute diese informative, zwei Jahre alte Notiz wieder hervor. Da sie mich nicht wegen Anstiftung zu Verbrechen und Vergehen verhaften lassen konnte, da sie der anarchistischen Zeitung Vetriolo auf gerichtlichem Wege nicht den Mund verbieten konnte, da sie in einem Kontext von Krieg und notwendigen Opfern, die Unmutsäußerungen unter der Bevölkerung begünstigen können, da die öffentliche Ordnung durch den Solidaritätskampf mit Alfredo Cospito gestört wurde, versucht die Staatsanwaltschaft von Perugia durch eine Verwaltungsmaßnahme das zu erreichen, was sie mit ihren üblichen Instrumenten nicht erreichen konnte. Dieser Antrag kann so kalt, technisch und unparteiisch wie möglich dargelegt werden, aber es geht um diese Straftaten, von denen wir sprechen – Pressedelikte, Provokation – und es geht um diese Maßnahmen, von denen wir sprechen – Hausarrest, Präventionsmaßnahmen; kurz: Crispi und Mussolini. Jeder wählt die Geschichte, deren Erbe er sein will, ich für meinen Teil habe meine Wahl schon vor langer Zeit getroffen.

Wie bei den von mir zitierten Prozessen von 1921 und 1923 (es ist wahr, dass sich die historische Tragödie als Farce wiederholt!) besteht der Versuch, den die Staatsanwaltschaften verschiedener italienischer Städte mit den zahlreichen Anträgen auf Sonderüberwachung für Anarchisten unternehmen, darin, ein Terrain zu finden, auf dem sie die Debakel ihrer Gerichtsverfahren rächen können. Ein Terrain, auf dem ein stillschweigender institutioneller Pakt die Liquidierung der sozialen Opposition ohne die Garantien ermöglicht, die normalerweise in normalen Gerichtsverfahren gewährt werden.

Ein dystopisches Merkmal der Sonderüberwachung ist, dass sie nicht auf Grundlage des Strafregisters, sondern auf Grundlage von Polizeiinformationen erfolgt. Das heißt, aufgrund von Verdächtigungen. Da die Tätigkeit des Verdächtigtwerdens ein subjektives Vorrecht des Verdächtigen ist, wie könnte die verdächtigte Person irgendetwas bestreiten? Die Dystopie an der Macht.

Und wenn die Dinge so laufen, dann kann ich auch gleich darauf verzichten, mich zu verteidigen. Im Gegenteil, ich möchte sagen, dass ich stolz darauf bin, in den 36 Jahren meines Lebens so viele Verdächtigungen auf mich gezogen zu haben. Ich bin ein fauler Arbeiter mit einem Magister in Philosophie, ich kenne das Elend der Lohnabhängigen und verfüge über die intellektuellen Instrumente der Sozialkritik. Wenn ich also zu einem Todfeind der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation geworden bin, so ist dies sicherlich geschehen, als ich im Vollbesitz meiner Urteilsfähigkeit war.

Da ich mich für eine intellektuell ehrliche Person halte, verlange ich nur, dass ich mit der gleichen Offenheit behandelt werde, mit der ich mich immer an meine Gesprächspartner wende, selbst an meine Feinde. Was wirklich nicht akzeptabel ist, ist die Verdrängung der ideologischen Natur des heutigen Gerichtsverfahrens.

Ich sage dies mit enormem Respekt gegenüber jedem, der sich im Widerspruch zum Regime des Privateigentums positioniert, aber ich bin kein Kleptomane: Ich bin ein Anarchist.

Lasst die Masken fallen!

Das einzige, was heute in Wirklichkeit diskutiert wird, ist, meine “politische” Militanz zu unterbinden.

Die Sonderüberwachung soll mich nicht daran hindern, in der Wohnung nebenan das Tafelsilber zu stehlen, sondern mich daran hindern, zu einer Demonstration zu gehen, an Versammlungen und Debatten teilzunehmen, Bücher vorzustellen und den Präsentationen anderer Autoren beizuwohnen, meine Freiheit zu behindern, nachts an einem Streikposten teilzunehmen oder ein Transparent von einer Brücke zu hängen, um gegen das x-te Massaker in den Gefängnissen zu protestieren (die Liste der Polizei ist nämlich voll von nicht genehmigten Versammlungen und Demonstrationen sowie Aufforderungen zu Verbrechen und Vergehen).

Ich sagte, dass wir uns nicht im Faschismus befinden, sondern in einer neuen Art von Autoritarismus. Und in der Tat gibt es einen weiteren, sehr wichtigen Unterschied zwischen unserem Strafgesetzbuch und dem des Faschismus. Minister Rocco, der Autor des bis heute gültigen Strafgesetzbuches, schien in einem Punkt unnachgiebig zu sein: der Ablehnung jeglicher Form von Belohnung für Reue. Aus seiner Sicht war Verrat eine Handlung, die mit den Werten des Faschismus unvereinbar war. In diesem Punkt scheint die heutige Demokratie sogar noch unmoralischer zu sein: Sie hat ein Strafmaß entwickelt, das wie eine Fabrik für Reue, Ausverkauf und Verrat strukturiert ist. Das geht so weit, dass heute Mafiosi, die Kinder in Säure aufgelöst haben, frei sind (weil sie jemand anderen in den Knast gebracht haben) und der Anarchist Alfredo Cospito in 41bis sitzt. Das ähnelt in diesem Punkt eher dem System der Inquisition, deren Hauptzweck nicht so sehr darin bestand, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, sondern sie zur Reue zu bewegen und ihre Seelen vor der Hölle zu retten. Es mag stimmen, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, meine sind es jedoch in einem solchen Ausmaß, dass ich nicht die Absicht habe, mich zu bessern.

Wenn ich unter Sonderüberwachung gestellt werde, werde ich mich nicht darüber beschweren, denn ich werde in guter Gesellschaft sein, mit einer großen Anzahl von Gefährtinnen und Gefährten, für die ich tiefe Achtung empfinde – und vielen anderen, zu vielen anderen, ergeht es viel schlechter. Mein Leben wurde nie von meinem persönlichen Interesse bestimmt, sonst hätte ich ganz andere Entscheidungen getroffen, sondern von einem starken Gefühl der Gerechtigkeit. Ich habe das Glück, nachts friedlich schlafen zu können. Wie man so schön sagt: Ich schlafe den Schlaf der Gerechten. Und wenn mein Schlaf in den nächsten Jahren von eifrigen Polizeibeamten gestört wird, die nachts nachsehen, ob ich zu Hause bin, dann ist das eben so. Sobald ich kann, werde ich wieder anfangen zu träumen, und zwar von dem Punkt aus, an dem mein Traum unterbrochen wurde.

Was sich nie ändern wird, ist das, was ich bin. Übernehmen Sie die Verantwortung, mich dafür zu verurteilen. Ich bin ein Proletarier, ich bin ein Anarchist, ich bin ein Aufständischer und ich werde niemals einen Schritt zurückweichen.

Freiheit!

Michele Fabiani

30. Juni 2023

Anmerkungen:

1. E. Malatesta, Opere Complete, Band 7, S. 336.

2. Ebd., S. 326 und S. 331.

3. P. Spirano, Storia del Partito comunista italiano, Band 2, S. 321.

Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks.