Unsere Nächte

Kinder des Olymps

Wo sollen wir anfangen? Bei den Aberdutzenden von Bullenwachen, die wir gestürmt, verwüstet und in Brand gesetzt haben? Bei den tausenden von Geschäften, die wir spontan oder generalstabsmäßig gestürmt und leergeräumt haben. Bei den zahllosen Hinterhalten, die wir für die Bullen gelegt haben? Sollen wir davon berichten, wie die im Viertel allseits bekannten und berüchtigten Bullen der BAC endlich auf die Fresse bekommen haben? Sollen wir Euch davon erzählen, wie sie die Sondereinheiten in die Banlieue von Nanterre geschickt haben, und die sich aber auch im Geschosshagel unserer selbstgebauten Mörser zurückziehen mussten? Sollen wir Euch eine Liste der in Waffengeschäften und Bullenwachen erbeuteten Waffen zukommen lassen, damit Ihr uns endlich glaubt, dass wir uns nicht weiter von den Bullen abschlachten lassen? Nicht die Antiterroreinheiten haben Eurer Regierung den Arsch gerettet, sondern unserer Langmut und unsere Weigerung weitere Brüder begraben zu müssen. 

Wir waren schon divers, da kanntet Ihr das Wort noch gar nicht. Uns war es immer schon egal, wo jemand herkam oder wen jemand liebte. Unsere Eltern, unsere Großeltern kamen aus den letzten Winkeln der Welt, weil Ihr uns nie eine Heimat gegönnt habt, um Eure Wohnungen zu putzen, Euren Alten die Ärsche abzuwischen, Euch das Essen nach Hause zu schleppen, wo Ihr Euch vor dem Virus verkrochen habt. Wir glauben alle an den einen Gott oder auch an keinen, weil wir alle verflucht sind. Wir verlangen nur Respekt und Aufrichtigkeit, wir verteidigen bis zum Letzten unsere Ehre, weil es das Letzte ist, was uns geblieben ist, weil Ihr uns schon alles andere geraubt habt. 

Ihr malt Euch Eure Bilder von uns, Karikaturen des wohlgemeinten Hochmuts, in dessen Glanz Ihr Euch so gerne sonnt, weil Ihr im ewigen Schatten lebt, weil Ihr selbst das Sonnenlicht und die Strände kolonialisiert und verkauft habt. Ihr versucht selbst unsere Taten und Worte zur Ware zu machen. Ihr füttert Eure Soziologen, Eure Doktorarbeiten, Eure Medien, Eure langweiligen theoretischen Pamphlete mit unseren Revolten und Aufständen. Ihr biedert Euch an und wollt dafür geliebt werden, dass Ihr am Ende nur den Bullen in die Hände spielt, weil Ihr immer am Ende auf der Seite der Herrschaft steht, auch wenn Ihr tausend Mal etwas anderes behauptet. Ihr habt immer schon jeden geglückten Umsturz an Euch gerissen, uns verraten und verkauft für Euren Anteil am Kuchen. Und wenn die Erde absäuft werdet Ihr Euch auf die letzten Inseln flüchten und uns wie einst Noah pärchenweise verschleppen, um Euer Götzenbild des Regenbogens weiter anbeten zu können. 

Wir haben schon immer für Euch die Kastanien aus dem Feuer geholt, in so fernen wie so scheinbar nahen Zeiten. Wir sind so jung und so wütend, doch unsere Herzen sind so alt und grau voll Gram und Schmerz. Wir sind alle schon so oft gestorben, dass Gevatter Tod uns schon wie ferne Verwandte grüßt. Unsere Seelen bereisen seit Jahrzehnten diesen Kontinent wie auch die fernen jenseits der großen Meere. Wir glaubten an die, die uns aus den Heimen halfen und uns Zuflucht gewährten. Jene, die Ihr im Stich gelassen und verraten habt als sie von Tausenden von Bullen kreuz und quer durch dieses schreckliche Land gejagt wurden, das den großen Krieg entfesselt hat und von dem Ihr gelobt hattet, dass es niemals wieder sein Haupt erheben solle. Jene, die in Einsamkeit geworfen und gefoltert und am Ende umgebracht wurden, mit Kugeln im Rücken oder unter den fragwürdigsten Umständen gehängt aufgefunden, ohne dass Ihr alles niedergebrannt hättet, um sie zu ehren und zu rächen. Weil Ihr nicht Brüder und Schwestern meint, wenn Ihr Brüder und Schwestern sagt. Weil Eure Worte nichts wert sind, weil Eure Schwüre nicht der Zeit Stand halten. 

