Mein Urlaub in Saint-Imier bei den wohlwollenden Aggressoren

Tomjo und Mitou

“Die Idealisten aller Schulen, Aristokraten und Bürger, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Religiöse, Philosophen oder Dichter, nicht zu vergessen die liberalen Ökonomen, die bekanntlich hemmungslose Verehrer des Ideals sind, nehmen großen Anstoß, wenn man ihnen sagt, dass der Mensch mit seiner großartigen Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und seinen unbegrenzten Bestrebungen, wie alles andere in der Welt, nur ein Produkt der niederen Materie ist.”

Gott und der Staat, Michael Bakunin, Genf, 1882

Das in Lausanne ansässige “Journal romand d’écologie politique” (Westschweizer Zeitung für politische Ökologie) Moins! wirbt mit der Schlagzeile “pour une écologie libertaire” (für eine libertäre Ökologie). Die Sommerausgabe (Nr. 65, Juli/August 2023) kündigt auf dem Titelblatt “Rencontres Internationales Antiautoritaires” an, mit denen der 151. Jahrestag des Gründungskongresses der Antiautoritären Internationale (1872) in Saint-Imier im Schweizer Jura gefeiert werden soll. Unsere Freunde in Outre-Léman veröffentlichen zu diesem Anlass ein zwölfseitiges Dossier, in dem sich verschiedene Autoren – manche mehr Anarchisten oder mehr Umweltschützer als andere – zu diesem Thema äußern. Sie sind nicht immer einer Meinung, aber auf dem Papier bleiben sie höflich. Sie sprechen nicht über das, was sie ärgert. 

Natürlich konnten sie nicht im Voraus darüber sprechen, was während des fünftägigen “antiautoritären Treffens” (19. bis 23. Juli) in Saint-Imier wirklich passiert ist. Von diesen Rudeln queerer Angreifer, die den Stand der Anarchistischen Föderation überfielen, um unter dem neutralen und wohlwollenden Blick der Organisatoren Mitstreiter der F.A. zu bestehlen, Poster zu zerreißen, Bücher zu verbrennen, zu beleidigen und zu verprügeln. Wenn nicht mit ihrer gewundenen und bürokratischen – aber immer höflichen – Komplizenschaft. Für einen ausführlichen Bericht lesen Sie bitte weiter. Zufällig waren wir dabei. Ansonsten sollten Sie die nächste Ausgabe von Moins! nicht verpassen, die zweifellos ausführlich auf diesen Moment der realen und konkreten “libertären Ökologie” [1] zurückkommen wird.

Zunächst muss den Leserinnen und Lesern erklärt werden, was 5000 Anarchisten aus Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Italien, Spanien, Chile, Mexiko, Kolumbien, den USA, der Türkei, Weißrussland, dem Iran, Polen, der Ukraine, Russland usw. zwischen dem 19. und dem 23. Juli 2023 in Saint-Imier tun.

Sie treffen sich, wie 151 Jahre zuvor – am 15. und 16. September 1872 – in einer Art “antiautoritärer Internationale” (anarchistisch zu verstehen), um sich auszutauschen und zu debattieren. Nach der Pariser Kommune manövrierten Marx und Engels gegen die anarchistische Tendenz von Bakunin, die eine Mehrheit von 60 Prozent hatte, um die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) in ihre Hände zu bekommen. Die Bakuninisten widersetzten sich ihrerseits den “bürokratischen” und “autoritären” Machenschaften der Marxisten und ihrer mechanischen Geschichtsauffassung: Übernahme der Staatsmacht, Diktatur des Proletariats, Kollektivierung, Absterben des Staates. Die Anarchisten wurden 1871 auf dem Haager Kongress rausgeworfen und die IAA spaltete sich. Die von Bakunin, Guillaume, Reclus, Cafiero und Malatesta angeführten Anarchisten treffen sich in Saint-Imier, um ihre antiautoritäre Internationale zu gründen. Sie organisierte sich ohne ein föderales Büro, um Manöver ebenso wie sterilisierende ideologische Konflikte zu vermeiden. Lesen Sie dazu das Buch von René Berthier bei Éditions libertaires (2015), La fin de la première internationale. Berthiers Buch, über das wir weiter unten sprechen werden.

Die Atmosphäre von Saint-Imier 2023 ist ganz anders. Es handelt sich nicht mehr um einen Kongress mit internationalen Delegationen, die mit verbindlichen Mandaten ausgestattet sind und Resolutionen unterzeichnen, sondern um ein Selbstbedienungsfestival, auf dem jeder nach Lust und Laune als politischer Tourist herumspaziert. Es wird beispielsweise keine Abschlusserklärung zum Krieg in der Ukraine, zur internationalen Aufrüstung, zum weltweiten Krieg gegen die Natur oder – vor allem – zur Revolte der iranischen Frauen gegen das Kopftuch und die islamistische Diktatur geben.

Saint-Imier ist heute ein 5000 Einwohner zählendes Städtchen im Schweizer Jura, im französischsprachigen Kanton Bern. Zu den 5.000 Imériens kommen also noch 5.000 Festivalbesucher hinzu, die fünf Tage lang auf einer abschüssigen Weide hausen und von Workshops (“Ateliers”, glaube ich, d. h. eigentlich Vorträge und/oder Diskussionen) zu Konzerten, Filmen und Ausstellungen an verschiedenen Orten der Stadt wandern: im Kultur- und Freizeitzentrum, im Kino, auf dem Dorfplatz, in der Eishalle, im Veranstaltungssaal und so weiter.

Am Ende des Tals fließt die Suze, die dem Enzianlikör, der im Nachbardorf Sonvillier erfunden wurde, seinen Namen gibt. Mit ihr wurden Unmengen des üblen Cocktails, den man “Suze-Boule” nennt, Suze und Red Bull, heruntergespült.

In der Mitte dieser alten Uhrmachergemeinde befindet sich L’Espace noir, ein anarchistisches, sympathisches und gut geführtes Café, Konzert und Kino, wie meine Großmutter sagen würde, das seit 1987 geöffnet ist. Es dient als Empfangsraum für die Begegnungen. Hier geben die Organisatoren den Ankommenden Auskunft und vermitteln Freiwillige für verschiedene Aufgaben, wie zum Beispiel das Kochen. Und von hier aus wurden die Internationalen Treffen organisiert. Denn es gibt eine Organisation und Organisatoren. Anarchie ist nicht anarchisch.

Das Espace Noir ist der Ort der Libertären Bergföderation, der Ortsgruppe der Internationalen Anarchistischen Föderation. Sie war es, die die Initiative für die Treffen ergriff. Eine Koordinationsgruppe traf sich dann drei Jahre lang jeden Monat zu einem Treffen, um sie zu organisieren. Die Gruppe “Coordo” umfasst etwa dreißig Personen, hauptsächlich aus der Schweiz, aber auch aus Frankreich und Deutschland. Im Grunde lässt sie das “föderale Büro ” der Ersten Internationalen wieder auferstehen, mit einigen Änderungen in Namen und Haltung. Aber es ist klar, dass “koordinieren” auf “leiten” mit einem anderen Namen hinausläuft und dass es besser ist, Teil dieser “Koordinationsgruppe” (die kein “föderales Büro” ist) zu sein, wenn Sie sich dafür entscheiden, den Ablauf und den Inhalt der Veranstaltung beeinflussen wollen.

Das heißt, es gibt nicht nur Macht, sondern auch Arbeit. Koordination der Untergruppen, die sich mit den Finanzen, der Logistik (Zelte, Verpflegung), der Küche, dem Programm, der Internetseite, der Buchmesse, dem Campingplatz, den Toiletten und Abfalleimern, den Ausstellungen usw. befassen. Nicht zu vergessen die diplomatischen Beziehungen mit der Stadtverwaltung und dem Kanton in Bezug auf Verkehr, Parkplätze und Abfall. Kurzum, es ist die Gruppe mit drei Stunden Schlaf pro Nacht während des Treffens, ständig gefordert, um überraschende Zwischenfälle zu bewältigen, wie die Camper, die die Bahngleise überqueren, und die Eisenbahndirektion, die ihren Dienst einstellt und mit Bußgeldern droht.

Die Veranstaltung erforderte ein Budget von 250.000 Euro und Hunderte von Freiwilligen. Die Anarchistische Föderation hat viel zur Vorbereitung beigetragen, sowohl finanziell (mindestens 10 000 Euro) als auch personell, vor allem an undankbaren Stellen wie der Buchhaltung oder den Mülltonnen. Sie finanzierte auch die Anreise von Gesprächspartnern aus Taiwan oder den Philippinen, deren Anreise und Wunsch, an diesem Treffen in der Schweiz teilzunehmen, ihre eigenen Mittel überstiegen.

Die FA stellt zwar Geld und Arbeitskräfte zur Verfügung, ist aber nicht der offizielle Organisator. Die Programmgestaltung ist “fließend”, oder “horizontal”, oder “selbstregulierend” (wie es in der Kybernetik heißt). Zumindest von außen betrachtet. Jeder kann einen Workshop zu einem Thema seiner Wahl und auf einer digitalen Plattform vorschlagen; eine Gruppe von Organisatoren weist ihm dann einen Zeitrahmen und einen Ort zu, und das war’s. Eine Schaltfläche “Problem melden”, wie in jedem sozialen Netzwerk, alarmiert dennoch die anonyme, unsichtbare und fließende Organisation, die dann entscheidet, ob sie den Vorschlag annimmt oder nicht. So kam es beispielsweise dazu, dass der Verdacht auf “verschwörungstheoretische” Verbindungen jede Diskussion über den autoritären Umgang mit einem autoritären Virus – Einschließung, Ausgangserlaubnis, QR-Codes, Bußgelder, Impfpass, Zwangsimpfungen, Entlassungen von Mitarbeitern etc. – bei diesen antiautoritären Treffen verhinderte.

Der Schauplatz der Verwicklungen befindet sich in der Eishalle, auf der “Bookfair”, der Buchmesse. Dort stehen von 9 bis 19 Uhr etwa 60 Pressetische: die der anarchistischen oder gleichwertigen Föderationen aus Frankreich, Italien, Spanien, der Schweiz und Kroatien; die der spanischen und französischen CNT-Gewerkschaften; die von Buchhandlungen, Verlagen und mobilen Infokiosken. So viele Anarchos in einem geschlossenen Raum, da sind Reibungen unvermeidlich. Nun, “Anarchisten” ist schnell gesagt. Bereits im Vorfeld des Festivals äußerten sich die Inklusionisten in ihrer transinklusiven Neusprache und im Internet besorgt über die geringe Aufmerksamkeit, die der “Zugänglichkeit für fragile Menschen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und/oder immungeschwächte Menschen”, ganz zu schweigen von ‘neurodivergenten Menschen’”, gewidmet wurde. Insbesondere im Hinblick auf Covid (!), das seit Monaten ruht, aber man kann ja nie wissen.

Und was ist mit den vielfältigen Ansteckungen, die jede Zusammenkunft von Lebewesen immer mit sich bringen kann. Unsere Inklusionisten haben daran gedacht. Ist das Leben gefährlich? Dann eliminieren wir das Leben. Ihnen zufolge wäre der “ausschließlich in ‘Präsenz’ stattfindende Rahmen” “per definitionem validistisch” [2]. Selbst Google Translate ist daran gescheitert, dies in irgendeiner menschlichen Sprache wiederzugeben – aber es muss sich doch für eine M2M-Kommunikation kodieren lassen. Man sieht von Anfang an, dass diese sogenannten “Anars 4.0” in Wirklichkeit Avatare der “virtuellen Realität” sind, die nichts mit dem zu tun haben, was die Anarchie einmal war, sagen wir von … 1840 (Proudhon) bis zu La mémoire des vaincus (Michel Ragon, 1989). Ergo Agenten der technologistischen Partei [3].

Die unglückliche Anarchistische Föderation (paye, bosse et ferme ta gueule) wurde bereits vor Beginn des Treffens mehrfach im Koordinierungsausschuss wegen ihrer Opposition zur antispeziesistischen Ideologie angegriffen. Bereits beim Treffen 2012 drehte sich der Streit um die Ernährung der einen und der anderen Seite, und es kam bereits zu körperlichen Angriffen von “Antispeziesisten”. In diesem Jahr hätte man Konflikte um die “Trans”-Frage erwarten können, die in den letzten Monaten so sehr in den Medien präsent war. Diesmal war es im Namen der Religion, dass die Queers die Mitglieder der F.A. körperlich und auf andere Weise angriffen.

Ja, schließlich haben wir nach den neuesten Erkenntnissen ihrer Theologen tatsächlich einen Gott und einen Meister. Auch wenn wir nicht über die Armen im Geiste lachen sollten, die uns zu den Debatten der Jahre 1830-1850 zurückbringen; als die junge Arbeiterbewegung und ihre Denker sich aus der religiösen Entfremdung rissen, um sich ihre eigene menschliche und soziale Macht wieder anzueignen. Aber sind Queers Anarchisten? Auch junge Anarchisten? Sind sie heutige Anarchisten? Oder eher Anti-Anarchisten und die letzten Ausgeburten der Konsumgesellschaft, deren kleinste Wünsche das Gesetz für alle sein sollen?

Da die Suze unseren Beobachtungsgeist anregt, haben wir die anwesenden Stämme anhand ihrer Outfits untersucht. Es überrascht nicht, dass die drei wichtigsten die bärtigen Anarchos, die Punks mit Hunden (oder mit Hunden.x.nes, um sie nicht durch falsche Angaben zu verärgern [4]) und die Queers mit Trainingsanzügen sind, die bei weitem am zahlreichsten sind und sich in Form von Queer-Camping, Queer-Lunch und Queer-Party organisieren. Diese wiederum unterteilen sich in rassifizierte und biologische Unterscheidungen (“rassisierte” Queers, Trans, neuro-atypische Queers, Fat & Queer usw.) – unsere Studie hat weder “bürgerliche Queers” noch “proletarische Queers” gefunden, um den veralteten Unterscheidungen der Boomers zu folgen.

Queer, so werden die AngreiferInnen später genannt, und so nennen sie sich auch selbst (da sind wir uns zumindest einig); obwohl manche sie die Postmodernen, die Intersektionalen, die Wokes, die Wohlwollenden, die Dekonstruierten nennen – oder sogar die Iels oder La Cinquième Colonne France Inter, aber das ist ein bisschen zu lang. Sie zusammenzufassen ist trotz ihres Amphigourismus recht einfach. Es handelt sich um Aktivistengruppen, die den den modernen Künstlern, Philosophen und Forschern der “Sozialwissenschaften” nachfolgen, die seit vierzig Jahren darauf herumreiten, dass :

1. Die historischen “Meta-Erzählungen” (Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Fortschritt) sind ihrer Meinung nach des heteronormativen weißen kolonialen Universalismus schuldig. Stattdessen sollen die individuellen und gemeinschaftlichen, subjektiven und spezifischen Mikro-Erzählungen von Schwarzen, Frauen, Schwulen, Transgendern, Tieren usw. in den Vordergrund rücken. An die Stelle der großen materiellen Errungenschaften und der Revolution treten Mikrowiderstände “für Rechte”, insbesondere für die Anerkennung.

2. Da der Betrachter das Werk macht (in der zeitgenössischen Kunst), die Geschichte und die Sprache durch die Mühle der Dekonstruktion gedreht werden (in der Philosophie) und alles Wissen situiert ist (in den Sozialwissenschaften), ist nichts mehr dauerhaft, abgegrenzt oder endlich, sondern alles ist dank der Macht des Geistes und der Technologie fließend und kontinuierlich (Arten, Gattungen, Formen, Räume, Fakten).

Man kann gar nicht genug betonen, wie verheerend der dialektische Pseudo-Materialismus, gewürzt mit Nietzscheanismus nach Art der French Theory, ist, aus dem diese Unzulänglichkeiten hervorgehen. Oder wie der Kampf gegen den “Essentialismus” als Deckmantel für die Zerstörung der Sprache und des Denkens dienen kann. Aber wie erklärt man Menschen mit mentaler Behinderung, dass Wahn und Wahnsinn existieren – unabhängig von jeglicher subjektiver Böswilligkeit – und dass jede Idee, die bis zum Äußersten getrieben wird, egal wie richtig sie ist, verrückt wird.

Care-Ethik, rechte Politik

Inmitten der “kulturellen” Stämme und der Arbeitsgruppen patrouillieren neonpinkfarbene Westen, auf denen das Wort “Care” steht. Es sind die Westen des “Care-Teams”, was man eher mit “Team Wohlwollen” als mit “Care-Team” übersetzen sollte. Eine Gruppe von 10-12 eher jungen Leuten, die sich selbst die Macht gegeben haben, eine Charta der guten Gefühle durchzusetzen, die sie selbst geschrieben haben und in deren Namen sie die FA auffordern werden, den Ort zu verlassen. Es ist nicht bekannt, wer diese Mitglieder des “Team Care” sind, wie sie ernannt wurden und wie sie sich solche Vorrechte, die in einem milden Licht dargestellt werden, aneignen konnten.

Das Hauptquartier von Team Care heißt zunächst “Safe Space”, der bald in “Safer Space” umbenannt wurde – man kann nie zu bescheiden sein. Ein Raum, in dem man sich in Sicherheit bringen, reden und einen Kaffee trinken kann. Das Team Care ist weder ein Ordnungsdienst (zu maskiert!) noch eine “Kommission Gelassenheit”. Es plappert wie eine synthetische Stimme den queer/postmodernen Diskurs des “Wohlwollens” gegenüber vordefinierten Kategorien von “Beherrschten” nach. Auf ihren Plakaten in der ganzen Stadt war Folgendes zu lesen:

“Die Mission des Care-Teams ist es, zu versuchen, Bedingungen zu schaffen, die es den Teilnehmerinnen ermöglichen, sich wohl zu fühlen, damit die Veranstaltung für alle in einer angenehmen Atmosphäre stattfindet.

Ihre Hauptaufgaben sind die Prävention, das Aufspüren und der Umgang mit unangenehmen Situationen, Konflikten, Belästigungen oder Diskriminierungen, seien sie sexistischer, transphober, rassistischer, exotisierender, validistischer, fettfeindlicher, klassifikatorischer Natur oder jede andere Handlung, die systemische Diskriminierungen reproduziert. Das Care-Team ist kein Polizist, kein Richter, kein Erziehericex oder Psychologe.

Aber Verhaltensweisen, die den Werten der Organisation zuwiderlaufen, werden mit dem Ziel aufgegriffen, sie zu beenden, indem Diskussion und Reflexion gefördert und Ausgrenzung (die dennoch möglich ist) so weit wie möglich vermieden wird.

Care ist eine politische und kollektive Angelegenheit und wir zählen auf Sie, dass Sie sich fröhlich daran beteiligen!”

Es fängt nicht gut an. Trotz ihres Karnevals der Dementis, der sie eher denunziert als rechtfertigt, ähnelt das Team Care einem Team von Wachleuten. Ein bisschen Polizei, ein bisschen Richter. Das Care-Team “erkennt” und “warnt” bis hin zu banalen “unangenehmen Situationen”, gemäß “Werten” und “systemischen Diskriminierungen”, die nur es selbst bestätigt hat. – Allein, nein. Sie ist die legale und moralistische (aber usurpierte und klandestine) Macht der Queer-Fraktion auf diesem Treffen, bei dem sich letztlich nur wenige Anarchisten versammeln – selbst wenn man die Hundepunks mitzählt, was sehr gewagt ist. Viele der Teilnehmer bekennen sich eher zu einem anarchistischen Lebensstil als zu anarchistischen Aktionen, deren Geschichte und Autoren sie in der Regel nicht kennen.

Ein Zeichen für die ideologische Formatierung und Agenda war, dass das Team Care am letzten Abend, als ein Sturm über das Tal fegte und in der nahegelegenen Stadt ein Mensch ums Leben kam, nicht bei den Campern war. Oder die Mitglieder hatten ihre Ombrophobie nicht ausreichend dekonstruiert (ja, ja, das gibt es. Phobie vor Blitzen, Donner usw.).

Die Stimmung in Saint-Imier ist eher von Verbotslisten und der Überwachung von Worten und Verhaltensweisen geprägt, als von der Förderung des freien Ausdrucks von Ideen und Wünschen. Ein Schild des Küchenteams fordert die Gäste an den Tischen auf: “Please, wear a shirt. Solange das Patriarchat nicht abgeschafft ist, gibt es ein Ungleichgewicht zwischen dem, wer oberkörperfrei sein darf und wer nicht. Please respect the kitchen!”.

Was wäre die richtige Korrektur dieses Ungleichgewichts, die libertäre und subversive Korrektur? Diejenige, die seit Jahrzehnten in FKK-Anlagen praktiziert wird, oder zumindest diejenige, die in den linken Versammlungen der 1970er Jahre praktiziert wurde. Männer oder Frauen, wer will, badet nackt und läuft in Unterhosen herum. Ein Hemd ist besser, damit man nicht in den Schüsseln und Tellern schwitzt. Doch die Prüderie der Queers hat eine verborgene Funktion: Sie fördert die Rückkehr und den Fortschritt jener patriarchalischen Vorstellungen, die sie angeblich hochgradig anprangern.

Queers sind keine Pfarrer, weil der katholische Apparat nicht mehr genug Macht hat, um sie anzulocken. Aber ihre Fatwa-Manie zeigt genug von ihrer Gefügigkeit gegenüber der islamistischen Despotie, wie wir weiter unten sehen werden. Ihr Traum ist die Leitung des Ministeriums für die Förderung der Tugend und die Unterdrückung des Lasters, wie in Rakka, Afghanistan und dem Iran, mit einer mit Stöcken bewaffneten Sittenpolizei und Patrouillen von Polizistinnen, die Hallal-Kleidung durchsetzen sollen.

Ein weiteres Beispiel. Eines Nachts taucht an den Wänden ein Slogan auf, der lautet: “White hippies, cut your dreads off” (Weiße Hippies, schneidet eure Dreads ab). Es folgt eine ernste, aufgeblasene Versammlung, um die Frage zu entscheiden – eine Frage, die jeden normal denkenden Menschen so wenig interessiert wie das letzte Haarfärbemittel des letzten Influencers. Ein weißer, englischsprachiger Bürgerwehrler fordert ohne mit der Wimper zu zucken: “We urge white people to cut their dreads off” (Wir fordern weiße Menschen auf, ihre Dreads abzuschneiden). Nach Diskussionen und Beratungen entscheidet das Team Care – und mit welchem Recht entscheidet es? – dass es rassistisch ist, Zöpfe zu tragen, wenn man weiß ist. Es sei “kulturelle Aneignung” – obwohl Gallier, Ägypter, Franken, Wikinger und Indianer “lange Haare in Form eines Seils” trugen und sogar der Bruder von Jesus selbst, Jakobus der Gerechte, knöchellanges Haar hatte.

Johnny Clegg, der weiße Zulu, der als Teenager gegen die Apartheid mit den schwarzen Angestellten auf dem Dach seines Wohnhauses singen und tanzen gelernt hatte? – Ein Rassist.

Diese Art der “Wiederaneignung” könnte zu merkwürdigen Konsequenzen führen. Das Wort “braies”, das Hosen bezeichnet, ist eines der wenigen gallischen Wörter, die die Jahrhunderte überdauert haben. Stellen wir uns vor, die Gallo-Nachfahren würden für sich selbst das ausschließliche Tragen dieser Braies/Hosen verlangen, die typisch für eine 2000 Jahre alte Kultur sind; und sie würden von allen nicht-gallischen Trägern das Abschneiden dieser missbräuchlich getragenen Hosenbeine verlangen.

Wie auch immer. In der Debatte über weiße Hippies taucht der kühne Vorschlag auf, dass “Menschen, die Opfer von Unterdrückung sind und Awareness [politische Aufklärung, wie es in den puritanischen schwarzen Kirchen der USA heißt] betreiben, für ihre Arbeit der Bewusstseinsbildung bezahlt werden sollten”. Daraufhin beschwert sich eine “Transfrau”, dass sie mikroaggressiv behandelt wurde, weil sie an ihre biologische Identität als Mann erinnert wurde. In solchen Momenten greift das Care-Team ein, bewaffnet mit seiner “5D-Methode” zur Lösung von “Problemsituationen”: Ablenken, Delegieren, Dokumentieren, Führen, Dialogisieren.

Ihr Hinweis Button “Ich bin aktiver Zeuge” demonstriert überall die Verfahren für “Wohlwollen auf Partys” und “Einverständnis”. Zum Beispiel: “Informiert: Ich informiere meinen Partner über die Risiken (STI, Schwangerschaft…), die mit sexueller Aktivität verbunden sind.” Oder: “Eine bestimmte sexuelle Aktivität zu wollen, bedeutet nicht, allen sexuellen Aktivitäten zuzustimmen (mein Partner kann mich küssen wollen, ohne etwas anderes zu wollen)! Ich frage vor jeder sexuellen Aktivität, die ich unternehme, ob meine Partnerin oder mein Partner Lust darauf hat.”

Wenn man danach noch in Saint-Imier kopuliert, dann aus Versehen, mit starken Angst- und Schuldgefühlen. Oder aber mit dem Klang des Kuckucks und einem dicken Bündel von Anerkennungsformularen.

Kaczynski, der berühmte industriekritische Bombenleger, und einige andere nach ihm haben diese Tendenz der progressiven Linken zur “Übersozialisierung” hervorgehoben. Dieser unendliche und als positiv betrachtete Fortschritt in Richtung einer immer stärkeren Übernahme und Regulierung der intimsten Aspekte unseres Lebens durch die Gesellschaft und den Staat [6].

Ich war nicht bei der Versammlung zum Thema weißer Hippismus, aber eine libertäre feministische Freundin hat mir davon erzählt. Als sie die Versammlung verließ, begegnete sie einem weißen Pimpf, der wahrscheinlich per Podcast Express radikalisiert worden war: “Nee, aber das ist hier das Festival der Unterdrückung, es gibt nur Weiße! Anscheinend gibt es sogar Betroffene, die Aufklärungsarbeit leisten mussten, ich fasse es nicht, das ist nicht ok, verstehst du!”

Ich sehe eher eine Messe der Gefühle als ein Festival der Unterdrückung. Jeder hat sein eigenes Gefühl, sein eigenes kleines Gefühl, das winzig und uninteressant ist, das man aber überall zur Schau stellt und in dessen Namen man nach Sichtbarkeit, Zuhören und Rechten verlangt. Wird in einem Workshop “Reclaim emotions” nicht Folgendes untersucht

“die politische Bedeutung von Emotionen und wie sie unseren Aktivismus, unsere kollektive und persönliche Resilienz unterstützen. […] Emotional alphabetisiert zu werden, ermöglicht es uns, Transformationsstrategien und kritische Praktiken der Selbstfürsorge zu entwickeln, um einem militanten Burnout vorzubeugen und regenerative Strukturen aufzubauen.”

Durch Wohlwollen und Care rutschen die Workshops in Richtung Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, wenn nicht sogar New-Age-Guruware. Ein “Gemischter Gesprächskreis NeuroAtypisch/Psychiatrisierte [befasst sich mit] unserer Beziehung zu militanten Kreisen und anarchistischen Gemeinschaften”. Eine weitere Diskussion über “Die Notwendigkeit psychoemotionaler Selbstverteidigung” will “verinnerlichter Dominanz und Unterwerfung begegnen”. Während eine Diskussion über die Verwüstungen von STMicroelectronics, einem Mega-Halbleiterunternehmen, nur mit Mühe elf Personen zusammenbringt, versammeln sich ein paar Meter weiter rund 60 Personen zu einem Workshop “Somatische Resilienz” – bitte Yogamatte mitbringen:

“‘Care’ als subversive sozio-politische Waffe einsetzen. Radikale Care-Prozesse sichtbar und praktikabel machen, um sich an Praktiken zu erinnern, die ‘die Fortführung und Erhaltung des Lebens’ ermöglichen, wie die radikale Philosophin Joy James sagt. Dieser immersive Workshop lädt die Teilnehmerinnen ein, sich selbst gegenüber in einer ganzheitlichen Erkundung von Care zu verpflichten, aber auch einander gegenüber.”

Wir haben einige gesehen, die über ihre Mikrorückmeldungen geweint haben: “Mein Freund wollte an diesem Workshop teilnehmen [erste Tränen], und ich wollte einen anderen sehen [ruckeln], aber gleichzeitig wollten wir uns nicht trennen [schniefen], also gab es Spannungen zwischen uns … und blablabla, “allgemeine Heulerei, wir nehmen uns in den Arm, wir unterstützen uns psycho-emotional, und wir nebendran … nein, erwarten Sie nicht von mir, dass ich zugebe, dass wir in Gelächter ausbrechen.

Ich überspringe den Workshop “Erwachsenenherrschaft”, der zur gleichen Zeit stattfand wie der Workshop über weißrussische Anarchisten, die in Gefängnissen gefoltert werden (jeder hat seine eigenen Sorgen), und den Workshop über “Gewalt innerhalb der Gemeinschaft und Call-Outs”, die bei mir kein übermäßiges Interesse weckten. So mikroskopisch klein sie auch sein mögen, “Aggressionen”, “Traumata” und “Gewalt” nehmen einen so großen Raum ein, dass sie schließlich ein Klima des Misstrauens schaffen. Die Ironie ist jedoch, dass diese “Care”-Schwachsinnigkeit eine rechte Ideologie ist, die theoretisiert wurde, um die soziale Frage zu entpolitisieren und zu individualisieren und Solidarität in Nächstenliebe und gute Gefühle zu verwandeln. In Ermangelung eines Workshops über die “Care”-Ideologie, von der wir nicht wissen, wie sie sich hier durchgesetzt hat, ist es notwendig, daran zu erinnern, woher sie kommt und wie sie 2010 in Frankreich zu einem politischen Programm geworden ist.

Die Behauptung, dass eine “Ethik von Care” ein politisches Programm ausfüllen könnte, ist Martine Aubry (IEP-ENA) zu verdanken, als sie das Amt der Ersten Sekretärin der Sozialistischen Partei bekleidete, die damals angesichts der von Nicolas Sarkozy vorgeschlagenen Rentenreform ideologisch völlig verunsichert war. Aubry veröffentlicht ihren Vorschlag am 2. April bei Mediapart, um “links” zu wirken:

“Die Gesellschaft des Wohlstands erfordert auch eine Veränderung der Beziehungen der Individuen untereinander. Wir müssen von einer individualistischen Gesellschaft zu einer Gesellschaft der “Care” übergehen, nach dem englischen Wort, das man mit “gegenseitige Fürsorge” übersetzen könnte: Die Gesellschaft kümmert sich um Sie, aber Sie müssen sich auch um die anderen und die Gesellschaft kümmern.”

Das ist verzwickt. Man spürt bereits, dass Aubry das Rentensystem nicht mit Zähnen und Klauen verteidigen wird. Die Bürgermeisterin von Lille plädiert für eine “Gesellschaft des Wohlbefindens und des Respekts, die sich um jeden Einzelnen kümmert und die Zukunft vorbereitet”. Süßlich. Aubry weigert sich, einer “Politik der Fürsorge” nachzugeben – da haben wir’s – und zieht es vor, “die Mittel zu geben, um sich zu bilden und weiterzukommen”.

Natürlich “wird man all dies nicht erreichen, ohne Wohlstand zu schaffen, ohne wirtschaftlich innovativ zu sein”, ohne “eine große Innovationspolitik, eine Industriepolitik rund um Exzellenzzentren.” Ist die Flucht nach vorn in der Technologie und das gegenseitige Wohlwollen nicht ein queeres Programm?

Die erste Sekretärin der Sozialisten beharrte einige Tage später in einem von Le Monde veröffentlichten Beitrag auf ihrem Standpunkt: “Vergessen wir nie, dass keine Sozialleistung die Ketten der Fürsorge, die Solidarität in Familie und Freundeskreis und die Aufmerksamkeit der Nachbarn ersetzt [7].” Weg mit dem Wohlfahrtsstaat, Care ist billiger.

Diese Tribünen sollen die Sozialistische Partei intellektuell “neu beleben”, die im Jahr 2010 bereits seit 30 Jahren ihre sozialdemokratischen Ansprüche abgeworfen hat: entweder indem sie die Arbeitnehmer durch internationale und europäische Verträge gegeneinander ausspielt – wir verdanken Jacques Delors, dem Vater von Martine Aubry, 1986 die Einheitliche Europäische Akte, die den Binnenmarkt begründete – oder indem sie Wirtschaftssektoren liberalisiert und ihre öffentlichen Unternehmen verkauft, vor allem unter der Regierung Jospin (1997-2002), der Aubry angehörte.

Aubry ist wie ihr Vater eine christliche Sozialtechnokratin. Ihre wohltätigen Neigungen ersetzen den Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung durch den Kampf gegen “Armut” und “Ausgrenzung”, die heute zu Kämpfen gegen “Dominanz”, “Diskriminierung”, “Gewalt”, “Aggressionen” und “Mikroaggressionen” geworden sind. An die Stelle des Gegensatzes Ausbeuter/Ausgebeuteter setzen sie die moralischen und inkonsequenten Gegensätze Reich/Arm, Dominant/Dominiert, Angreifer/Opfer. Der Widerspruch zwischen dem bösen, dominanten Aggressor, der bewusst gemacht, umerzogen und aufgeweckt werden muss, und dem armen Opfer, das gehört, unterstützt und ermutigt werden muss.

Kurz gesagt: die Umgestaltung der Gesellschaft nicht mehr durch den politischen Kampf gegen die Macht, sondern durch die Ausweitung des Bereichs des zwischenmenschlichen – wenn nicht sogar unpersönlichen – Wohlwollens. Ein Freund, der in der Psychiatrie arbeitet, erzählt mir seine mittlerweile klassische Geschichte von der jungen Personalleiterin, die frisch von der Wirtschaftsschule kommt und gelandet ist, um den Kostenkiller zu spielen. Ein paar Stunden hier, ein kleines Budget dort, und jede harmlose Nascherei belastet schließlich die Qualität des Service. Ist der Service erst einmal verschlechtert und das Unwohlsein weit verbreitet, werden den Beschäftigten Schulungen zum Thema “Validismus” angeboten. So verschlechtert sich also der Service nicht wegen der Lohnpolitik, sondern wegen der Fehlenden in den Kursen über Fürsorge.

Die Idee der Fürsorge als politischer Vorschlag ist Martine Aubry seit dem von ihr 2008 gegründeten Laboratoire d’Idées Socialistes (LIS) und insbesondere dank der sozialistischen Philosophin Fabienne Brugère, Ritterin der Ehrenlegion und Leiterin der Collection “Care studies” bei den Presses universitaires de France, zu Kopf gestiegen.

Aber man kann die Genealogie noch tiefer ausgraben. Die Zeitung Marianne titelte am 19. April 2010, zwei Wochen nach Aubrys Interview mit Mediapart: “Comment Martine Aubry se blairise” (Wie Martine Aubry sich blairisiert), in Anspielung auf den englischen Premierminister Tony Blair. Die Idee von Care in der Politik sei von den Labour-Schurken aus der Zeit Tony Blairs, diesen Verrätern an den Arbeitern, die weder rechts noch links, sondern progressiv (“avantistes”, geradeaus) geworden seien, ausgebrütet worden.

Am 14. Mai 2010 sah Le Monde genauer die Handschrift des “Strategen von Tony Blair” Anthony Giddens, eines “utopisch-realistischen” Soziologen, der die London School of Economics (das englische Pendant zu Sciences-Po) leitet und 1994 Au-delà de la gauche et de la droite und 1998 La Troisième voie verfasst hat. Es ist klar, worauf er hinaus will. Giddens will den “altmodischen” Wohlfahrtsstaat (Welfare state), den die Labour Party seit einem Jahrhundert vertritt, durch “Armutsbekämpfung” und “aktives Vertrauen” zwischen den Menschen ersetzen, um ihre “Autonomie” zu gewährleisten [8].

Wenn man noch tiefer in die Materie eindringt, landet man – wenig überraschend – in den USA, der Heimat von Management, Coaching und Empowerment. Die “Politik von Care” wurde von der Feministin Joan Tronto, Professorin für politische Theorie an der New York University, in ihrem 1993 erschienenen Buch Un monde vulnérable, pour une politique du care (Eine verletzliche Welt, für eine Politik der Fürsorge) theoretisiert. Die französische Übersetzung erschien erst 2009, natürlich im Verlag La Découverte.

Vier Jahre zuvor, 2005, hatten die sozialistische Philosophin Sandra Laugier und die Soziologin Patricia Paperman bereits Le souci des autres. Éthique et politique du care, aux Éditions de l’EHESS, veröffentlicht. Und vor allem die amerikanische Philosophin und Psychologin Caroll Gilligan, Professorin in Harvard, Cambridge und New York; Begründerin der “Ethik” des Care im Jahr 1982 mit dem Buch In a different voice, – Für eine Ethik der Care[ 9]. Ihr Buch war so erfolgreich, dass das Time Magazine Gilligan 1996 als eine der “25 einflussreichsten Persönlichkeiten Amerikas” einstufte. Das zeigt, dass die Idee des Care das Establishment bedroht. Oder “den Kapitalismus”. Jedenfalls tröpfelt es.

Gegenüber wem soll sich diese Ethik des Care genau manifestieren? Die Genealogie der Fürsorge führt uns wieder zurück zur Sozialistischen Partei, genauer gesagt zu dem berühmten Bericht des para-sozialistischen Think Tanks Terra Nova aus dem Jahr 2011, “Welche Wählermehrheit für 2012?”, der von dem Strauss-Kahnianer Olivier Ferrand (HEC-ENA) mitverfasst wurde[10]. Diesem Bericht zufolge ist..

“die historische Koalition der Linken, die sich auf die Arbeiterklasse konzentriert, ist im Niedergang begriffen. Aber es entsteht eine neue Koalition. Sie zeichnet eine neue soziologische Identität der Linken, das Frankreich von morgen, gegenüber einer Rechten, die das traditionelle Frankreich behütet.”

Hat die Arbeiterklasse oder die Linke den anderen im Stich gelassen? Terra Nova weicht der Frage aus, die Antwort ist offensichtlich. Anstatt die Arbeiterklasse durch den von ihr geforderten “wirtschaftlichen und sozialen Protektionismus” zurückzugewinnen, überlässt die Linke, die sich der techno-liberalen Globalisierung verschrieben hat, die Arbeiterklasse bedenkenlos der extremen Rechten [11]. Diese “progressive” (avantiste) Linke beschließt, eine neue Wählerschaft zu erobern, und zwar nicht auf der Grundlage eines Verständnisses der neuen materiellen Machtverhältnisse, die beispielsweise durch technologische Innovationen, die europäische Integration und die Globalisierung des Handels entstanden sind, sondern durch eine “Wertestrategie”, die sich auf “kulturelle Fragen” konzentriert:

“Akademiker”, deren “kulturelle Werte” “freie Sitten, Toleranz, Offenheit für kulturelle Unterschiede, Akzeptanz von Einwanderung …” sind;

“Die Jugend”, die per Definition progressiv ist;

“Minderheiten und Arbeiterviertel”, darunter “französische Migranten” (außer Asiaten, die zu “antikommunistisch” sind) ;

“Frauen” und “Nicht-Katholiken”, da diese “Außenseiter” das existenzielle Ziel haben, “die gläserne Decke zu durchbrechen”;

“Die Städter”, die per Definition urbaner sind.

Wohlwollen und “Intersektionalität” (noch ein amerikanisches Konzept [12]), so lautet das neue politische Programm der Linken: Zuhören, Einfühlungsvermögen, Toleranz, Trost … für Minderheiten, Opfer, Ausgegrenzte, Arme, Beherrschte, und warum nicht auch für nichtmenschliche Tiere, wenn Sie grüne “Werte” haben. Und warum nicht auch für Roboter, Künstliche Intelligenzen und Cyborgs, wenn Sie transhumanistische Werte haben.

Dieser alberne und giftige Brei wurde so gut gegen emanzipatorische Ideen gestreut, dass es vielen unmöglich erscheint, Politik anders zu machen als auf der Grundlage von “Minderheitenerzählungen” und ihrem “situierten Wissen”, die zu bizarren “systemischen Unterdrückungen” zusammengepresst werden.

So hat die wohlmeinende, gutmenschliche, gut praktizierende Moral die Politik verdrängt, zuerst in den Kreisen der progressiven, christlich geprägten Linken, bevor sie bei ihren queeren Anhängern durchsickerte. Voller Moral und Tugend haben diese Eiferer wiederholt den Stand der Anarchistischen Föderation angegriffen.

Da wir gerade dabei sind, und damit wir uns richtig verstehen: Zwischen dem sozialistischen Wohlfahrtsstaat und der liberalen Fürsorge muss man sich nicht entscheiden, wenn man an “antiautoritären Treffen” teilnimmt.

Der Wohlfahrtsstaat, d. h. die allgemeine Sozialversicherung (Familien-, Kranken-, Arbeitslosen- und Rentengeld), ist weniger eine Errungenschaft der kommunistischen Linken – was immer sie auch behaupten mag – als vielmehr das Ergebnis eines industriegesellschaftlichen Konsenses.