Wir sind zu Abertausenden in die Metropolen jenes merkwürdigen Stiefels im Süden Eures alten Kontinents geströmt, als es hieß dass die Klasse den Himmel stürmt, wir haben daran, wir haben Euch geglaubt, weil Ihr so schöne Worte für unsere Träume und Sehnsüchte gefunden hattet, und am Ende war unsere ganze Generation verloren, Tausende verloren ihre Leben am Hell dust, weil sie verzweifelt versuchten, ihre verlorenen Seelen zu trösten, weil unsere Träume doch nicht Eure Träume waren. Wir haben die Straßen und Alleen geflutet in jenem Land jenseits des großen Meeres, in dem einst ein alter Mann mit der Maschinenpistole in der Hand Wort gehalten und uns nicht verraten hat, weshalb wir ihn für immer lieben werden. Wir haben die Nächte erhellt mit unseren Barrikaden, noch halbe Kinder haben wir uns den Panzerwagen der Carabineros entgegen gestellt und ihr habt Eure Stimmzettel verteilt, als wenn wir einander gleichen würden, dabei gibt es nichts, absolut nichts, was wir teilen, weder Schicksal noch Fügung. Unsere Brüder und Schwestern in den Favelas, an den rostroten Hängen Calis, in so vielen Orten des Subkontinents taten es uns gleich, die primera línea schrieb sich ein in jene Überlieferungen, deren Hieroglyphen Eure Forscher noch in tausend Jahren nicht wirklich entschlüsseln können, weil sie nicht mit Eurem Blut geschrieben wurden. 

Nun also stehen wir hier. Am Rande des Abgrundes, den Ihr erschaffen habt, und vor dem Ihr erschaudert, denn wie einer der wenigen Klugen von Euch einst schrieb: “Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein”. Ihr habt soviel darum gegeben, dass der Abgrund geschaffen, erschaffen wurde, all Eure Anstrengungen scheinen am Ende nur darauf ausgerichtet, diesen Moment in der Geschichte zu erschaffen, in dem Euer eigenes Werk Euch verschlingt. Wie in all den alten Geschichten, die Ihr Euch immer wieder erzählt habt, um Euch zu gruseln, weil Ihr schon immer diese Leere, die merkwürdigerweise gleichzeitig wie abertausende von Tonnen auf Euch lastet, zu füllen versucht habt. Doch nun ist aus dem lustvollen Gruseln ein Schrecken geworden, der Euch nicht mehr loslässt, der Euch bis in Eure nächtlichen Träume verfolgt, und der Zauberlehrling schreit nach dem Meister. Und es scheint, als seid Ihr auf alle Zeit verloren, denn die Maschine, die Ihr erschaffen habt, um Euch und Euren Wert zu vervollkommnen, wird irgendwann Euren Wert berechnen und ihn, und damit Euch, für nichtig befinden. 

Wie gesagt, hier also stehen wir. Aber dieses wir ist nicht Euer wir sondern unser Wir. Und wir werden niemals wieder ein wir mit Euch teilen. Vielleicht werden wir aber, und das ist wirklich eine gelungene Pointe der Geschichte, Eurer Geschichte, unserer Geschichte, der zwangsläufig geteilten Geschichte, Eure Rettung sein. Vielleicht werden wir, wenn wir nicht mehr Euren Sirenengesängen, Euren falschen Versprechungen lauschen und folgen, wenn wir nur noch auf uns selber hören und vertrauen, wenn wir uns ohne Euch organisieren und formieren, endlich wirklich den Himmel stürmen und Eure Götzen stürzen. Und auf dem Weg dahin die tiefe Wahrheit der Swing Riots wiederentdecken und die Maschine, die Euch und uns nach dem Leben trachtet, für immer zerstören. 

Wie gesagt, hier also stehen wir. Die gesamte Geschichte (die sowieso zum Himmel stinkt) entscheidet sich also in der unmittelbaren Zukunft. Euch bleibt nur zu hoffen, dass Euer Verrat fruchtlos war und ist und wir trotzdem klug und mutig genug sind, um die ganze Sache zu unseren Gunsten zu entscheiden. Das wird keine schöne Geschichte. Dessen sind wir uns im Gegensatz zu Euch bewusst. Wie wir auch wissen, dass wir keine andere Wahl haben. So wie wir nie wirklich eine andere Wahl hatten. Im Gegensatz zu euch. Die Ihr immer Euren Plan B hattet. Doch nun wird es Zeit, sich zu wappnen für den nächsten Zusammenstoß, der unvermeidlich kommen wird. Und der hoffentlich so heftig wird, dass es nicht nur für eine weitere Netflix Blaupause reichen wird. 

The man who passes the sentence should swing the sword.