Dieser Konsens wird zunächst gegen die wechselseitige Selbstorganisation der Arbeiter aufgebaut. Dann entwickelt er sich im paternalistischen und christlichen Rahmen von Arbeitgebern, die sich von der wohlwollenden Einstellung und der guten Reproduktion ihrer Arbeitskräfte überzeugen. Überzeugt von der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891: Jede der beiden Klassen, die Eigentümer und die Enteigneten, hat Rechte und Pflichten gegenüber der anderen. So schützen sich die Bosse vor jenen “Sozialisten”, die “den eifersüchtigen Hass der Armen gegen die Reichen schüren” und “behaupten, dass jegliches Eigentum an Privateigentum abgeschafft werden muss”. Gemeineigentum sei nicht nur unnatürlich, sondern würde auch dem Unternehmungsgeist schaden. Der Staat hat sich nicht zufällig mit der göttlichen Vorsehung geschmückt.

Industriegesellschaftlicher Konsens auch weiterhin. Die Verordnungen vom 4. und 19. Oktober 1945 zur Einführung der allgemeinen Sozialversicherung wurden von einer gaullistisch-kommunistischen Regierung und von einem Minister für Arbeit und soziale Sicherheit, Alexandre Parodi, unterzeichnet, der de Gaulle nahestand. Entgegen dem Mythos, der 2016 noch durch La Sociale, den Film von Gilles Péret, verbreitet wurde, kam der Kommunist Ambroise Croizat aus Grenoble erst in der nächsten Regierung als Nachfolger von Parodi hinzu. Er sollte die Verordnungen zusammen mit einem gewissen Pierre Laroque umsetzen, einem reinen Technokraten, der von 1944 bis 1951 Generaldirektor der Sozialversicherung war und ebenso wie er, wenn nicht sogar mehr als er, die Legitimität des Titels “Gründungsvater der Sozialversicherung” besaß. Laroque war an der Ausarbeitung der Sozialversicherungsgesetze von 1930 und 1932 beteiligt, arbeitete im Kabinett des Arbeitsministers mit und beteiligte sich an den Diskussionen der ersten Vichy-Regierung über das Gesetz, mit dem am 14. März 1941 die umlagefinanzierte Rente und die Mindestaltersrente eingeführt wurden.

Dennoch gibt es einen Kampf zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat um die Vereinheitlichung der Kassen und ihre Verwaltung, die Höhe der Leistungen und die Beitragssätze [13]. Diese Verordnungen fallen jedoch mit den Plänen zur Modernisierung der Industrie von Monnet und De Gaulle zusammen. Diese Pläne, die zum Beispiel in den Kohlebergwerken, die verstaatlicht und von der Kommunistischen Partei und der CGT mitverwaltet wurden, den Akkordlohn und die Sonntagsarbeit wieder einführten, den Höllentakt (“die 100 000 Tonnen”) erhöhten, Streiks brachen und zu einer Vervielfachung der Silikosefälle führten [14].

Der Wohlfahrtsstaat erkauft sich die Beteiligung der Arbeiter an seinem verhängnisvollen Projekt, indem er sie für die industriellen Kalamitäten, die er ihnen zufügt, entschädigt.

Die Anarchisten verteidigen seit dem 19. Jahrhundert die Autonomie und fordern die Abschaffung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen besitzenden Unternehmern und enteigneten Arbeitern. Selbstproduktion, Selbstversorgung, Selbstverwaltung. Dazu haben die radikalen Umweltschützer, insbesondere Illich, die Kritik an der Heteronomie, der technischen und hierarchischen Arbeitsteilung zwischen Technokraten und Ausführenden hinzugefügt.

Diese Autonomie des Lebens und Denkens ist die nicht verhandelbare Grundlage, auf der freie und menschliche Beziehungen gewebt werden können. Sie ist das Gegenteil der von Queers und Care-Aposteln angestrebten Forderung nach Staat und technologischer Betreuung, für die die soziale Transformation durch die Einführung einer Gesellschaft des Wohlwollens gewonnen wird, die aggressiv die Konformität des individuellen Verhaltens untersucht. Deshalb sind Queers so wissbegierig, so schnippisch, sobald sie einen Fuß in eine linke Gruppe setzen. So autoritär. Fragen Sie die Aussteiger von Sud Éduc, Planning familial oder Act-Up.

Intellektuelle Sturmabteilungen

Die Szene spielt sich rund um den Stand der Groupe Kropotkin der Fédération anarchiste (F.A) ab, der Gruppe aus Laon im Departement Aisne. Es gibt keine andere französischsprachige F.A.-Gruppe und die Pariser Buchhandlung Publico ist nicht anwesend, ihr Stand repräsentiert gewissermaßen die gesamte Föderation.

Der erste Tag. Am Freitagmorgen stoßen zwei “Menschen mit Vulva” auf das Buch “Ein Schleier über der Sache der Frauen” von René Berthier, unserem Spezialisten für die antiautoritäre Internationale. Sie fordern, dass das Buch aufgrund der biologischen Begründung zurückgezogen wird, dass es von einem weißen Cis-Mann geschrieben wurde, der sich nicht über den Schleier äußern dürfe. Ablehnung durch die FA, die eine kontradiktorische Debatte vorschlägt. Die Anklägerinnen, die selbst der “kaukasischen Rasse” angehören (da sie so sehr von der Rasse besessen sind), lehnen dies ab und entgegnen, dass man Religionen, außer dem Islam, kritisieren dürfe, da man den “Beherrschten” gegenüber wohlwollend sei. Eine von ihnen kommt zurück, flankiert von zwei anderen Frauen (zumindest auf den ersten Blick). Sie klauen die Bücher und laufen weg, um sie zu zerreißen. Ab diesem Zeitpunkt, so bemerkte der Freund mit der unübertroffenen Weitsicht, “wird es in der Suze beschissen”.

Am Nachmittag marschieren mehrere Dutzend Personen am Stand vorbei, um sich über Berthier aufzuregen. Eine vermummte Meute stürmte grölend heran und warf den Tisch um. Die Angreifer haben es nun auf ein anderes Buch abgesehen, das von Hamid Zanaz im Verlag Éditions libertaires unter dem Titel L’impasse islamique veröffentlicht wurde und 2008 ein Vorwort von Michel Onfray erhielt, dem vorgeworfen wird, islamfeindlich und rassistisch zu sein. Es ist nicht nur sinnfrei, die F.A. Leute am Stand über Onfrays Rechtsruck seit 2008 zu belehren, zudem ist das Vorwort lediglich eineinhalb Seiten lang. Die Reaktionen, egal was man vom Onfray des Jahres 2008 hält, erweisen sich sofort als unverhältnismäßig.

In diesem Sumpf beschweren sich die Mitglieder der F.A. bei den “Organisatoren der Messe” über die mangelnde Sicherheit für Bücher und Personen. Ist die Bookfair nicht sicher? Ohne ein Wort über die Vernichtung von Büchern zu verlieren, berufen sich die Organisatoren auf eine nicht existierende Charta, nach der die FA die inkriminierten Bücher entfernen muss. Erneute Weigerung der FA, die dann feststellen muss, dass die am Morgen gestohlenen Bücher am Abend während eines Autodafés verbrannt wurden.

Das Organisationsteam der Bookfair – genauer gesagt: ihrer materiellen Organisation (Tische, Stühle, Zugang, Empfang usw.) – besteht aus einem knappen Dutzend Aktivisten der “intersektionellen” Richtung. Sie sind keine Aussteller, fühlen sich aber berechtigt, zu bestimmen, wer welche Bücher ausstellen darf. Auch das ist ein Gefühl.

Diese haben gerade ihren Bericht über die Rencontres [15] veröffentlicht. Um sich und ihre autoritären Komplizen zu entlasten, taufen sie die Angriffe, Schläge, den Diebstahl und das Verbrennen von Büchern “direkte Aktion”. Als ob die “direkte Aktion” an sich richtig und tugendhaft wäre. Als ob diese Methoden unter Anarchisten und in Polemiken in libertären Kreisen zulässig – zulässig – und traditionell wären. Als ob faschistische Squadristen, Nazi-Sektionen und alle kommunistischen oder anarchistischen, politischen oder religiösen Aktionsgruppen (von der Polizei ganz zu schweigen) nicht unter bestimmten Umständen auf “direkte Aktionen” zurückgreifen würden.

Aber während die direkte Aktion der Anarchisten die Vertreter und Strukturen der Macht ins Visier nimmt, greifen die Queers in Saint-Imier (und anderswo) die Nicht-Machthaber an. Ein Mitglied der F.A. flüsterte mir ins Ohr, dass dies ihre wichtigste “militante” Aktivität sei.

Freunde eines Verlagshauses sprachen daraufhin das Team Care an, mit einer unmerklichen Prise Ironie im wohlwollenden Auge: “So, wir waren Zeugen einer Situation, in der Aussteller unterdrückt und nicht einbezogen wurden, und deshalb haben wir uns gefragt, ob Sie das verurteilen würden”. Ihnen wurde kleinlaut geantwortet, dass dies nicht akzeptabel sei, aber dass die Leute von der FA Rassisten seien. Die Verleger verließen die Messe und ließen auf ihren Tischen die Botschaft “Stoppt die Zensur!” zurück.

2. Tag. Die zu zwei Dritteln verbrannten Bücher werden zusammen mit einem erklärenden Text am Stand der FA ausgestellt. Weitere Beratungen mit dem Messeteam und dem Care-Team, die zu dem Schluss kommen, dass die weißen Cis-Männer der FA alle ein bisschen rassistisch sind und dass es an ihnen liegt, die Deeskalation einzuleiten. Die Angegriffenen werden aufgefordert, die Empfindlichkeit ihrer Angreifer zu beschwichtigen, gemäß dem Gleichnis vom “Tritt in die Eier”, bei dem sich das Opfer demütig bei seinem Angreifer erkundigt: “Geht es dir gut? Tut der Fuß nicht zu sehr weh?”

Da die Organisatoren nicht für die Sicherheit der Aussteller sorgen wollten, musste die FA die Notbremse ziehen. Keines der beiden Bücher, um die es ging, liegt mehr auf dem Tisch, da sie alle vernichtet wurden – oder aufgrund der Werbung am Vortag gekauft wurden.

Der Samstag wird zunehmend angespannt, bis es am Abend zu einer Auseinandersetzung kommt. Gegen 19 Uhr versammelten sich etwa 30 Personen vor dem Ordnungsdienst der FA. Slogans, Beleidigungen, Schubsereien, ein Angreifer ergriff einen Stock der FA, bevor er zu Boden gerissen wurde. Einem Aktivisten der FA fliegt ein Metallteller gegen die Nase, woraufhin er Blut verliert. Er berichtet nicht darüber, um sich nicht als Opfer darzustellen und nicht noch mehr “Rassismus” zu betreiben, aber es ist symptomatisch, dass der einzige Verletzte in einer angeblich rassistischen und islamfeindlichen Gruppe arabischer Herkunft ist.

Am Abend erpressen das Team Care und die Orga der Messe: “Entweder ihr geht, oder wir schließen die Messe morgen”.

Weigerung. Und was kommt als Nächstes? Wie geht es deinem Fuß? Die Exklusivisten stützen sich nun auf die von Team Care verfasste Charta – die ja schreibt, was sie will -, auf ihre oben zitierte Liste “systemischer Diskriminierungen” – eine Liste, die Atheophobie nicht aufzählt, obwohl überall auf der Welt und seit 2012 auch in Frankreich islamistische Mörder “Ungläubige” und “Götzendiener” ermorden, die sich zu “Festen der Perversität” versammelt haben. Man fühlt sich 150 Jahre zurückversetzt, als Marxisten und “autoritäre Sozialisten” in der Ersten Internationale Intrigen sponnen, um die Anarchisten zu domestizieren oder auszuschließen.

Im Gegensatz zu den beiden Gruppen, die sich selbst zu redaktionellen Verantwortlichen des Salons ernannt haben, hat die Gruppe “Coordo” ihrerseits nie den Antrag auf Ausschluss der F.A. gebilligt. Einige haben übrigens ihre Verantwortlichkeiten niedergelegt, um den Stand zu schützen. Wie Sie sich denken können, herrscht hier ein wenig – oder sehr wenig – Anarchie. Wer entscheidet was? Wer hat die Legitimität zwischen denjenigen, die sich seit Monaten abmühen, und denjenigen, die am Vortag angereist sind, um eine rosa Weste anzuziehen; zwischen den verschiedenen Organisationsgruppen und den Ausstellern selbst?

Am Abend treffe ich im Espace Noir eine weinende Freundin aus der FA. Sie ist von den Ereignissen erschüttert. Aber was sie am meisten schmerzt, ist die Herablassung ihrer Ankläger, die sie damit konfrontieren, dass sie nur eine alte Ghettoblasterin sei, die nicht in der Lage sei, sich intellektuell mit den neuesten Entwicklungen der Intersektionalität auseinanderzusetzen. Komisch, wir dachten, wir hätten uns daran erinnert, dass “Ageism” eine der Sünden ist, vor denen man sich hüten muss. Aber nur, wenn diese Manipulatoren noch jung genug sind, um sich missbräuchlich über “jeunisme” zu beschweren, um jeglicher Kritik zu entgehen.

Sie wissen natürlich nicht oder wollen nicht wissen, dass “jeunisme” keineswegs die Verachtung der Jugend bedeutet, sondern umgekehrt zunächst einmal die dumme und unterwürfige Folgschaft der Alten gegenüber den Ideen, Moden und Vorschriften der Jugend. Oder zumindest von ihrem spektakulärsten Teil, der vorgibt, für seine gesamte Altersgruppe zu sprechen.

Es gibt keine Chance, sie dazu zu bringen, anzuerkennen, dass sie auf gleicher Augenhöhe für ihre Taten, Gesten und Reden kritisiert werden und nicht aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe usw. Die Opferpose ist zu vorteilhaft, als dass sie darauf verzichten könnten.

Das sind keine Jugendlichen, das sind Arschlöcher – und die haben kein Alter. Danke, dass Sie das nicht verwechseln. Zwischen ihnen und uns gibt es keinen “Generationenkonflikt”. Vielleicht ein Klassengegensatz – wir sind nicht die Kinder der Technokratie und vertreten nicht ihre Interessen -, aber ganz sicher ein politischer Konflikt. Wenn sich Queers daran stören, dass bei anarchistischen Treffen die Monotheismen kritisiert, ihre Sittenvorschriften abgelehnt und ihre totalitären Tendenzen angeprangert werden, dann haben sie sich auf dem falschen Campingplatz eingefunden. Oder sie sind bewusst als Saboteure gekommen, um die letzten Überbleibsel der Anarchie zu übernehmen, sie zu untergraben oder zu zerstören, wie sie es an anderen Orten und in anderen Gruppen getan haben.

Allerdings, so fragen sich die Organisatoren der Messe (geben vor, sich zu fragen), “warum, wenn der Islam wie jede andere Religion wäre, diese anderen Religionen nicht nur im Rahmen des Standes, sondern auch der ‘Debatte’ im Allgemeinen stark unterrepräsentiert sind”?

Tatsächlich lagen alle Klassiker des Atheismus seit Bakunins Gott und der Staat auf den Tischen zum Verkauf bereit. Zweitens hat jede Religion ihre eigene Dynamik, die ihre eigene Kritik verdient. Seit den Morden von Mohammed Merah im Jahr 2012 bis zum Mord an Yvan Colonna im Jahr 2022 haben die Mörder islamistischer Gruppen in Frankreich 272 Zivilisten (darunter auch Kinder) ermordet, aus ideologischen Gründen der Gottlosigkeit und der Unterstützung der Dschihadisten im Irak, in Syrien und anderswo. Welche andere Bewegung als die muslimische extreme Rechte kann sich in Frankreich einer so makabren Bilanz rühmen, seit… seit wann eigentlich? Seit dem weißen Terror von 1815, als ultrakatholische und ultramonarchistische Banden in Südfrankreich zwischen 300 und 500 Protestanten, Bonapartisten und Liberale ermordeten?

Es ist also legitim und notwendig, den Islamismus zu kritisieren und zu bekämpfen, genauso wie man den Stalinismus kritisiert und bekämpft hat, für den die Intellektuellen der 50er Jahre so leidenschaftlich waren; oder den Faschismus, von dem die Massen der 30er Jahre so besessen waren.

Dritter Tag – 9 Uhr. Generalversammlung der Aussteller. Die Organisatoren der Messe und das Team Care geben bekannt, dass sie nicht – nicht wollen? – die Sicherheit der Aussteller gewährleisten können. Die Versammlung beschließt, die Sicherheit selbst zu verwalten. Ciao, die Orga! Die Messe öffnet wieder, aber die Stimmung ist nicht mehr gut. Die Militanten der F.A., die in die Organisation der Treffen investiert haben, vernachlässigen ihre Verpflichtungen, um ihren Stand zu verteidigen: “Es gibt schon kein Klopapier mehr und die Mülleimer kotzen”, lacht ein Freiwilliger des Trash-Teams, der Mülltonnenmannschaft.

Die beiden intersektionalen Pressetische verlassen die Messe und lassen sich aus Protest an ihren Türen nieder. Kein Anarchist hätte sich vorstellen können, ihre Stände als Vergeltung für ihre Komplizenschaft mit autoritären Schlägertrupps oder für ihre Ideen, die den anarchistischen Prinzipien widersprechen, anzugreifen. Der Tag verläuft wie der Vortag, mehr oder weniger ruhig. Es lungert um den FA-Stand herum, bis es zur Aperitifzeit zu ersten Spannungen kommt. Gegen 16 Uhr nehme ich etwas weiter oben im Dorf an einem “Workshop über Antirassismus” teil, der von “rassisierten Queers” geleitet wird. Die Diskussion geht von einem Schnellverfahren gegen die F.A. ohne die F.A. bis hin zur Organisation einer Strafexpedition gegen ihren Stand: “Ihr Weißen, seid ihr bereit, mit uns zu kämpfen?”, heizt der Moderator an. Und die “Weißen” blöken im Chor: “Ouéééééé” – jede Ähnlichkeit mit dem Film Problemos

Etwa 60 Personen laufen dann in einer Herde ins Tal hinunter, hinter einem Schild mit der Aufschrift “Rassismus tötet”. Doch die FA hat bereits eingepackt.

Fassen wir zusammen:

Zerrissene Bücher.

Bücher werden verbrannt.

Vermummte Banden, die Bücher und Menschen umstoßen.

Schnellverfahren ohne Recht auf Verteidigung.

Urteile auf der Grundlage der biologischen Zugehörigkeit.

Eine Strafexpedition.

Angreifer, die zu “Angegriffenen” gemacht werden.

Und die Angreifer werden zur Selbstkritik aufgefordert.

Wie nennt man das noch mal?

Niemand wagt es, es laut zu denken, man flüstert es kaum und zieht sich dann zurück, um die Situation nicht zu verschlimmern: “Ist das nicht doch ein bisschen fascho?”. In Saint-Imier, wie auch anderswo seit zehn Jahren, fragt man sich, wie man solche Handlungen bezeichnen und wie man darauf reagieren soll. Die Antwort auf die zweite Frage ergibt sich aus der ersten. Diese Kollektive sind so dumm und stur, funktionieren nach Schlagwörtern und Parolen und spielen beim ersten Widerspruch mit der Erpressung von Aggressionen, dass man sich nicht vorstellen kann, dass rationale Argumente, die über einen Empörungshusten hinaus entfaltet werden, ausreichen können.

Im Dezember 2014 unterzeichneten einige Dutzend antiautoritäre Anarchen und Kommunisten eine Tribüne “Gegen Zensur und Einschüchterung in libertären Ausdrucksräumen” [16]. Heute fragt sich das Kommuniqué der F.A.: “Wird die Wiege des Anarchismus zu seinem Grab?”. Es ist von einem Dutzend internationaler libertärer Organisationen und Verlage unterzeichnet [17]. Die anarchistische Gewerkschaft CNT-AIT prangert “dogmatisches Sektierertum”, “Verwirrung” und “identitäre Ideologien” an. Die Genossen der Organisation communiste libertaire, die dieses Jahr in Saint-Imier nicht anwesend waren, aber 2012 bei einem Wurstessen erwischt wurden, versichern in einer sarkastischen und orwellschen Unterstützungserklärung für die F.A.: “Zensur ist Freiheit [18] “. Sie zählen einige Episoden der Zensur auf, die von der Intersektionalen Partei verübt wurden. Es folgt eine ausführlichere Liste [19] :

22. November 2014: Schubsereien, Schläge und Einschüchterungen führen zur Absage einer von Alexis Escudero geleiteten Debatte auf der libertären Buchmesse in Lyon über sein Buch La Reproduction artificielle de l’humain, ein Buch gegen die fabrikmäßige Erzeugung, Kommerzialisierung und genetische Selektion von Menschen (alias PMA-GPA).

28. November 2014: Nach mehreren Protesten sagt das Théâtre Gérard Philippe in Saint-Denis eine Reihe von Performances und Aufführungen des südafrikanischen Künstlers Brett Bailey unter dem Titel “Exhibit B” ab. Dabei handelte es sich, um sie anzuprangern, um Nachstellungen von Menschenzoos aus dem frühen 20. Jahrhundert.

9. Dezember 2014: Das LGBT-Zentrum in Paris sagt unter Drohungen einen Vortrag der Historikerin Marie-Jo Bonnet, einer lesbischen und feministischen Aktivistin und Gründerin der Front homosexuel d’action révolutionnaire im Jahr 1971, wegen ihrer öffentlichen Haltung gegen GPA ab. Ihr Vortrag hatte das Thema “Résistance-Sexualité-Nationalité à Ravensbrück” (ein Nazi-Konzentrationslager nur für Frauen, in dem Ärzte verschiedene Experimente an ihnen durchführten).

28. Oktober 2016: Die Marseiller Buchhandlung Mille Bâbords wird während einer Diskussion mit den Autoren des Flugblatts “Jusqu’ici tout va bien”, einer Kritik an rassistischen, “dekolonialen” und antiislamophoben Themen, die insbesondere von der Parti des Indigènes de la République entwickelt werden, einer “”Rassisten-Razzia”” ausgesetzt (Bücher und Zeitschriften werden zertrampelt, Plakate abgerissen, Tische umgeworfen, Schläge und Drohungen, Einsatz von Pfefferspray, zerbrochene Schaufensterscheibe).

21. März 2017: Die Universität Lille 2 sagt aus Angst vor “Ausschreitungen” die Aufführung des Regisseurs Gérald Dumont ab, die auf dem Text von Charb, Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes (2015), basiert.

25. März 2019: Nach Einschüchterungen und Drohungen “antirassistischer” Gruppen sagt die Sorbonne das Stück Les Suppliantes von Aischylos ab, das von dem Altgriechischlehrer Philippe Brunet inszeniert wird, mit der Begründung, dass dieser schwarze Figuren schwarze Masken tragen lässt, wie es die Kunst der Inszenierung seit dem Hirschtanz in prähistorischer Zeit jedoch fordert.

27. Juli 2019: Die Nachrichtenseite Rebellyon.info ruft mit einem Foto zum Gebrauch des “Feuerzeugs” gegenüber der Zeitung La Décroissance auf, weil deren Kritik an den Reproduktionstechnologien “transphobe” und “sexistische” Erwägungen transportiere. Zehn Tage später, nachdem alle alternativen Nachrichtenseiten des “Mutu”-Netzwerks den Aufruf weitergeleitet hatten, wurde der Stand der Zeitung bei einem Treffen über die künftige Atommülldeponie Bure tatsächlich angegriffen [20].

24. Oktober 2019: Zensur des Vortrags der feministischen Philosophin Sylviane Agacinski zum Thema “Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” durch die Universität Bordeaux aufgrund der Drohung von queeren Verbänden und Kollektiven. Sylviane Agacinski ist für ihre Kritik an der Leihmutterschaft bekannt.

3. Juli 2021: Die CNT-Gewerkschaft Finistère muss ihr Selbstverwaltungsfest unter der Drohung von sogenannten “anarchistischen” Gruppen wegen eines Vortrags von Pièces et main d’œuvre zum Thema “Biopolitik und Kontrollgesellschaft” absagen.

29. April 2022: Unter dem Ruf “Mörder!” stören Angreifer des radikalen Queer Action Collective die Vorlesung der Psychoanalytikerinnen Céline Masson und Caroline Eliacheff, Autorinnen des Buches La fabrique de l’enfant transgenre (2022), an der Universität Genf und brechen sie ab. Die beiden Autorinnen verteidigen das Vorsorgeprinzip angesichts des Zustroms von Minderjährigen, die zu chirurgischen und pharmazeutischen Wegen der Geschlechtsumwandlung verleitet werden.

17. Mai 2022: Die Universität Genf sagt (wieder) den Vortrag des Literaturprofessors und doch sehr postmodernen Eric Marty ab, der sein Buch Le Sexe des modernes: pensée du neutre et théorie du genre (2022), eine kritische Betrachtung des amerikanischen Genderkonzepts, vorstellen wollte.

5. Juni 2022: Absage einer Konferenz von Pièces et main d’œuvre zum Thema “Technologie, Technokratie, Transhumanismus” durch das Kino L’Univers in Lille nach mehreren Drohungen gegenüber dem Kino und einer anonymen Mitteilung im Internet.

17. November 2022: Störung und Absage eines Vortrags von Caroline Eliacheff, der in Lille im Rahmen des Festivals Cité Philo organisiert wurde, obwohl sie selbst im Postmodernismus versiert ist. Die EELV-Sektion in Lille ist der Ansicht, dass sie gegen die “Verbreitung transphober Propaganda” kämpfen muss. Die Organisatoren der Konferenz weisen darauf hin, dass es das erste Mal in 26 Jahren ist, dass eine Konferenz aufgrund von Einschüchterungen abgesagt wird.

19. November 2022: Das Haus der Ökologie in Lyon sagt unter Drohungen und Beschimpfungen eine Konferenz ab, die von den Ökofeministinnen von Floraisons und Deep Green Resistance organisiert wurde. Die LGBTQIA+ Sektion der EELV, die sich der Worte nicht bewusst ist, freut sich über die Absage einer “ökofaschistischen” Veranstaltung.

15. Dezember 2022: Das Queer-Kollektiv Ursula versucht, einen Vortrag von Céline Masson und Caroline Eliacheff im Café laïque in Brüssel durch Schreien und Werfen von Exkrementen zu annullieren.

4. April 2023: Unter der Drohung, “die Knie zu brechen” und mit dem Messer attackiert zu werden, sagt das Comité Laïcité République de Nantes (der Sozialisten) einen Vortrag von Marguerite Stern ab, einer ehemaligen “Femen” und Erfinderin der feministischen Collagen, die wegen ihrer Äußerungen über die Beteiligung von Männern “im Übergang” an den feministischen Bewegungen bereits mit dem Tod bedroht worden war.

22. Juni 2023: Während eines von der Rechtsfakultät Paris-Panthéon-Assas organisierten Kolloquiums zum Thema “Die universelle Republik auf dem Prüfstand der Transidentität”, bei dem unter anderem über den “allmächtigen Willen” des “Transhumanismus” und der “Transidentität” diskutiert wurde, bewarfen maskierte Studenten die Redner mit Farbe. Die Debatten hatten sich jedoch als widersprüchlich und die Kritik als mezzo voce angekündigt.

9. Juli 2023: Auf der anarchistischen Buchmesse in Ljubljana, Slowenien, versucht eine Pariser Gruppe, einen Vortrag der anarchistischen Pariser Bibliothek Les Fleurs Arctiques abzusagen, indem sie die unvermeidlichen Beleidigungen “phobe” verwendet. Les Fleurs arctiques hatte unter anderem mit La race comme si vous y étaient (Les Amis de Juliette et du printemps, 2017) Ideen gegen Identity Politics (Identitätspolitik), Rassismus und Religion in Umlauf gebracht.

Niemand ist verpflichtet, die FA zu mögen oder ihr beizutreten. Die spöttische Kritik an der FA, ihrem veralteten Stil, ihrer Erbfolklore und ihren politischen Fehlern wurde bereits vor Jahrzehnten von ihren eigenen Dissidenten und den Situationisten geäußert. Zu den anhaltenden Fehlern gehört die Illusion, dass man mit den Queers einen “Dialog” führen kann, dass man drei Jahre lang mit ihnen über die Organisation dieses Festivals diskutiert hat, während es seit 2012, dem Datum der ersten Angriffe und Proteste, offensichtlich ist, dass die Queers & Co da sind, um die Leute rauszuschmeißen. Möglicherweise, um ihre Strukturen zu unterwandern, zu übernehmen und zu missbrauchen. Wann werden sich die Genossen der F.A. dazu durchringen, vielleicht weniger ehrgeizige, aber kohärentere Veranstaltungen zu organisieren; zwischen Freunden und falschen Freunden zu unterscheiden; nicht darauf zu warten, angegriffen zu werden, um ihre Überzeugungen und ihre Leute gegen die als Opfer getarnten Teams von Angreifern zu verteidigen.

Hier sollten sie sich, wie Jaime Semprun, nicht fragen, welche Welt (und welchen Anarchismus) sie künftigen Generationen hinterlassen werden; sondern welchen künftigen Generationen sie der Welt (und dem Anarchismus) hinterlassen werden.

Was auch immer man von den einzelnen abgesagten Personen halten mag, sie repräsentieren weder den technokratischen Staat noch die Atomindustrie oder irgendeine der Lobbygruppen, die mit der Zerstörung der Lebensbedingungen auf der Erde in Verbindung stehen. Ein Teil des Problems liegt in der Verwechslung von (politischem) Konflikt und (persönlicher) Aggression, von Ideenkritik und Gewalt gegen Personen. Lassen Sie Ihren Kontrahenten als Aggressor erscheinen, und schon ist er mit seinem Widerspruch verschwunden. Beispiel. Systematisch und wie in Saint-Imier wird die Kritik an der islamistischen Ideologie, den islamistischen Figuren, Bewegungen und Staaten als Diskriminierung von Muslimen selbst (“Islamophobie”) verkleidet. Wenn nicht sogar als “Rassismus” – als ob es eine “muslimische Rasse” gäbe.

Ebenso wird Kritik an Intellektuellen, Ideen und queerer Politik systematisch als “Phobie” verkleidet – wodurch rationale Argumente in irrationale “Panik” verwandelt werden – als “Phobie” gegenüber “Betroffenen”, als Angriffe auf sie oder gar als “Beihilfe zum Mord”! (wenn wir schon dabei sind, huh!) Die Praxis der intellektuellen Vergiftung, die darin besteht, die Debatte über Ideen in Angriffe gegen Personen zu verkehren, muss einen Namen haben. Die Erpressung mit Mikroaggressionen?

Was die Bezeichnung “Zensur” betrifft, so behauptet das Messeteam in seinem Bericht, dass diese nur auf Staaten und nicht auf Zivilisten angewendet werden könne. Wenn dies der Fall ist, warum spielen dann angebliche Anarchisten die Rolle von Zensurgegnern und nehmen so leicht die Vorrechte von Staaten an sich? Und insbesondere des totalitären Staates?

Um genau zu sein, war die moderne Zensur zunächst eine kirchliche Praxis: Theologischen Universitäten wie der Sorbonne war es ab den 1520er Jahren überlassen, die katholische Konformität von Publikationen angesichts der Entwicklung reformierter (protestantischer) Ideen zu gewährleisten. Wenn mein Freund mit seiner ätzenden Polemik bemerkt, dass die postmodernen Aktivisten “wirklich Pfaffen sind”, dann trifft er es ganz gut.. Queers & Co. teilen mit der Inquisition die Freude an der Zensur, der Exkommunikation, der Verbannung und sogar dem Autodafé. Sie brennen mit demselben Eifer dafür, ihre gute individuelle Moral aufrechtzuerhalten und jede Abweichung auszurotten. Es ist eine Praxis von Fanatikern, den Rückzug eines Buches zu fordern, es zu verbrennen, den Ausschluss des Ausstellers zu fordern und den Autor zum Schweigen zu bringen. Religiöse und queere Menschen: Was für Schweinereien begehen sie nicht alles im Namen ihrer “Religion des Friedens” und ihres “Wohlwollens”? Ich weiß nicht mehr, welcher Deutsche sagte: “Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch Menschen”.

Es ist ironisch, dass viele der oben genannten Zensur Operationen in der Schweiz stattgefunden haben, insbesondere in Genf, wo man an die Tradition des Scheiterhaufens und des Autodafés erinnern muss. Der reiche Kanton emanzipierte sich 1526 von Savoyen, nahm 1536 die reformierte Religion an und folgte ab 1541 dem pikardischen Prediger Johannes Calvin. Der puritanische Terror von Johannes Calvin ließ ab den 1540er Jahren ketzerische Bücher, Romane oder politisch-theologische Abhandlungen verbrennen, aber auch Schuldige der Sodomie und des Ehebruchs, des Atheismus oder der Hexerei.

Das symbolträchtigste Opfer ist der unglückliche Michel Servet, ein gelehrter Aragonier, dessen Werk von der Inquisition als Bildnis verbrannt und der schließlich 1553 von Calvin selbst auf den Scheiterhaufen verbrannt wurde. Seine Anmerkungen zu den theologischen Schriften waren zu persönlich, sowohl für die katholische Hierarchie als auch für die protestantische in Genf. Calvin verbietet auch unbiblischen Tanz, Theater und Musik. Fleischessen und Alkoholkonsum stehen ihm ebenfalls im Verdacht. Was die Freuden des Geschlechts betrifft, so erübrigt es sich, darauf hinzuweisen [21].

In einem kürzlich erschienenen Artikel von Ian Buruma, einem Niederländer, der in die USA ausgewandert ist, wird an die puritanische Tradition der öffentlichen Entschuldigung und Beichte erinnert, die gestern in den Wäldern zwischen den eigenen Leuten versteckt waren, heute live in der Sendung von Oprah Winfrey, evangelischer Baptistin und Medienunterstützung der Demokratischen Partei: „Mach den Job. Die protestantische Ethik und der Geist des Woken.“ Buruma greift die Beobachtungen des deutschen Soziologen Max Weber über die Reformierten, Protestanten, Täufer, Evangelikalen, Methodisten usw. auf, denen gute Werke nicht genügen: Es ist ein ganzes Leben, und in jedem Augenblick, der aus Arbeit, Reue und Selbstprüfung des Gewissens besteht, das man annehmen muss, um auf einen Platz im Paradies zu hoffen [22].

Erinnern wir uns daran, dass Exemplare der “Satanischen Verse” 1989 von frommen Brandstiftern in Teheran, Manchester und London auf öffentlichen Plätzen verbrannt wurden, dreiunddreißig Jahre vor dem Attentatsversuch auf ihren Autor, Salman Rushdie. Ebenso wurde die Redaktion von Charlie Hebdo im Jahr 2011 mit Zustimmung ‘islamo-gaucher’ Brandstifter [23] niedergebrannt, bevor die Redakteure vier Jahre später von Al-Qaida-Killern ermordet wurden.

Écrelinf, wie Voltaire sagte.

In einem 2022 veröffentlichten „Tract“ Gallimard stellt Laure Murat, Geschichtsprofessorin an der Universität von Los Angeles, die Frage: Wer annulliert was? In Anbetracht der „Annullierungen“, die in Frankreich seit zehn Jahren zu verzeichnen sind, liegt der Ursprung dieser Brutalität anderswo: Queers (oder Intersectionals oder Postmoderne) „annullieren“ linke Intellektuelle, Feministinnen, Anarchisten und Umweltschützer, die den Mut hatten, ihnen zu widersprechen, sie zu kritisieren und die neuesten (bio-)technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Eugenik, des Transhumanismus und der Reproduktionsmedizin. 

Wie kann man die Queers nicht als Agenten (objektiv, subjektiv, egal) der Industriellen und der Staaten auf diesem Gebiet betrachten? Wie wäre es mit der Gründung einer Verbrauchervereinigung? Hat das Programm von Saint-Imier nicht einen „Lernworkshop zur Selbstinjektion von Hormonen“ für Menschen in der „sexuellen Transition“ angeboten?

Tomjo & Mitou

September 2023

Anmerkungen

  1. Moins !, rue du Petit-Rocher 4, 1003 Lausanne 
  2. “Anarchy 2023”, paris-luttes.info, 9 juillet 2023.
  3. S.a. Écologistes/technologistes, sachons les distinguer, Renart et Pièces & main d’œuvre, déc. 2022.
  4. Lachen Sie nicht, wir haben in Bure ein antispeziesistisches Festival gesehen, bei dem es um die Inklusivität „nichtmenschlicher Tiere“ ging und darum, wie „sie“ von „Menschen“ integriert würden.
  5. Für ein kritisches Verständnis postmoderner Bewegungen und ihrer intellektuellen Verbindungen mit (Bio-)Technologien empfehlen wir: L’Empire de la cybernétique. Des machines à penser à la pensée machine de Céline Lafontaine (Seuil, 2004), Servitude et simulacre de Jordi Vidal (Allia, 2007), La French Theory et ses avatars et Les raisons d’une fascination : Heidegger, sa réception, ses héritiers par la revue L’Autre côté dirigée par Séverine Denieul (2009 et 2012), Longévité d’une imposture : Michel Foucault par Jean-Marc Mandosio (Encyclopédie des nuisances, 2010), Ceci n’est pas une femme (à propos des tordus ‘queer’) par Pièces et main d’œuvre (piecesetmaindoeuvre.com, 2014), Le Désert de la critique. Déconstruction et politique par Renaud Garcia (L’Échappée, 2015), Manifeste des chimpanzés du futur contre le transhumanisme par Pièces et main d’œuvre (Service compris, 2017), Du coup par Tomjo (Chez Renart, 2019). 
  6. S.a. La société industrielle et son avenir, Théodore Kaczynski, Éditions de l’Encyclopédie des nuisances, 1998. Et encore Catastrophisme, administration du désastre et soumission durable, Jaime Semprun et René Riesel, Encyclopédie des nuisances, 2008.
  7. Le Monde, 14 avril 2010. 
  8. La Vie des idées, 20 novembre 2007.
  9. S.a. Chahsiche, Jean-Michel, « De l’’’éthique du care’’ à la ‘’société du soin’’ : la politisation du care au Parti socialiste », Raisons politiques, vol. 56, no. 4, 2014, S. 87–104
  10. Zu lesen auf piecesetmaindoeuvre.com
  11. Dies wäre laut Terra Nova nun die Rolle des Front National: „Marine Le Pens FN hat in sozioökonomischen Fragen eine Kehrtwende vollzogen und ist von einer neoliberalen poujadistischen Haltung abgewichen zu einem wirtschaftlichen und sozialen Schutzprogramm, das dem der Linksfront entspricht. Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren steht eine Partei wieder im Einklang mit allen Werten der Arbeiterklasse: kultureller Protektionismus, wirtschaftlicher und sozialer Protektionismus. Der FN positioniert sich als Partei der Arbeiterklasse, und es wird schwierig sein, ihr etwas entgegenzusetzen.”
  12. S.a. Du coup. Insultes, rumeurs et calomnies consécutives aux débats sur la PMA, Tomjo, 2019, Chez Renart. 
  13. “Une autre histoire de la Sécurité sociale”, Bernard Friot et Christine Jakse, Le Monde diplomatique, décembre 2015.
  14. Der Film Morts à 100 % : post-scriptum, von Tomjo und Modeste Richard, 45 mn, 2017. Mais surtout La foi des charbonniers, les mineurs dans la Bataille du charbon, 1945–1947, Evelyne Desbois, Yves Jeanneau et Bruno Mattéi, Maison des sciences de l’homme, 1986.
  15. RIA 2023 : livres islamophobes, action directe et évacuation de la critique », renverse.co, 23 août 2023. 
  16. www.piecesetmaindoeuvre.com, 29 décembre 2014.
  17. https://federation-anarchiste.org : Anarchist communist Group Great Britain (Grande-Bretagne), Barricada de Livros (Portugal), Delegation of Anarchist Political Organization in St. Imier (Grèce), Éditions Noir et Rouge et Chroniques Noir et Rouge (France), Groupe libertaire SAT-Esperanto, Federación Anarquista Ibérica (Espagne), Federazione Anarchica Italiana (Italie), Federazione Anarchica Siciliana (Italie), Federacija za anarhisticno organiziranje (Slovénie / Croatie), Federación Libertaria Argentina (Argentine), Iniciativa Federalista Anarquista Brasil (Brésil), Imprenta Comunera — Cali (Colombie), Kurdish-speaking Anarchist Forum (Kurdistan), La Comune — Ravenna (Italie), Les ami.e.s de May — Saint-Nazaire (France), Mujeres Libres (Espagne), Nada éditions (France), Verlag Graswurzelrevolution (Allemagne). 
  18.  https://oclibertaire.lautre.net/spip.php?article3899
  19. Die meisten dieser kommunizierten Zensurvorfälle sind auf der Website www.piecesetmaindoeuvre.com aufgeführt.
  20. Das „Mutu“-Netzwerk besteht aus einer Reihe lokaler Informationsseiten, die auf dem Rebellyon- und Paris-Luttes-Info-Modell basieren. Die Netzwerkstandorte sind mehr als eine „Zusammenlegung von Ressourcen und Praktiken“, sondern teilen oft die gleiche Perspektive des „Kampfes gegen alle Herrschaften“. Dort finden wir renverse.co, die Schweizer Seite des Buchmesse-Teams, aber auch Iaata (Toulouse), Marseille Infos Autonomes, Bourrasque (Brest), Le Pressoir (Montpellier), Le Numéro Zéro (Saint-Étienne), Expansive (Rennes). ), Manifest (Nancy und der große Osten), Cric (Grenoble), Barrikade (Deutschschweiz), La Bogue (Limousin), Dijoncter (Dijon), Basse-Chaine (Angers), Vallées en Lutte (Alpen Süd). ) und Emrawi (Wien).
  21. Vgl. Blau als Orange, Kapitel 8. „Jean Calvin und der Geist des Industrialismus“, Chez Renart und auf www.piecesetmaindoeuvre.com
  22. Le Monde Diplomatique, September 2013. Teilübersetzung eines Artikels, der im Juli 2023 in der Zeitschrift Harper’s veröffentlicht wurde.
  23. Siehe das kollektive Forum „Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, gegen die Unterstützung von Charlie Hebdo!“ », immer noch auf der Website Indigènes de la République sichtbar, aber von der Website lmsi.net verschwunden.

Veröffentlicht im September 2023 auf mehreren französischen Blogs, u.a. hier. Sinngemäß ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Kommuniqué Nr. 6: Eine Zwischenbilanz der Situation von Serge

Serge wurde am 25. März 2023 in Sainte Soline schwer verletzt. Sechs Monate nach dem Vorfall ist dies der Stand der Dinge.

Nach der Erleichterung nach der Zeit der Ungewissheit beim Aufwachen tauchten neue Bereiche der Ungewissheit auf, was unser Genosse wiedererlangen würde, wie, in welcher Zeit etc. Wir freuten uns, ihn und seine Erinnerungen, seine Überzeugungen und seine Entschlossenheit wiederzusehen. 

Dennoch offenbarte sich das Ausmaß des Schadens jeden Tag aufs Neue in leisen Tönen. Der Hirnschock, bei dem ein Teil seines Schädels entfernt werden musste, um ein Ödem, das tödlich gewesen wäre, unter Kontrolle zu bringen, hatte große Spuren hinterlassen. Das Schädel-Hirn-Trauma verursachte eine Gesichtslähmung und Schwierigkeiten bei der Beweglichkeit der Gliedmaßen, erhebliche Sehstörungen, die seine Fähigkeit, sich allein fortzubewegen, ohne einen Unfall zu riskieren, beeinträchtigen, Konzentrationsschwierigkeiten und chronische Müdigkeit. Die Granate, die ihn traf, zerstörte ein Innenohr, was sein Gleichgewicht beeinträchtigte und zu einer dauerhaften Taubheit des betroffenen Ohrs sowie zu einer verminderten Sehkraft führte. Wir sind nicht in der Lage, einen endgültigen Befund zu erstellen. Er hat dank der Rehabilitation deutliche Fortschritte gemacht und wir hoffen, dass er das, was er noch nicht endgültig verloren hat, wiedererlangen kann.

Er hatte sich vor kurzem einer Operation unterzogen, um seinen Schädel wiederherzustellen (mit einer Prothese, die als volet bezeichnet wird), ein entscheidender Eingriff, um das Risiko eines weiteren Hirnschadens zu verringern. Leider schlug die Operation fehl. Nach einem Monat voller Infektionen, Fieber, Wundheilungsproblemen, Antibiotika, Einschränkungen durch Katheter und Langeweile musste die Prothese wieder entfernt werden. 

Er steht immer noch unter ständiger medizinischer Überwachung und wir hoffen, dass er bald entlassen werden kann, um seine Rehabilitationsarbeit wieder aufzunehmen. In einigen Monaten wird er sich erneut einem chirurgischen Eingriff unterziehen müssen, ohne Garantie auf Erfolg. 

Seit Serge aus dem Koma erwacht ist, hat er nur drei Wochen außerhalb des Krankenhauses verbracht. Wir haben also genug Zeit dort verbracht, um festzustellen, wie sehr der Kapitalismus hier und anderswo auf der Suche nach finanziellen Spielräumen die Patienten und die Beschäftigten im Pflegebereich zu Anpassungsvariablen macht. Trotz des Wohlwollens des Krankenhauspersonals bleibt der Krankenhausaufenthalt eine Situation des Eingesperrtseins, die mit Entmachtung, Behinderung und Isolation einhergeht und zu dem Trauma der ursprünglichen Verletzung noch hinzukommt. Die Bewältigung dieser Situation ist nicht immer einfach und Unterstützung ist eine wichtige Ressource.

Wir möchten allen Menschen danken, die sich engagiert haben und es immer noch tun: Unterstützungskonzerte, tägliche Besuche im Krankenhaus, Sammlungen, Tags, Banner, Aktionen, geliehene Wohnungen, Plakate, Geldsammlungen, Spenden, die es ermöglichen, die medizinischen Kosten (Krankenhausaufenthalt, Hörgeräte) und die notwendigen Anpassungen des täglichen Lebens zu tragen, aber auch die finanziellen Auswirkungen für Serge und seine Angehörigen abzufedern. 

Vielen Dank auch an alle, die seit fünf Monaten zweimal täglich Mahlzeiten für Serge zubereiten und ihm ins Krankenhaus bringen. Danke an alle, die ihn beim Laufen begleitet haben, an alle, die für die moralische Unterstützung da waren. Danke an seine Kollegen, die ihm täglich Fotos schicken und ihn so an einen Teil seines früheren Lebens erinnern. Danke für die unterstützenden Nachrichten, Lieder und Videos, die Kraft geben. Diese Solidarität ist beispielhaft. Wir sind uns bewusst, dass es uns gut geht, verglichen mit all denjenigen, die die Unterdrückung allein ertragen müssen, im Schatten der Häuser, ohne kollektive Kraft, um all dem Elend, mit dem sie einhergeht, entgegenzuwirken.

Da wir es für äußerst wichtig halten, kollektiv die Verantwortung für die Repression zu übernehmen, die auf revolutionäre Bewegungen niederprasselt, werden wir bald einen Rückblick auf unsere eigenen Erfahrungen rund um Serges Verletzung anbieten. Darin werden wir die verschiedenen logistischen und politischen Fragen darstellen, mit denen wir konfrontiert waren, und wie wir sie beantworten konnten oder auch nicht. Diese Bilanz ist insofern nur eine Zwischenbilanz, als wir noch lange nicht am Ende sind und keine Rückkehr zur Normalität am Horizont zu erkennen ist. Die gerichtliche Beilegung der Angelegenheit, unabhängig vom Ausgang der Klage, die sich gegen das Handeln des Staates in Sainte Soline richtet, wird dem sicherlich kein Ende setzen.

Seitdem es den Staat gibt, hat seine Polizei die Menschen niedergeschlagen, zerquetscht, getötet, mit einem Wort: terrorisiert. In Frankreich wurde wahrscheinlich eine Schwelle überschritten, als die Panzer der Spezialeinheiten versuchten, die Kontrolle über die Straße zu erlangen, und dabei nicht zögerten, auf gut Glück in die Menge zu schießen, um die durch den Mord an Nahel ausgelöste Revolte zu beenden. 

Wie viele Augen wurden also seit den Unruhen von 2005 herausgerissen, wie viele Gliedmaßen zertrümmert, wie viele Fälle von Taubheit, mehr oder weniger legale Morde, Vergewaltigungen, wie viele Leben, die im Namen der Aufrechterhaltung – koste es, was es wolle – einer Welt der Ausbeutung in Stücke gerissen wurden? Wie viele Folgeschäden und Jahre der Rehabilitation bleiben übrig, nachdem die Medien einmal über sie berichtet haben?

Die Solidarität muss weitergehen, damit die Verletzten und Eingeschlossenen unserer Kämpfe auf die bestmögliche Weise wieder auf die Beine kommen und damit unsere Toten nicht umsonst getötet wurden. Die Kapitalisten haben nur ein Ziel: Geld zu machen, indem sie uns ruinieren, uns zerstören und alles Lebensfähige auf dem Globus vernichten.

Mehr denn je ist der Kampf der Proletarier auf der ganzen Welt lebenswichtig, um den Weg zu dieser verdammten besseren Welt zu finden. 

Die Genossinnen und Genossen von Serge

Erschienen am 25. September 2023, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

Militanz macht keinen Urlaub. Von den Achtzigern, Neunzigern und Nullerjahren bis heute und darüber hinaus. [Part1]

Gigi Roggero 

Im kollektiven Gedächtnis scheint die politische Militanz nach dem Sturm der 1970er Jahre verschwunden zu sein. Die Phase, die mit den 1980er Jahren begann und immer noch andauert, erscheint wie ein “schwarzes Loch”. Es ist die Zeit der Reaktion auf die großen Kampfzyklen, die Zeit der kapitalistischen Konterrevolution, des Rückflusses ins Private, der Heroin-Epidemie, des grassierenden Hedonismus, der allgemeinen Prekarität, des Aufkommens des Internets und der unipolaren Welt, die zu der Welt geführt hat, wie wir sie heute kennen.

Die letzten vier Jahrzehnte waren jedoch keineswegs frei von Konflikten, Experimenten, Bewegungen und sogar originellen Formen politischer Organisation inmitten von Ambivalenzen und Widersprüchen, die sich mit der Krise der Militanz auseinandersetzen mussten: von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis zu der Studentenbewegungen Pantera, von der Saison der sozialen Zentren bis zu den Antiglobalisierungsmobilisierungen und l’Onda, von den weißen Overalls bis zum schwarzen Block, bis zu den “letzten Feuern” des 15. Oktober 2011 und den “populistischen Plätzen” der letzten Jahre.

Welche sozialen Akteure waren die Protagonisten der jüngsten Bewegungen? Was waren die Vorzüge und Grenzen ihrer Organisationsformen? Wie haben sich Militanz und Konflikt angesichts von Aktivismus und Zeitzeugenschaft gewandelt? Wenn wir vor der Erschöpfung eines Zyklus stehen, wie können wir uns vorstellen (und praktizieren), ihn zu überwinden? Diese “verlorenen Jahrzehnte” zurückzuverfolgen bedeutet, sich mit den ungelösten Knoten der Gegenwart zu konfrontieren, das Denken angesichts der aktuellen Ereignisse neu zu wappnen und eine solide Perspektive innerhalb und gegenüber der heutigen Geschichte aufzubauen. Das ist es, was es bedeutet, militant zu sein.

Darüber haben wir am 17. Juni in Modena mit Gigi Roggero – militanter Forscher, Mitarbeiter der Zeitschrift “Machina”, Autor von “Lob der Militanz” (2016), “Der Zug gegen die Geschichte” (2017), “Italienischer politischer Operaismus” (2019), “Für die Kritik der Freiheit” (2023), die alle bei ‘Deriveapprodi’ erschienen sind – im Rahmen des Treffens zum Abschluss des Zyklus ‘MILITANTI’ diskutiert.

Es schien uns notwendig, bei der Neuverknüpfung und Wiederaneignung einer Genealogie und einer parteilichen Geschichte die letzten Jahrzehnte kritisch zu überprüfen, insbesondere diejenigen, aus denen unsere politische Generation stammt und geformt wurde. Nicht nur, um einige Hinweise zur Klärung von Dynamiken und Prozessen zu geben, die den neuen Generationen, die sich auf den Weg der politischen Militanz begeben, zumeist unbekannt sind, sondern um sie zu betrachten und mit luzider Distanz zu erfassen, der notwendigen Distanz, um bequeme Gewissheiten, sedimentierte Gewohnheiten, gewohnte Verständnis- und Handlungsweisen in Frage zu stellen, von denen wir heute glauben, dass sie sich im Kreis drehen, oder die uns einfach nicht mehr ausreichen – oder besser gesagt, in der Phase, in der wir uns befinden, nicht mehr angemessen sind. Den Weg, von dem wir kommen, dem wir sowohl Fehler und Stürze als auch Wissen und Erfahrung verdanken, in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Wo das Ziel dasselbe bleibt, aber alte Wege wieder geöffnet und neue beschritten werden müssen. Unwegsame, nicht lineare, wenig genutzte Wege, die alle bergauf führen. Das sind die Wege, die von oben gesehen gerade zu sein scheinen, aber um ihnen zu folgen, muss man in einer Kurve entlanggehen.

Die Gewissheit, sich zu verirren, die geringe Wahrscheinlichkeit des Erfolgs: die einzigen Wege, die es wert sind, gemeinsam beschritten zu werden.

(Vorwort des italienischen Originals)

Gigi Roggero:

Ich werde Ihnen nicht sagen, dass ich mich “kurz fassen werde”, denn das wäre nicht glaubwürdig; lassen wir also die unrealistischen Prämissen beiseite. Ich möchte lieber damit beginnen, dass ich vor allem hoffe, einen Moment der Konfrontation zu eröffnen, und dass ich die Interpretation teile, die die Modena-Genossen dieser Situation geben. In der Tat ist die These, die sie vorbringen, fast gelassen. Ich würde sagen, dass wir uns in einer Phase befinden, in der, um es mit Gramsci zu sagen (unabhängig von Gramsci, der mich ehrlich gesagt nicht sonderlich begeistert), “das Alte mit dem Tod ringt und das Neue mit der Geburt”. Das scheint mir, kurz gesagt, die gegenwärtige Situation zu sein. Dann könnte man auch sagen, dass ich nicht nur keine besondere Sympathie für Gramsci hege, sondern auch keine Sympathie für die Begriffe “alt” und “neu”… aber die Metapher ist dennoch nützlich, um das gegenwärtige Szenario zu definieren.

Was zeichnet unsere Gegenwart im Einzelnen aus, insbesondere für diejenigen, die sich, wie wir, immer als “Bewegungsmilitante” (“militante di movimento”) verstanden haben?

In dieser Hinsicht sollten wir einen Schritt zurücktreten und von unserer gewohnten Zuordnung ausgehen, um besser zu verstehen, wo der politische Kern der Sache liegt.

Nun, den Begriff “militante di movimento” hört man nur in Italien. Der Begriff “Bewegung” bedeutet außerhalb Italiens nichts von dem, was wir meinen. Wenn wir hier “militante di movimento” sagen, meinen wir etwas Bestimmtes, nämlich den Militanten außerhalb der Parteien, der sich auf organisierte Weise dafür einsetzt, das Bestehende zu verändern; während im Ausland und insbesondere in der angelsächsischen Welt – der schrecklichen angelsächsischen Welt, aus der alles mögliche Böse kommt – die “Bewegung” die sozialen Bewegungen, die sozialen Mobilisierungen sind. In der Tat gab es ab den 1980er Jahren Theoretiker, die davon ausgingen, dass die vorherrschende Form der Mobilisierung die der “Single Issue Movements” sein würde, d.h. Bewegungen, die sich auf ein einziges Thema konzentrieren: ganz banal, man droht mit der Eröffnung einer Mülldeponie in der Nähe meines Hauses oder eines Atomkraftwerks und versammelt einen Kreis von Aktivisten um dieses Thema. Kurz gesagt, Bewegungen, die an ein bestimmtes Anliegen gebunden sind und deren Lebenszyklus damit verknüpft ist. Man gewinnt oder verliert, und dann macht jeder wieder das, was er vorher gemacht hat.

Stattdessen verweist die “Bewegung” hier auf eine italienische Anomalie. In der offiziellen linken Debatte der 1990er Jahre bestand man darauf, dass die italienische Anomalie von Silvio Berlusconi verkörpert wurde. Erst später hat man erkannt, dass die eigentliche Anomalie die Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre waren (über die Sie auf der letzten Sitzung gesprochen haben). Die Außergewöhnlichkeit lag in einem Prozess des Klassenkampfes, der international absolut einmalig war. Um es klar zu sagen, in jenen Jahrzehnten gab es nicht nur in Italien Kampfprozesse; aber Italien zeichnete sich durch die außergewöhnliche Dauer dieser Konfliktzyklen aus, die in den frühen 1960er Jahren mit den Arbeiterkämpfen begannen, in den Jahren 1968-69 durch das Bündnis zwischen Arbeitern und Studenten fortgesetzt wurden und in den 1970er Jahren mit dem Auftauchen neuer Konfliktfiguren, einschließlich des “gesellschaftlichen Arbeiters”, fortgesetzt wurden (unabhängig davon, ob diese Kategorie dem Test der Tatsachen standhielt oder nicht).

Sehen Sie, diese zwei Jahrzehnte unglaublich intensiver Konflikte im gesellschaftlichen Bereich, die in der Lage waren, die Machtverhältnisse sowohl auf der politischen als auch auf der produktiven Ebene wirklich in Frage zu stellen, wurden nicht nur außerhalb der Strukturen der bestehenden Parteien und insbesondere der Kommunistischen Partei, sondern gegen die Kommunistische Partei geführt. Und dies wohlgemerkt nicht in anarchischer oder anarchisierender Form, sondern organisiert und in Opposition zur Verkrustung der offiziellen Organisationen der Arbeiterwelt. Sogar im Ausland ist diese italienische Anomalie schwer zu verstehen, so dass der Niedergang der Autonomia in der ganzen Welt hauptsächlich in einer libertären Tonart erfolgt (es gibt einige, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, aber mit Interesse oder sogar als Modell auf die Autonomia schauen). Die Stärke und Dauerhaftigkeit der Bewegung in Italien hat dazu geführt, dass jahrzehntelang die Aussage “Ich bin ein Militanter der Bewegung” etwas Bestimmtes bedeutete.

Nun, heute ist der alte Mann, der mit dem Tod ringt, genau das. Das heißt, wir erleben zunächst die Auflösung von etwas, das nicht mehr produktiv ist, das keinen gesunden Menschenverstand und keine kollektive Vorstellungskraft mehr hervorbringt, nämlich “die Bewegung”, und dann die Erschöpfung dessen, was die Centre sociale waren. Zwar war die Parteiform, wie sie im 20. Jahrhundert traditionell verstanden wurde, in vielerlei Hinsicht bereits im Niedergang begriffen und tot – in der Tat geht der Operaismus gerade von einer Kritik der Parteiform aus -, doch folgte dieser Kritik kein pars construens, das der Situation gerecht geworden wäre. Es gab verschiedene Versuche, aber das schwarze Loch neuer Organisationsformen, die der Klassenzusammensetzung und ihren Transformationen angemessen sind, bleibt. 

Was geschieht in den 1980er Jahren? Wie die Genossen eingangs erwähnten, handelt es sich um zugegebenermaßen wenig aufregende Jahre, die vom Makel der kapitalistischen Konterrevolution geprägt sind, auf die ich später noch zurückkommen werde; es sind die Jahre des Yuppismus und des ” Milano de bere”; aber auch die Jahre nach der, mit Verlaub gesagt, Repression. (Übrigens ist “Repression” ein Begriff, den ich nicht gerne verwende. Nicht, weil es sie nicht gäbe: Repression ist inhärent, und man kann nicht erwarten, dass der Feind gut ist; sondern weil ich nie glaube, dass Bewegungen nur aufgrund von Repression besiegt werden können. Wenn eine Bewegung verliert, wenn es zu Repressionen kommt, dann deshalb, weil es vorher Grenzen gab, die nicht überwunden wurden, und es ist kein Problem der Rationalität des Vorgehens, sondern ein Problem der Machtverhältnisse: Wenn man die Kraft hat, gewinnt man, wenn nicht, verliert man. Und Repression ist dann erfolgreich, wenn das Gleichgewicht der Kräfte in den Händen des Gegners liegt).

Aber zurück zu uns. Über die achtziger Jahre zu sprechen, bedeutet auch, über die Niederlage der vorangegangenen Jahrzehnte und ihre Ursachenkonstellation zu sprechen (die ich nicht analysieren werde, weil Sie bereits darüber gesprochen haben). Wenn Sie mir eine Provokation gestatten, muss ich natürlich sagen, dass es nicht immer leicht ist, mit denjenigen zu sprechen, die aus den Erfahrungen der siebziger Jahre hervorgegangen sind. Es gibt immer eine Tendenz, diese Sternstunden zu preisen, das ist klar; aber man muss sich doch fragen: “Aber Entschuldigung, wenn die anderen gewonnen haben, muss es doch einen Grund geben?” Wie jemand, der ins Stadion geht und sagt: “Wir haben toll gespielt, ein verrücktes Spiel…”, “Ja, aber wie war das Ergebnis?” “Drei zu null für die anderen”.

Natürlich sind nicht alle Niederlagen gleich. Die Niederlage der siebziger Jahre hat viele Dinge hinterlassen, und wir alle haben mit einem außergewöhnlichen Erbe aus dieser Phase gelebt. Aber die achtziger Jahre waren zweifellos Jahre des Zerfalls dessen, was zuvor aufgebaut worden war; Jahre der Zerstreuung, der Rückkehr zur Privatsphäre, des Heroins, des ungezügelten Individualismus, der Panikmache… alles Dinge, die wir bereits kennen. Aber es waren noch viel komplexere Jahre, auch wenn sie bisher kaum in Frage gestellt wurden. Genau aus diesem Grund haben wir vor einigen Wochen zusammen mit der Zeitschrift “Machina” ein Festival organisiert, um eine “Kartographie der verlorenen Jahrzehnte” zu erstellen, über diese Perioden, über die wir außer dem üblichen Gerede über Thatcherismus und Reaganismus noch wenig wissen. Es gab auch verschiedene Kämpfe und zahlreiche Entwicklungen bei unseren Werkzeugen des Verstehens, aber wir müssen sie noch richtig erforschen, um zu verstehen, wo wir heute stehen.

Ich komme nun auf ein Thema zurück, das ich nur angedeutet hatte, weil es meines Erachtens entscheidend ist, um das Thema richtig einzuordnen. “Kapitalistische Konterrevolution” ist nicht gleichbedeutend mit “reaktionär”. Reaktionär ist z.B. der Wiener Kongress, d.h. die (im Übrigen gescheiterte) passatistische Utopie, die Uhr auf die Zeit vor dem 14. Juli 1789 zurückzudrehen. Ebenso wenig waren die 1980er Jahre ein Versuch, in die Phase vor dem Zyklus der 1960er Jahre zurückzukehren, indem etwa der Autoritarismus der Humboldtschen Universität oder der Despotismus von Vittorio Valletta in der Industrie wiederhergestellt wurde.

Die Frage ist eine ganz andere: Mit “Konterrevolution” meinen wir eine “Revolution in umgekehrter Richtung”. Das heißt, dass das Kapital einen Wert aus revolutionären Prozessen gezogen hat. Schließlich funktioniert das Kapital genau unter diesen Bedingungen. Schon Marx hat in ‘Das Elend der Philosophie’ argumentiert, dass die größte produktive Ressource für das Kapital die revolutionäre Arbeiterklasse ist. Das Kapital innoviert, restrukturiert und springt vorwärts, wenn es ihm gelingt, die Prozesse des Kampfes und des Konflikts zum Tragen zu bringen. Und genau so erleben wir in den 1980er Jahren, wie das Kapital den subjektiven Reichtum, der in den Kämpfen der 1970er Jahre freigesetzt wurde, absorbiert, sich einverleibt und in sein Gegenteil verkehrt.

Denken Sie zum Beispiel an das Thema Prekarität und Flexibilität. Es gibt ein Buch von zwei Franzosen, Boltanski und Chiappello, die die Managementliteratur analysieren. Sie zeigen, dass das Wort “Flexibilität” in den Unternehmenshandbüchern der 1970er und der 1990er Jahre gleichermaßen vorkommt. Im ersten Fall wird es jedoch mit dem Terror der Bosse gegen die Autonomie der lebendigen Arbeit in Verbindung gebracht: Es handelt sich um eine einseitige Flexibilität, die Flexibilität der Arbeitsverweigerung, der Sabotage, der Flucht aus der Fabrik, der Verringerung der Arbeit. In den 1990er Jahren kehrt dasselbe Wort jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen zurück: eine durch die kapitalistische Entwicklung erzwungene Flexibilität, die, wie wir seither gesehen haben, zum Heilsrezept für jede Arbeitspolitik wird. Was war geschehen? Ganz einfach, das Kräfteverhältnis hat sich umgekehrt.

Oder denken Sie auch an den Berlusconiismus. Berlusconi verkörpert, ob man es will oder nicht, den libertären Geist von ’77. Offensichtlich in umgekehrter Tonart: nicht kollektiv, sondern individuell, nicht der Bruch mit dem Kapitalismus, sondern seine Wiederbelebung usw. Man denke auch an die Wiederbelebung der sexuellen Revolution (von Ambra bis zur Olgettine) oder an die Rolle der Kommunikation: Canale 5 ist nichts anderes als die kapitalistische Verwertung jenes Bruches des RAI- Kommunikationsmonopols, der durch das freie Radio vorangetrieben wurde, nicht mehr in einer Bewegungsdynamik, sondern einfach zur Bereicherung. Konterrevolution heißt das. 

Was geschah also in diesen Jahren in unseren Breitengraden? Es gibt Versuche des “Widerstands”, wo die organisierten Realitäten gehalten haben (zum Beispiel in Venetien) und versucht haben, neue Formen der Koordination zu schaffen: zum Beispiel die Anti-imperialistische Anti-Atom-Koordination, die Protagonistin von heftigen Kämpfen war, die große Ergebnisse erzielten – auch wenn es ein wenig übertrieben ist zu behaupten, dass der Sieg über die Atomkraft vom radikalsten und insgesamt minderheitlichen Flügel kam.

Sie wurden jedoch immer in einer Perspektive des Widerstands und in einem Plan der Kontinuität und mit Blick auf die 1970er Jahre wiederbelebt. Vereinfacht gesagt, fanden wir eine militante Klasse und die unmittelbaren Erben der sich auflösenden Gruppen vor, die versuchten, sich in einem feindlichen Terrain zu behaupten. Es war ein Widerstand, der kaum von einem Verständnis für die neuen Subjektivitäten begleitet wurde, die sich herausbildeten. Was will ich damit sagen? Dass diese militanten Gruppen aus verschiedenen Gründen (dies ist keine Polemik, kein “musste” oder ein Vorwurf der Unfähigkeit: es ist lediglich eine Analyse eines Makroprozesses) nicht mit den Veränderungen der sozialen Subjektivitäten in Verbindung standen. Selbst die 1970er Jahre wurden nicht nur von militanten Gruppen vorangetrieben, die bekanntlich in enger Beziehung zu konkreten sozialen Subjekten wie dem Massenarbeiter und dem Sozialarbeiter standen. Im Gegenteil, in den 1980er Jahren waren wir Zeuge eines Ansatzes militanter Gruppen, der von den stattfindenden sozialen Veränderungen ziemlich abgekoppelt war, die von anderen politischen Subjekten viel besser aufgefangen werden konnten.

Welche? Zunächst einmal die Liga: In den Gebieten des Nordostens ist es die Liga, die versteht, in welche Richtung der Wandel geht und wie man den Klein- oder Kleinstunternehmer oder den Selbstständigen zusammenfasst (der übrigens auch von der Ablehnung der Fabrik ausgeht, aber, da er keine kollektive Bezugsdimension mehr findet, in eine individualistische Richtung abbiegt). Auch das Thema der Unabhängigkeit ist nicht nur ein rhetorisches Argument, das opportunistisch vorgebracht wird, sondern etwas wirklich Gefühltes, das sich in einem wichtigen Stück sozialer Komposition verkörpert: Wäre man damals in diesen Gebieten unterwegs gewesen, hätte man Dinge vorgefunden, die an das Baskenland erinnerten, mit einer echten und wirksamen Verwurzelung, von der die mit Slogans bedeckten Wände zeugen. Kurzum, die Lega bleibt die letzte Partei des 20. Jahrhunderts mit einer eigenen militanten Struktur. Und dies, ich wiederhole es, dank der unbestrittenen Fähigkeit, die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung zu erfassen, die in einem eindeutig klassenübergreifenden Sinne und daher nicht in einer revolutionären Perspektive abgelehnt und ausgetragen wurde.

Die erste Ablehnung kommt schließlich von der Pantera-Bewegung. Zwischen Ende 1989 und Anfang 1990 kommt es zu Besetzungen von Fakultäten. Die erste Besetzung findet in Palermo statt, aber sofort breitet sich die Mobilisierung auf ganz Italien aus und wird zur ersten großen Studentenbewegung nach den siebziger Jahren, die eine ganze Generation prägt. Der Auslöser war eine vom damaligen Minister Ruberti unterzeichnete Reform, die Privatisierungsprozesse, die Einrichtung von Schulen der Serie A und der Serie B usw. einleitete; aber das ist nicht der Kern der Sache. Es wäre interessant, die Reform von Ruberti heute noch einmal zu analysieren und auf die Verdienste des Panteras einzugehen; es genügt zu sagen, dass die Pantera Bewegung in erster Linie das Aufkommen eines sozialen Subjekts (in diesem Fall der Studenten und der Universität) darstellt, das Räume wiederbelebt, die bis dahin auf einfachen und anstrengenden Widerstand, auf das Überleben begrenzt waren.

Es ist nicht so, dass es vor Pantera keine sozialen Zentren oder ähnliche Strukturen gab; es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass ihr großer Sprung nach vorne zu diesem Zeitpunkt stattfand, in Rom und darüber hinaus. Nach den Panteras entstanden vier bis fünf Jahre lang überall besetzte Soziale Zentren, und gleichzeitig begann ein Diskurs über selbstverwaltete Räume zu entstehen, der unter einer Minderheit von Jugendlichen sehr verbreitet war. Eine Minderheit, gewiss, aber eine Minderheit, die nicht unbedeutend und vor allem voller Ambivalenzen ist.  In der Tat sollte man nicht denken, dass die Sozialen Zentren an sich eine explizit politische Konnotation haben. Seit einigen Jahren sind die Sozialen Zentren in der Tat “sozial”: Sie sind Orte, an denen sich Jugendliche treffen, ganz einfach. Ich komme zum Beispiel aus einer kleinen Stadt in der Provinz Turin mit 16.000 Einwohnern, und Anfang der 90er Jahre gab es dort ein Kollektiv zur Besetzung von Räumen, das aus 40-50 Jugendlichen bestand; aber es waren nicht 40-50 “Genossen” oder “Militante”: es waren einfach Jugendliche, die Versammlungsräume wollten, wo es keine gab.

Es ist eine Periode, die letzte, würde ich sagen, der gegenkulturellen Produktion, die um die alte Bewegung kreist: Es ist die Zeit der Posse ebenso wie die bestimmter Gruppen, die kurz darauf in Sanremo spielen werden. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, solange wir es nicht in einem moralischen Sinne verstehen, als “Verräter, die verraten haben”, sondern uns vielmehr bemühen, den Wandel bestimmter Prozesse festzustellen. Ich meine, dass im Nachhinein klar geworden ist, dass die Sozialen Zentren in einer Phase der noch nicht erfolgten kapitalistischen Unterwerfung eben dieser Räume erblühten, die innerhalb weniger Jahre vollständig unterworfen sein würden. Lassen Sie mich einige konkrete Beispiele anführen, damit Sie verstehen, wovon ich spreche.

Der Höhepunkt der Sozialen Zentren ist die Demonstration vom 10. September 1994, und das Symbol dieser Zeit ist das Leoncavallo in Mailand. Vielleicht nur ein Symbol, denn unter dem Gesichtspunkt der Diskursproduktion war das Leoncavallo nie eine große Sache. Wenn überhaupt, ist es interessanter, darauf hinzuweisen, dass es sich um Mailand handelt: das größte soziale Zentrum der Zeit befindet sich in einer Stadt mit einer langen politischen Geschichte, die sie direkt mit Fausto und Iaio verbindet (an die auch Ignazio La Russa bei seinem Amtsantritt im Senat in einer schönen Rede erinnerte, in der er sich auf alle das berief; diejenigen, die sagen, es sei instrumentell gewesen, werden nie verstehen, was es bedeutet, den Feind zu erkennen und damit ein ganzes militantes Milieu, aus dem er kommt). Aber Mailand ist auch die Stadt der neuen kapitalistischen Prozesse, der Konterrevolution, die mit der Kommunikation und den Sprachelementen verbunden ist, auf denen die neue Industrialisierung beruht. Kurz gesagt, Mailand war die Stadt Berlusconis, und Leoncavallo hätte nirgendwo anders geboren werden können.

Wie ich bereits sagte, wurde Leoncavallo in zwei großen Episoden zum Symbol dieser Phase. Die erste ist im August 1989, als es einen Räumungsversuch gibt und die Genossen beschließen, auf dem Dach Widerstand zu leisten, indem sie Ziegelsteine auf die Köpfe der Polizisten werfen. Die Bilder gingen durch alle Zeitungen und plötzlich explodierten die Sozialen Zentren. Von diesem Moment an bedeutete es etwas, wenn man sagte: “Ich bin ein Militanter aus dem Sozialen Zentrum X”, und jeder verstand einen. Es war natürlich die Sprache einer Minderheit, aber einer Minderheit, die mit dem sozialen Umfeld kommunizierte.

Das andere große Ereignis ist der 10. September 1994. In den Monaten davor wurde das Leoncavallo von seinem zweiten Standort in der Via Salomone vertrieben, und so wurde noch vor dem Sommer eine Demonstration für dieses Datum einberufen, um den Verantwortlichen klar zu machen, dass das Chaos an diesem Tag stattfinden würde. Alle wichtigen Orte wurden aktiviert, und es kamen 15.000 Menschen aus ganz Italien. In der Zwischenzeit wird das Soziale Zentrum in der Via Watteau wiederbesetzt (wo es immer noch ist), aber das große Ereignis findet später statt. Am Tag des 10. Septembers, nachdem man die Piazza Cavour vor der Polizeisperre erreicht hat, an der der Umzug eigentlich hätte enden sollen, sprengt der Ordnungsdienst (zum ersten Mal seit den 1970er Jahren) die Polizeiabsperrung. Es muss gesagt werden, dass die Polizeisperre offen gesagt unorganisiert war, von einem neu ernannten Präfekten geleitet wurde und zu schwachsinnigen Fehlern fähig war. Um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, sie hatten ein Stück der Piazza Cavour offen gelassen, wo sich ein Berg von Pflastersteinen für laufende Arbeiten befand. Und diese Pflastersteine wurden prompt für eine neue Verwendung eingesammelt. Es kam zu einem Massaker, Polizisten rannten weg, Genossen kehrten mit gestohlenen Schilden und Abzeichen zurück, wirklich blamable Szenen für die Polizei… Was die Besetzung anbelangt, so gab es eine Art Verhandlung mit den Cabassi (den Eigentümern der Plätze), die mit einer Einigung und einem Zugeständnis endete, so weit, dass es dreißig Jahre später immer noch da ist.

Aber ich erinnere mich, dass ein paar Jahre später, ich glaube 1996, in Mailand ein Club eröffnet wurde, der Tunnel, in dem man begann, die gleiche Musik zu machen, die im Leoncavallo gemacht wurde. Und nach und nach begannen die gleichen Gruppen und Posse, die in den Sozialen Zentren spielten, in kommerziellen Lokalen zu spielen, bis sie Sanremo erreichten. Und so leerte sich das Leoncavallo: denn wenn mich die Clubkarte zehntausend Lire kostet und ein einziges Konzert im Leoncavallo siebentausend kostet, gehe ich in den Tunnel und spare Geld, weil ich so viele sehen kann, wie ich will.

Was will ich damit sagen? Dass ich den Eindruck habe, dass die Sozialen Zentren vor allem dadurch gestärkt wurden, dass sie in dem Moment, in dem sie sich dort befanden, bestimmte kulturelle Phänomene noch nicht vollständig subsumiert hatten. Wie eng auch immer, dieser Spielraum hat die Aktivierung eines Teils der Bevölkerung ermöglicht, den die militante Welt sonst vielleicht nicht hätte erfassen können.

Kurz gesagt, eine jugendliche Minderheit (aber eine beträchtliche Minderheit, ich wiederhole), die Bedürfnisse nach Sozialität und Ausdrucksmöglichkeiten äußerte, die nicht befriedigt wurden, verband sich für einige Jahre mit einer militanten Subjektivität, die entweder direkt aus den 1970er Jahren stammte (einige wenige) oder sich in der kapitalistischen Konterrevolution der 1980er Jahre herausbildete (aber, wie wir sehen werden, immer unter Bezugnahme auf das, was vorher geschehen war). In diesem Fall war es diese Kombination aus politischer Subjektivität und sozialer Subjektivität, die zu dieser neuen Organisationsform führte, deren tatsächlicher Lebenszyklus meiner Meinung nach zwischen 1989-1990 und Mitte der 1990er Jahre liegt. Versuchen wir also, ein wenig in die Tiefe zu gehen.

Diese Subjektivität, die sich Ende der 1980er Jahre herausgebildet hat, d. h. meine Generation, welche Art von politischer Subjektivität beschreibt sie? Ich glaube, es handelt sich um eine politische Subjektivität, die mit einem Komplex einhergeht: dem Komplex derjenigen, die zu spät gekommen sind.

Stellen Sie sich vor, Sie sind zu einer Party eingeladen. Sie verwechseln die Zeit und kommen erst an, als sie schon vorbei ist. Auf der einen Seite steht jemand, der pünktlich gekommen ist und Ihnen sagt, dass es eine tolle Party war, dass man viel Spaß hatte, und Sie stehen da und laben sich an den Resten, und auf der anderen Seite jemand, der zu Ihnen sagt: “Da Du jetzt hier bist, räumst Du auf.” Du hattest keinen Spaß und es ist deine Aufgabe, den Dreck wegzuräumen. Die Subjektivität, die sich zu diesem Zeitpunkt herausgebildet hat, erlebte einen sehr ähnlichen Zustand.

Ich übertreibe natürlich. Berücksichtigen Sie, dass man in diesem allgemeinen Überblick, den ich gebe, auf die Besonderheiten der Spaltungen zwischen den Gruppen eingehen könnte, wer das eine tat und wer das andere; aber es bleibt wahr, dass die Unterschiede in der politischen Geografie der 1980er und 1990er Jahre (und später) größtenteils auf die 1970er Jahre zurückgehen. Auch die Auseinandersetzungen und Spannungen sind ein Erbe dessen, was in den vorangegangenen zehn Jahren geschehen war (und nehmen Bezug darauf). Ich möchte an dieser Stelle nicht auf all dies eingehen, denn ich halte es für sinnvoller, das Gesamtbild zu analysieren. Angefangen bei der Tatsache, dass diese Subjektivität, von der ich spreche, eine Subjektivität mit steifem Hals ist, die mehr über die Schulter als vor die Schulter schaut.

Gerade wegen dieses Nachzügler-Komplexes wurde versucht, das, was bereits geschehen war, in Bildern und Identität zu imitieren und zu reproduzieren. Mit – zugegebenermaßen – wenig aufregenden Ergebnissen: denn das eigentliche Phänomen, das man produzierte, war die andere Hälfte der Zusammensetzung. Ich meine, in Bezug auf die Sozialen Zentren lag die wirkliche Neuheit nicht im Überleben und in der Beibehaltung des militanten Rahmens (in den ich mich selbst einordnete), sondern in der anderen Zutat, der Jugend-Zusammensetzung. Eine sehr zweideutige Zusammensetzung, denn sobald sie die Möglichkeit hat, zum Tunnel und nach Sanremo zu gehen, geht sie zum Tunnel und nach Sanremo; aber Zusammensetzungen sind von Natur aus zweideutig. Sie sind nicht von vornherein adressiert, sie können in jede Richtung gehen.

Der Hauptfehler des militanten Korpus scheint mir also darin zu bestehen, dass er zumeist (und es mag welche gegeben haben, die es mehr und welche, die es weniger getan haben, aber das ist mir egal) versucht hat, dieser Zusammensetzung Schlagworte, Praktiken und Vorstellungen anzuheften, die nicht zu ihr gehören. Letzten Endes sind die 1990er Jahre dies. Es ist eine Geschichte, in die Symbologien nicht mehr hineinpassen, mit manchmal grotesken Auswirkungen. Man hat Narben geerbt, für die man keine konkrete Erklärung hat: Um uns zu verstehen, die ganze Sache mit der Abgrenzung hat diese Generation zutiefst geprägt, aber eben auch diejenigen, die persönlich nicht dabei waren. Die Argumentation war rein ideell. Nach und nach führte dieser Prozess zu einer Aphasie gegenüber der Gegenwart und den Veränderungen in der Zusammensetzung der damaligen Zeit.

Es ist kein Zufall, dass, als die Antiglobalisierungsbewegung zwischen Ende ’99 und Genua aufkam, die Sozialen Zentren (die bis dahin nur als militante Repräsentanz verstanden wurden) nicht in der Lage waren, zu erkennen, dass sich die Phase bereits geändert hatte. Die Antiglobalisierungsbewegung markiert bereits eine andere Situation in Bezug auf die aufkommenden Subjektivitäten; und noch mehr während l’Onda, zwischen 2008 und 2010. Während l’Onda wurden tatsächlich organisierte Realitäten aktiviert (wie das Uniriot-Netzwerk), die der Praxis in den verschiedenen Städten, in denen sie präsent waren, eine Richtung geben konnten; gleichzeitig blieb jedoch ein großes Maß an Unverständnis in Bezug auf diese Zusammensetzung.

An diesem Punkt entsteht zum Beispiel eine Zusammensetzung, die die Lexik der Meritokratie zu sprechen beginnt. Worte, die für uns schrecklich sind und die wir in der Lage gewesen wären, zu erklären, warum sie so sind; das Problem ist, dass wir nicht in der Lage waren, die Fähigkeit zu demonstrieren, die Ambivalenz dieser Lexik zu begreifen. Um es brutal auszudrücken: Warum sind diejenigen, die von Meritokratie sprechen, dann bereit, sich auf der Straße mit der Polizei zu prügeln? Weil diese Menschen ohnehin nach Anerkennung streben, aber nicht für die etablierte Ordnung sind, und sich so potenziell fruchtbare Widersprüche auftun. Ich sage “potenziell”: Ich glaube zum Beispiel, dass die Zusammensetzung von l’Onda konkret oder zumindest in Bezug auf den Diskurs die Zusammensetzung ist, aus der in den folgenden Jahren die 5-Sterne-Bewegung entstehen wird, mit all ihren Ambivalenzen, die dieser Schicht der kognitiven Arbeit innewohnen, die keine Entsprechung zwischen dem Bildungsabschluss und der Position auf dem Arbeitsmarkt sieht. Während l’Onda nahm dieser Widerspruch eine konfliktive Wendung; in den folgenden Jahren, in denen diese konfliktive Wendung ausblieb, wurde der Ruf nach der Justiz laut, um den Widerspruch aufzulösen (vielleicht reduziert auf eine Frage der Korruption, die es zu beseitigen gilt), und von dort aus nach der Vertretung.

Nun, um es nicht zu lang werden zu lassen und die Diskussion zu eröffnen, in welcher Phase befinden wir uns? Wir befinden uns in der Phase, die vorhin von den Genossen aus Modena erwähnt wurde, d.h. in einer Phase, in der zu sagen “der Sozialismus der centro sociale ist vorbei” noch nicht viel ist. Der Sozialismus der centro sociale, ich wiederhole es, endete Ende der 1990er Jahre als ein Phänomen eines bestimmten Typs und setzte sich als Selbstreproduktion einer kämpferischen Klasse fort. Natürlich sage ich nicht, dass jeder, der ein Soziales Zentrum betreibt, ein Faulpelz ist oder was auch immer: Man braucht Geld, um Politik zu machen, und man kann es auch auf diese Weise finden. Aber das ist nicht das Problem.

Der springende Punkt ist das Ende des sozialen Zentrums als möglicher Raum der Aggregation und Geselligkeit, der darauf abzielt, eine neue politische Subjektivität hervorzubringen, eine Funktion, die in den wenigen Jahren, von denen wir vorhin sprachen, fortbesteht und dann endet. Was danach bleibt, sind (marginale, ghettoisierte usw.) Clubs oder Räume, in denen ein wenig Geld mit dem Verkauf von Bier verdient wird, durch die aber eine potenziell antagonistische (oder auch nur alternative) soziale Aggregation nicht mehr hindurchgeht. Das ist es, was meiner Meinung nach in späteren Jahren passiert.

Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass dies nicht nur aus politischer Sicht gilt, sondern auch für soziale Zusammenschlüsse insgesamt, wie die Musikszene und künstlerische Ausdrucksformen. Gibt es nach der Posse noch ein anderes Phänomen, das tatsächlich Ausdruck einer sozialen Subjektivität war und nicht schon sofort vermarktet wurde, das nicht schon in einer kommerziellen Logik geboren wurde? Ich fürchte nein, und ich denke, das war das letzte gegenkulturelle Phänomen, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber ich frage Sie, die Sie sich häufig mit Gegenkulturen beschäftigen.

Ich denke dabei zum Beispiel an die Kurven. Ich habe den Eindruck, dass ein tiefgreifender Wandel stattgefunden hat, aber selbst in diesem Fall glaube ich nicht, dass er allein auf die Repression zurückzuführen ist. Die Rolle, die diese Formen der Symbol- und Identitätsproduktion spielen, hat sich verändert. Als wir letztes Jahr sahen, wie die Ultras von Mailand als Ordnungsdienst der Gesellschaft agierten, haben wir gesehen, dass dieses Phänomen (obwohl es immer zweideutig und widersprüchlich war) zu diesem Zeitpunkt bereits seine Funktion verändert hatte. Oder denken wir an die Angelegenheit rund um das Juventus-Stadion, an der ich teilnehme: Es hat sich etwas auf einer tiefgreifenden Ebene verändert, was nicht nur von den Repressionen abhängt (die nach wie vor hart und besorgniserregend sind, um es klar zu sagen). In dem Moment, in dem Juve beschließt, ein hochmodernes Stadion nach amerikanischem Vorbild zu bauen (was ein echter Trend ist, der nicht nur einige Vereine betrifft und andere nicht, und der in der Tat eine Linie vorgibt, der man folgen wird), nun, dann sind die Ultras nicht mehr nützlich. In der Tat, sie werden zu einem Ärgernis. Anstatt sie wie Mailand als Türsteher einzustellen, beschließt Juve 2018, sie loszuwerden und sie wegen krimineller Verschwörung vor Gericht zu stellen und die organisierten Fans von oben aufzulösen. Denn in den Augen der Sportindustriellen sind sie für das Geschäfts- und Wirtschaftsmodell des Unternehmens nicht mehr nützlich. Und wie haben die Ultras reagiert? Wenn man sagt: “Jetzt machen wir einen Fanstreik”, dann verflacht das zu einem privaten Kampf zwischen einer Gruppe und der Gesellschaft, d.h. zwischen einem Unternehmen und einer Gruppe, die nichts mehr mit der gesellschaftlichen Zusammensetzung zu tun hat, die heute in die Stadien geht und lieber die “Machenschaften” von Refrains, die auf einer Anzeigewand diktiert werden, vorzieht.

In Bezug auf all diese Zusammenhänge, die ich erwähnt habe, möchte ich eines betonen: Wir dürfen uns nicht wie einige 5-Sterne-Kandidaten verhalten, die diese Phänomene nur als eine Angelegenheit individueller Korruption lesen. Nicht, weil es keine korrupten und verräterischen Menschen gibt (ja, die gibt es), sondern weil es zu kurz gegriffen wäre zu glauben, dass die von uns analysierten Prozesse auf individuelle Fehler zurückzuführen sind. Wir würden uns von einem Verständnis unserer Begrenzungen, aber auch unseres Reichtums entfernen: Denn bei der Aufarbeitung unserer Erfahrungen finden wir nicht nur gewaltige Niederlagen und Gründe, uns selbst auszupeitschen – sondern auch viele Einsichten, die es einerseits zu schätzen und in der Gegenwart zu überdenken gilt, andererseits aber auch Dinge, die einfach überwunden werden müssen. Und um das zu begreifen, müssen wir begreifen, dass wir über unsere gesamte Geschichte zu sprechen haben.

Die Fähigkeit, eine antagonistische Tradition aufzubauen, ergibt sich nur aus der Intelligenz, das ganze Gepäck der Erfahrung auf sich zu nehmen. Es ist zu bequem, wie die Snobs zu sein, die sagen: “Ich mag die Pariser Kommune”, “Ich mag den Oktober ’17, aber nur in der Nacht der Erstürmung des Winterpalastes”, und sie mögen andere verstreute Dinge, die sie nach einem Reinheitsindex auswählen. Nein, die Fähigkeit, eine eigene Geschichte zu konstruieren und zu erzählen, eine konkrete, parteiische und reiche Geschichte, entsteht nur durch den Mut, alles in einem Block auf sich zu nehmen. Um die Vergangenheit zu würdigen, muss man Größe beanspruchen und die Tragödie als unsere Tragödie analysieren. Es ist nicht nur zu bequem, sondern auch sinnlos, die Guten von den Bösen zu trennen: eine intensive Klassengeschichte wird zu einem Walt-Disney-Witz.

Deshalb möchte ich, obwohl es Aussteiger gab, gibt und geben wird, nicht auf sie hinweisen, denn sie haben die Situation, in der wir uns befinden, sicher nicht geschaffen. Ich wiederhole dies, weil mir einige Analysen manchmal in diese Richtung zu gehen scheinen. Es gibt diejenigen, die Ihre und unsere Prämissen teilen und anerkennen, dass die Sozialen Zentren am Ende sind, aber dann hinzufügen, dass das Problem nur einige bestimmte Persönlichkeiten sind und dass sich die Dinge ändern würden, wenn “das authentische soziale Zentrum” geboren würde. Aber wenn, dann überhaupt! Sie sind wie diejenigen, die vom “echten Sozialismus” sprechen. Ich habe den Begriff ” echt” neben “Sozialismus” nie verstanden. Boh, gab es denn einen ‘unechten’ Sozialismus? Der Sozialismus ist das, was es gibt, er hat eine bestimmte Geschichte, und wenn man sich weiterhin auf eine bestimmte Weise definiert, bleibt man innerhalb dieser Geschichte, es gibt keine andere. Entweder man bricht damit (wie Lenin 1917, der erkannte, dass er sich nicht mehr als Sozialist bezeichnen konnte, und das war’s dann, er hat eine neue Geschichte begonnen), oder man arrangiert sich mit allem, was gewesen ist.

Das Gleiche gilt für die Erfahrungen in unserer näheren Umgebung: Wenn wir den Weg des ‘Sozialismus der centro sociale’ weitergehen, werden wir, glaube ich, aus unserer vermeintlichen Unbeflecktheit heraus nie eine Authentizität erreichen, die sich der Möglichkeit der Korruption durch andere entzieht. Nehmen wir also unsere eigenen Fehler der Vergangenheit an und stellen wir sie fest, um sie zu verstehen, aber haben wir keine Angst vor Diskontinuitäten.

Und in der Tat, wenn ich auf meine eigene Erfahrung und die meiner Generation zurückblicke, muss ich sagen, dass unsere größte Einschränkung darin bestand, Diskontinuität als Sünde zu fürchten. Es ist bequem, dies jetzt zu sagen, aber es geht nicht darum, ich wiederhole, Schuld zuzuweisen: Es geht darum, zu verstehen, was wir lernen können. Wenn die Diskontinuität agiert und eine ganze kollektive Geschichte übernimmt, wird sie zu einem aktiven und nicht zu einem passiven Mechanismus; wenn es andererseits die Diskontinuität ist, die dich agieren lässt, findest du dich vertrieben, unbeweglich wieder. Das gilt auch für das Ende von Zyklen: Man muss es immer vorwegnehmen, man darf nie den Punkt erreichen, an dem es die Phase ist, die einen überholt. Man muss wissen, wie man sich ändern kann, wenn man noch nicht begonnen hat, unterzugehen, denn sonst ist es zu spät. Geschweige denn, sich zu ändern, wenn man bereits verloren hat.

Diskontinuierlich zu handeln bedeutet, den Trend zu erkennen und ihn durch Änderung der Taktik abzuwenden, ohne zu befürchten, dass dies den Verlust einer Identität bedeutet. Denn (so hoffe ich zumindest) unsere Identität hängt nicht von ewigen Symbolen ab.

Symbole, Bilder, Worte, Lieder, Bräuche, Kleidungsstile werden von jeder Generation neu erfunden und weiterentwickelt. Es wäre lächerlich, alte, überholte Dinge zu reproduzieren. Ich meine, wenn wir heute als Rotgardisten verkleidet auf die Straße gingen, wären wir unpassend, wir wären… [jemand im Publikum: “Wir wären Trotzkisten”] [Genau!] Das heißt aber nicht, dass ich die Rotgardisten verleugne, sondern ich erkenne einfach an, dass sich die Bedingungen, unter denen diese Dinge ihre Kommunizierbarkeit gegenüber der potenziellen Anhängerschaft fanden, verändert haben. Natürlich macht es mir auch Spaß, den alten Mann zu erschießen, der sich mit dem Tod abmüht, aber nach einer Weile wird es mir langweilig. Denn ja, der Vorsitzende Mao hatte immer Recht, wenn er sagte, man solle den ertrinkenden Hund schlagen, aber an diesem Punkt können wir auch weitermachen. Wenn wir also den alten Mann dem Tod überlassen haben, sollten wir aufpassen, dass wir nicht wütend werden und ihn weiter kneifen. Vermeiden wir es – um in der Metapher zu bleiben -, zu Nekrophilen zu werden. Welchen politischen Sinn hätte das denn? An einem Abend bei einer Flasche Wein wird gelacht und gescherzt, das ist immer gut, wir würden es vermissen; aber es sollte uns nicht davon ablenken, zu verstehen, was das Neue sein kann.

Bei näherer Betrachtung ist diese Phase in der Tat wichtig und heikel. Zwischen dem Militant-Sein in den Siebzigern und dem Militant-Sein heute gibt es keinen Vergleich: Es ist viel wichtiger, heute militant zu sein. In gewisser Weise war militant sein in den siebziger Jahren das Äquivalent zu, ich weiß nicht, singend in die Falle gehen heute. In dem Sinne, dass man, wenn alle etwas tun, wenn man sich cool fühlen will, es auch tut, und dann geht man hinunter, um zu demonstrieren (ich übertreibe natürlich). Es geht darum, zu verstehen, was es bedeutet, Politik zu machen, wenn man in der absoluten Minderheit ist, denn dann wird es ebenso schwierig wie wichtig. Andernfalls riskiert man entweder einen steifen Hals, wie ich bereits sagte, oder man projiziert seine eigenen Wünsche nach Befreiung und Revolution, nach Kampf und Konflikt, auf weit entfernte und abgelegene Orte: zum Beispiel Rojava.

Ich muss Ihnen das ganz ehrlich sagen. Für Rojava zu sein ist wie YouPorn: Man sublimiert eine Dimension der Hilflosigkeit, indem man sieht, was man nicht tun kann. Ich wiederhole, höchsten Respekt für diejenigen, die für Rojava kämpfen… aber wäre es nicht besser, dort zu kämpfen, wo man ist? Es liegt mir fern, denjenigen, die sich melden, keinen Respekt zu zollen, nicht zuletzt, weil dort Menschen sterben; ich spreche vielmehr von der Faszination derjenigen, die zu Hause bleiben und nicht weggehen. Das scheint mir eine Art und Weise zu sein, nicht zu sehen, wie schwer es ist, hier, am Arbeitsplatz, Mist zu bauen und am nächsten Tag gefeuert zu werden. Es war 1977 in Mailand viel einfacher, einen Stein zu werfen, als zu versuchen, hier und heute organisatorische Prozesse aufzubauen.

Aber wir sollten auch nicht verzweifeln. Wissen Sie, Anfang der 1990er Jahre veröffentlichte ein amerikanischer Neokonservativer, Francis Fukuyama, ein Buch mit dem Titel “Das Ende der Geschichte”, das ein riesiger Verlagserfolg war und zum Wahrzeichen jener Jahre wurde. Was hat Fukuyama gesagt? Dass nach dem Fall der Berliner Mauer und der Sowjetunion der Kapitalismus gesiegt hat; vor allem sagte er, dass dies kein umkehrbarer Sieg ist, sondern ein endgültiger, mit dem die Geschichte endet. Mit dem Sieg des Kapitals könne niemand mehr glauben, dass die Geschichte veränderbar sei. Es kann Innovation geben, aber keine Revolution mehr.

Wenn wir also weiterhin in der Galaxie nach Bewegungen suchen würden, in der Überzeugung, dass hier alles unmöglich geworden ist, würden wir nicht Dinge sagen, die vom Wesen her zu unterschiedlich sind. Denn machen wir uns nichts vor, Momente des Kampfes sind immer die Ausnahme, sie sind immer ein Ausnahmezustand. Die Normalität setzt sich aus simplen Momenten zusammen. Wenn wir die Geschichte betrachten, von den Anfängen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, sehen wir sofort, dass Phasen wie die Kommune, der Oktober, die Räte, die Siebenundsiebzig, Ausnahmen sind, und zwar kurzlebige, in einer Landschaft, die der unseren ähnelt. In der das Alte zu sterben und das Neue zu entstehen kämpft.

Übrigens, ich weiß nicht, ob Sie den Film ‘Der junge Karl Marx’ gesehen haben. Er ist ein bisschen didaktisch, aber nicht schlecht. Nun, es gibt eine Szene, in der Marx Weitling heftig angreift, einen Utopisten, der mit mystischen und leidenschaftlichen Reden, die Hunderte und Aberhunderte von Menschen dazu brachten, ihm zu applaudieren, einen altmodischen Arbeitertyp ansprach, dem des Handwerker des 19. Jahrhunderts. Kurzum, eine Figur von größter Bedeutung. An einem Punkt greift Marx ihn wie eine Furie an. Dann sind seine Frau, Engels und Weitling selbst sprachlos. Was hat sich ein Niemand dabei gedacht, einen Mann anzugreifen, der von einer Schar von Arbeitern umgeben war und verehrt wurde?

Marx greift ihn an, weil er versteht, dass es Zeiten gibt, in denen man Trends erkennen und sich organisieren muss, indem man sich ihnen anpasst, und nicht danach strebt, die Scherben einer fertigen Geschichte zusammenzufügen. Denn wenn man hier eine Marginalität und dort eine Marginalität zusammenfügt, erhält man nur eine größere Marginalität, aber wenig mehr. Wir müssen die Fähigkeit beweisen, aus dem Kult des Marginalen, aus dem “Marginalismus” herauszukommen. Wir zielen auf das Herz, die Mitte, denn nur von dort aus lösen wir zutiefst subversive Prozesse aus.

Wo also setzen Kommunisten in diesen dunklen Phasen an? Erstens bei der Produktion eines Diskurses und eines neuen theoretisch-strategischen Horizonts. Keine Theorie um der Theorie willen und Wissenschaft um der Wissenschaft willen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit: Theorie für die Praxis, die in ihr stattfindet. Und zweitens gehen wir von der Konstruktion von Orten aus, an denen sich eine potenziell antagonistische Subjektivität versammelt. Wie können wir sie uns heute neu vorstellen, Orte der Zusammenkunft nicht für eine bereits politisierte Subjektivität, sondern für eine Subjektivität, deren Politizität implizit ist? Das Politische muss dort gesucht werden, wo es noch nicht gesehen oder ausgedrückt wird, denn wenn wir bei den bereits Politisierten stehen bleiben, finden wir immer nur Leichen.

Schließlich ist die Geschichte der Arbeiterbewegung nichts anderes als ein ständiges Infragestellen dieser Fragen, wobei jedes Mal eine andere Antwort erfunden wird, auf die dort gewartet wird, wo niemand sonst sie vermutet hat.

Wird fortgesetzt…

Veröffentlicht im September 2023 auf Kamo Modena, übersetzt von Bonustracks. Die Bilder und Videos wurden vom Übersetzer hinzugefügt. 

Die radikale Politik der Piraten

“Wir werden die Piraten immer lieben, solange es mächtige Leute gibt, gegen die man sich wehren kann, und solange es Gründe für soziale Gerechtigkeit gibt, für die man kämpfen muss.”

Marcus Rediker

Stellen Sie sich einen Piraten vor. Das Bild, das einem sofort in den Sinn kommt, ist ein Mann mit verschiedenen Behinderungen, mit einem Holzbein, einem Haken als Hand, einer Augenklappe und einem Papagei auf der Schulter. Er ist rau, grob, manchmal humorvoll, manchmal furchterregend. Von Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel bis hin zu Hollywood-Filmen wie Fluch der Karibik hat dieses Bild des Piraten seit Jahrhunderten die amerikanische und zunehmend auch die globale Populärkultur geprägt.

Das Bild ist ein Mythos, aber deswegen nicht weniger mächtig. Wie alle Mythen enthält es ein kleines, aber wesentliches Element der Wahrheit. Die Piraten des “Goldenen Zeitalters”, die zwischen 1660 und 1730 auf hoher See ihr Unwesen trieben, waren fast alle einfache Arbeiter, arme Männer aus der untersten sozialen Schicht, die in die Illegalität abglitten und meist die Narben einer gefährlichen Arbeit davon trugen.

Im Seekrieg jener Zeit sprengten Kanonenkugeln hölzerne Schiffe und verursachten eine Explosion von Splittern und Holzbrocken, die die Seeleute erblinden ließen und ihnen Arme und Beine abtrennten. Matrosen stürzten aus der Takelage, erlitten beim Heben schwerer Ladung Leistenbrüche, steckten sich mit Malaria und anderen schwächenden Krankheiten an und verloren Finger durch rollende Fässer. Viele starben, ihre Leichen wurden in den riesigen graugrünen Friedhof des Atlantiks geworfen. Verkrüppelte Seeleute bildeten die Mehrheit der Bettler in den Hafenstädten der atlantischen Welt.

Der verwüstete Körper des Piraten ist ein Schlüssel zum Verständnis der wahren Geschichte derer, die “unter dem Banner von König Tod” segelten, der berüchtigten schwarzen Flagge, der “Jolly Roger” der Piraten. Gefangen in einer tödlichen Maschine, dem Hochseesegelschiff, kämpften die Seeleute, die zu Piraten wurden, einen erbitterten Kampf ums Überleben. Regelmäßig bei der Arbeit verstümmelt, um ihren Lohn betrogen, mit verdorbenem Proviant gefüttert und von tyrannischen Kapitänen an Deck geprügelt, bauten sich diese seefahrenden Männer (und ein paar Frauen) ein völlig anderes Leben auf einem Piratenschiff auf.

Ein beliebter Satz unter den Piraten lautete: “Ein fröhliches und kurzes Leben”, oder wie ein Mann es ausdrückte: “Lasst uns leben, solange wir können”, mit Freiheit, Würde und Überfluss, was dem einfachen Seemann verwehrt war. Das fröhliche Leben, das auf dem Piratenschiff erfunden wurde, ermöglichte es den Seeleuten, ihren Kapitän und andere Offiziere zu wählen, und das zu einer Zeit, als arme Menschen nirgendwo auf der Welt demokratische Rechte hatten.

Das lustige Leben beinhaltete auch eine Umverteilung von Ressourcen – und Lebenschancen -, die im Vergleich zu den hierarchischen Praktiken der Handelsschifffahrt oder der königlichen Marine verblüffend egalitär war. Die Piraten schufen sogar ein rudimentäres Sozialsystem, indem sie denjenigen, die wegen schlechter Gesundheit oder Verletzungen nicht arbeiten konnten, Anteile an der Beute zukommen ließen.

Die alternative Sozialordnung des Piratenschiffs war umso beeindruckender, als sie von den “Schurken aller Nationen” geschaffen worden war, von Arbeitern vieler Völker und Ethnien, die nach herkömmlicher Auffassung zu ihrer und unserer Zeit nicht zusammenarbeiten sollten. Jedes Piratenschiff konnte englische, irische, griechische, niederländische, französische oder indianische Besatzungsmitglieder haben.

Afrikanische und afroamerikanische Seeleute spielten eine besonders wichtige Rolle, da sie frei und subversiv in karibischen und nordamerikanischen Gewässern in der Nähe der Sklavenplantagen an der Küste segelten, von denen viele von ihnen geflohen waren. Der atlantische maritime Arbeitsmarkt und die Erfahrungen der Seeleute waren längst transnational. Die soziale Zusammensetzung des Piratenschiffs beweist dies ebenso wie der Papagei auf der Schulter des Seeräubers. Er war mit der bunt zusammengewürfelten Mannschaft bis an die exotischen Enden der Welt gesegelt.

Diese Geächteten wussten, dass der Galgen auf sie wartete, aber sie riskierten bereits ihren Hals und starben jung bei ihrer täglichen Arbeit. Sie machten dies durch den Jolly Roger deutlich, der den “Totenkopf”, ein Symbol der Sterblichkeit, benutzte, um die Kapitäne von Beuteschiffen in Angst und Schrecken zu versetzen und sie zur schnellen Kapitulation zu bewegen. (Die meisten Kapitäne verstanden die Botschaft und kamen der Aufforderung nach.) Die Flagge war aber auch ein Zeichen für die Angst der Piraten, ihrerseits überfallen zu werden. Sie übernahmen das Symbol des Todes vom Kapitän, der es in sein Logbuch eintrug, wenn ein Matrose starb. Häufig fügten sie ihrer Flagge eine Waffe hinzu, die ein menschliches Herz durchbohrt, und eine Sanduhr, Symbole für Gewalt und begrenzte Zeit, schreckliche Wahrheiten über ihr eigenes Leben.

Sie sandten auch eine verschlüsselte Botschaft an die Reichen, die wussten, dass das Verb “to roger” kopulieren bedeutet. Die Piratenflagge sagte “fick dich”. Wut und Humor waren die Schlüsselelemente, die diese Gesetzlosen der Meere kennzeichneten: brennende Wut auf die Mächtigen und der Humor von Männern, die die Freiheit der Knechtschaft um jeden Preis vorzogen.

Die tatsächliche Geschichte der Piraterie ist viel tiefgründiger als der Hollywood-Mythos. Die wirklichen Seeleute hissten die schwarze Flagge und schufen ein demokratisches System auf hoher See, eine reisende Bruderschaft von Männern, die zu einem gewaltsamen Ende verdammt waren und die es nicht anders wollten.

Wir werden die Piraten immer lieben, solange es mächtige Leute gibt, denen man widerstehen muss, und solange es Gründe für soziale Gerechtigkeit gibt, für die man kämpfen muss.

Ein bearbeiteter Auszug aus ‘Under the Banner of King Death: Pirates of the Atlantic, A Graphic Novel von David Lester and Marcus Rediker’; Verso Books. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Heating Up: Ein Interview mit Peter Gelderloos über den Klimawandel und den Kampf, alles zu ändern

Von It’s Going Down [IGD)

Dieser Sommer brachte eine weitere Rekordhitzewelle, während durch den Klimawandel verursachte Katastrophen Länder auf der ganzen Welt heimsuchten und Menschen durch Überschwemmungen, Waldbrände und Stürme in Not gerieten. Während diese “neue Normalität” den Klimawandel in den Vordergrund des öffentlichen Bewusstseins gerückt hat, haben wir auch gesehen, wie die extreme Rechte neue Verschwörungen gesponnen hat und die neoliberale Mitte die gleichen müden konsumorientierten Lebensstiländerungen als falsche Lösungen propagiert hat.

In diesem Zusammenhang haben wir uns mit dem langjährigen anarchistischen Autor und Organisator Peter Gelderloos zusammengesetzt, um über die gegenwärtige Situation, den vor uns liegenden Weg für autonome Bewegungen und die harten Realitäten, die vor uns liegen, zu sprechen. (IGD)

IGD: Sie thematisieren den Klimawandel in Ihrem Buch ‘The Solutions Are Already Here’, was halten Sie von der aktuellen Situation, in der wir uns befinden?

Peter Gelderloos: Ich denke, wir befinden uns in einem sehr kritischen Moment, in dem die Mainstream-Stimmen einen Wendepunkt in Bezug auf die jüngsten und wiederkehrenden extremen Wetterereignisse ausmachen, wie den heißesten Sommer der nördlichen Hemisphäre in der aufgezeichneten Geschichte, die schlimmsten Überschwemmungen in der Geschichte Griechenlands nach einem seltenen Tropensturm im Mittelmeerraum, wobei die schweren Regenfälle nur wenige Wochen nach den größten jemals in Europa aufgezeichneten Waldbränden kamen, die erste Tropensturmwarnung in Kalifornien aufgrund eines seltenen pazifischen Hurrikans, die größten Waldbrände in der aufgezeichneten Geschichte im so genannten Kanada…

Ich denke, dies ist ein so kritischer Moment, weil die Art und Weise, wie die Medien, NGOs, Wissenschaftler und Regierungen uns darauf konditionieren, über die Krise zu denken, gleichzeitig eine enorme Lüge und eine enorme Wahrheit ist. Zunächst die Wahrheit: Die Veränderung der Erdatmosphäre ist in unserem Alltag sichtbar, sie tötet Menschen, und sie wird immer schlimmer. Diese Wahrheit ist wichtig, denn sie bedeutet, dass es sich um eine dringende Frage unseres Überlebens handelt – und damit um eine legitime Frage der Selbstverteidigung – und sie bekräftigt, dass wir unseren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen vertrauen können, vorausgesetzt, wir sind tatsächlich in der Welt um uns herum verwurzelt und nehmen sie aufmerksam wahr. Wir können unser tägliches Leben und unsere Erfahrungen in einer Ecke der Welt in ein solidarisches und kohärentes globales Narrativ einpassen.

Die Lüge ist folgende: dass diese Todesfälle beispiellos sind, dass der Klimawandel ein geeigneter Rahmen ist, um diese Todesfälle zu verstehen, und dass wir den aktuellen wissenschaftlichen Modellen vertrauen können, wenn es um Kipppunkte geht, um Vorhersagen darüber, “wann es zu spät ist”, um Kohlenstoffausgleichs- und Emissionsreduktionsprogramme.

IGD: Gab es in diesem Sommer einen Wendepunkt – was auch immer das heißen mag -? Es scheint, dass wir mit der Rekordhitzewelle einen Scheitelpunkt im öffentlichen Bewusstsein erreicht haben. Hat das etwas zu bedeuten?

Peter Gelderloos: Es gab keinen Wendepunkt, und der scheinbare Scheitelpunkt im Bewusstsein war ein Triumph des falschen Bewusstseins. Denn in Wahrheit war es schon längst zu spät. Je nachdem, wohin man in der Welt schaut und welche Lebensformen man zu schätzen weiß, war es vor tausend Jahren zu spät, vor 531 Jahren war es zu spät, vor 101 Jahren war es zu spät, vor 50 Jahren war es zu spät.

Die Wahrheit ist, dass schon seit Jahrzehnten ganze Ökosysteme und viele der Arten, aus denen sie bestehen, völlig zerstört sind, dass schon seit Jahrzehnten jedes Jahr Dutzende von Millionen Menschen an den Folgen dieser umfassenden ökologischen Krise sterben, und dass seit Jahrhunderten die extraktivistischen Gesellschaftsformen, die für die ökologische Krise verantwortlich sind, die Gesellschaftsformen kolonisieren und ausrotten, die sich um ihre Ökosysteme kümmern und die auch dazu neigen, sich gegen die Unterdrückung von Mensch gegen Mensch zu wehren.

Die Wahrheit ist, dass die wissenschaftliche Methode zur Gewinnung von Wissen zwar einen nachweisbaren Wert hat, dass sich aber die Modelle zur Vorhersage von Kipppunkten im Ökosystem und der Geschwindigkeit des Klimawandels als weitgehend unzuverlässig und allgemein konservativ erwiesen haben, so dass dieser spezielle Zweig der Wissenschaft nachweislich zu fehlerhaft ist, um strategisches Gewicht zu haben, wenn wir vor Entscheidungen über Leben und Tod stehen.

Die Wahrheit ist, dass die “Klimakrise” ein Konzept ist, das denjenigen gehört, die versuchen, uns zu ermorden und davon zu profitieren. Das Klima ist nur ein Teil einer größeren und zusammenhängenden Krise, und wenn wir uns nur auf das Klima konzentrieren, werden wir nie die eigentlichen Ursachen und die schlimmsten Formen des Leidens sehen, die es gibt. Diese Krise ist nicht vom Menschen verursacht. Sie ist nicht “anthropogen”. Sie wird von jenen Menschen verursacht, die ihr Leben einem Rahmen von Institutionen überlassen haben, die durch und durch extraktivistisch und unterdrückerisch sind, Institutionen, die die Macht haben, den Rest von uns auf Linie zu zwingen und an ihrer lebensverschlingenden Gesellschaft teilzunehmen, egal ob wir uns entscheiden, Widerstand zu leisten oder wegzusehen. Dieses Konzept bedeutet im Wesentlichen die staatliche Ordnung.

Wie ich in ‘Worshiping Power’ aufgezeigt habe, sind alle Staaten extraktivistisch, und alle Staaten in der Geschichte waren umweltzerstörerisch. Ein gemeinsames Merkmal derjenigen, die den Leviathan reformieren wollen, ob es sich nun um XR-Aktivisten, Klimaforscher, bezahlte NGO-Aktivisten, autoritäre Marxisten oder Krypto-Autoritäre handelt, ist, dass sie versuchen, die Rolle des Staates in dieser Krise zu verbergen oder zu vernachlässigen. Früher haben die Staaten nur regionale ökologische Zusammenbrüche provoziert, was ein wichtiger Antrieb für ihre systematische Hinwendung zur kolonialen Expansion war.

Die extraktivistischen Systeme, die die Staaten repräsentieren, müssen jedoch expandieren oder sterben. Da die Revolutionen, die seit Jahrtausenden Staaten stürzen, nicht in der Lage waren, ein ausreichend globales und systemisches Bewusstsein zu kultivieren, bestand die einzige andere Möglichkeit darin, dass die Staaten ein Weltsystem schaffen. Und das bedeutet, die Möglichkeit einer globalen ökologischen Krise zu erfinden. Der moderne Staat hat im Kapitalismus einen geeigneten Motor gefunden, und er hat eine weltverschlingende Weltanschauung gefunden, die in der Lage ist, die interkontinentale Kolonisierung durch die weiße Vorherrschaft zu organisieren. Auf dem Planeten Erde gibt es keinen Kapitalismus, der nicht kolonial und damit rassistisch ist, es gibt keinen Kapitalismus ohne den Staat, und es gibt keinen Staat, der nicht extraktivistisch und patriarchalisch und damit ökozidal und unterdrückend ist, ein Feind allen Lebens.

IGD: In diesem Sommer gab es sowohl eine Reihe neoliberaler Artikel über “Life-Hacks”, wie man seinen Körper an extreme Temperaturen anpasst, als auch in Griechenland eine Welle der Anti-Migranten-Stimmung, als Brände wüteten und Verschwörungstheorien verbreitet wurden. Wie können wir uns dagegen wehren?

Peter Gelderloos: Es ist unvermeidlich, dass, wenn wir ein falsches Bewusstsein über eine Krise wie diese haben, die hegemonialen Antworten individualistisch sein werden – den Verbraucher mit Geld zu privilegieren, um es ethisch auszugeben, den Bürger mit dem Recht, für bessere Kandidaten zu stimmen, wobei beide die Institutionen wiederbeleben, die diese Krise verursacht haben – oder sie werden Pseudo-Gemeinschaften wie den Nationalstaat fördern, mit ihren künstlichen, blutigen Grenzen und ihren Sündenböcken und Bösewichten, die fast immer reine Erfindungen sind, oder unterdrückte Gruppen von Menschen, gleichzeitig intern und extern, immer zu fremd, um sie zu verstehen, und nah genug, um eine Bedrohung darzustellen.

Glücklicherweise gibt es eine Synthese zwischen Strategien und Zielen, wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind und wissen, womit wir es zu tun haben. Die patriarchalische Gesellschaft und der koloniale Kapitalismus, organisiert durch den Staat, sind der Feind allen Lebens. Sie haben bewiesen, dass wir diesen Planeten nicht mit ihnen teilen können, und das müssen wir auch nicht, denn sie sind keine Lebewesen. Sie sind eine harte Grenze. Nur bis zu dieser Begrenzung ist es möglich, eine Welt zu haben, in die viele Welten passen.

Die größten strategischen Hindernisse für die Zerstörung des Staates sind die beiden Arme des Staates, die Linke und die Rechte (wobei “links” in seinem historischen Sinn zu verstehen ist und nicht in seinem amnesischen anglophonen Unsinn, in dem es angeblich vage, unbestimmte, gute, inkohärente Dinge bedeutet). Verallgemeinernd kann man sagen, dass die Linke die Unterdrückungsstrukturen erneuert, aktualisiert und wiederbelebt und uns schwarze Polizisten, Millionärinnen und recyceltes Toilettenpapier beschert, während die Rechte den Widerstand mit dem Versuch bestraft, ihn zu beseitigen. Wenn man in die schmutzigen Details einsteigt, führt die Linke auch Polizeiarbeit durch, und die Rechte versucht auch, unterdrückerische Strukturen wie den Nationalstaat zu erneuern, aber der Punkt ist, dass beide dem Staat dienen. In Momenten des sozialen Friedens sind sie koordinierter, in Momenten des sozialen Umbruchs wie dem gegenwärtigen sind sie nicht in der Lage, über ihre Alibi-Mythologien hinauszublicken und verdächtigen sich gegenseitig zunehmend, eine Bedrohung für den Leviathan als Ganzes zu sein.

IGD: Wir sehen, dass die Ökosysteme durch das Schmelzen des Eises und andere Anzeichen dafür, dass lebenserhaltende Systeme beeinträchtigt werden, stark betroffen sind – was sehen Sie für die kommenden Jahre, auf die wir uns vorbereiten sollten und die die Situation hier im so genannten Nordamerika beeinflussen werden?

Peter Gelderloos: Diese Frage muss in jeder spezifischen Bioregion mit ihrer spezifischen menschlichen und ökologischen Geschichte beantwortet werden. Die in Nordamerika vorherrschenden konsumorientierten Bewegungsmuster, insbesondere in den Kreisen der Mittelschicht, machen es unmöglich, diese Antworten zu finden. Auch die Unfähigkeit, zuzuhören, macht es unmöglich. Männer und Weiße sind alle darauf sozialisiert, nicht zuzuhören, also müssen wir darauf Wert legen, es zu lernen. Diejenigen, die sich in die westliche Zivilisation eingekauft haben, die zum Beispiel ihre Smartphones mit mehr Respekt behandeln als die Menschen um sie herum, werden niemals in der Lage sein, adäquate, fundierte Antworten auf die Frage des gemeinsamen Überlebens zu finden. Wer sich über die Idee lustig macht, den Zugvögeln, den Wäldern, den Bergen zuzuhören, hat keinen blassen Schimmer und wird nicht einmal in der Lage sein, das echte Gespräch zu finden, das diese Antworten liefert.

Hier ist ein analytisches Werkzeug, das helfen könnte. Was definiert eine Person? Wir sollten bedenken, dass eine Person jedes Wesen ist, mit dem ein Dialog möglich und sinnvoll ist. Daher sind ein Polizist oder ein Millionär, obwohl sie Menschen sind, keine Personen. Der Eichelhäher vor meinem Fenster ist eine Person. Schenken wir den Personen unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge, denn wenn sie Personen sind, können wir eine Welt mit ihnen teilen. Richten wir unsere Wut und unsere zerstörerischen Fähigkeiten auf die Institutionen und ihre treuen Roboter, denn sie werden niemals eine Welt mit uns teilen.

IGD: Die große Klimabewegung verschwindet von der Straße, genau zu einem Zeitpunkt, an dem es am schlimmsten ist. Wie können wir als Anarchisten und Teilnehmer an autonomen Bewegungen vorgehen?

Peter Gelderloos: Das ist auch ein Gespräch, von dem ich denke, dass es in jeder Ecke der Welt stattfinden muss, obwohl ich vermute, dass eine geringere Anzahl von Konzepten erkennbar sein wird als bei dem Gespräch darüber, was jedes einzelne Ökosystem tun muss, um zu überleben und sich anzupassen.

In den letzten zwanzig Jahren haben wir auf allen Kontinenten langjährige Regime gestürzt, wir haben die Polizei besiegt, wir haben dazu beigetragen, dass ein antirassistisches, antikoloniales und ökologisches Bewusstsein vorübergehend zur Norm wurde, und wir haben marginalisierten Gruppen geholfen, mehr Raum zum Überleben, zur Heilung und zur Freude zu gewinnen. (Nicht ein Wir, das ihnen hilft, sondern ein Wir, das sich selbst hilft, und ein anderes Wir, das in Solidarität mit anderen unter uns handelt, die sich selbst helfen). Wir haben Dinge erreicht, die in den zwei Jahrzehnten zuvor unvorstellbar schienen.

Und unsere Welle kraftvoller Rebellionen ging dem wirtschaftlichen Abschwung von 2007/2008 eindeutig voraus. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern und diese Erinnerung weiterzugeben, vor allem, weil die Priester des Materialismus aus ihren wohlverdienten Gräbern auftauchen und versuchen, uns zu sagen, dass wir Objekte sind, die den Berechnungen der globalen Währungssysteme untergeordnet sind, obwohl sie sich als tödlich falsch erwiesen haben, als wir ihnen das letzte Mal vor ein paar Generationen Gehör schenkten. Wir sind nicht diese Objekte. Wir sind Lebewesen, die von zahlreichen sich überschneidenden Unterdrückungssystemen betroffen sind, die sowohl auf quantifizierbare als auch auf nicht quantifizierbare Weise wirken, und wir treffen Entscheidungen, und diese Entscheidungen sind wichtig. Wir sind keine individuellen oder identischen Objekte.

Seit dieser Welle der Rebellion haben wir jedoch an den meisten Orten der Welt an Boden verloren. Wir müssen uns fragen, warum das so ist, und zwar gründlich und ohne Angst vor dem, was wir daraus lernen könnten, und wir müssen diese Lehren weitergeben, denn unser Überleben hängt davon ab.

Ich glaube, dass wir vielerorts feststellen werden, dass wir der Unterdrückung erlegen sind, weil wir die Lektionen früherer Generationen nicht gelernt haben, wie man sie überlebt, und weil wir die Rolle der Fürsorge, der Heilung und des Überlebens nicht so hoch bewertet haben wie die Rolle des Angriffs. Und das sage ich als jemand, der sein Leben damit verbracht hat, unsere Fähigkeit zum Angriff und zur Legitimierung dieser Angriffe aufzubauen, da wir in den 90er und 00er Jahren so friedlich waren. Aber keine unterdrückerische Gesellschaft kann allein durch Negation zerstört werden, und diejenigen, die angreifen, müssen auch wissen, wie sie die Reaktionen auf diese Angriffe überleben können.

An anderen Orten sind wir autoritären Strömungen erlegen, die sich sozialer Bewegungen und Räume der Rebellion bemächtigt haben. (In Wahrheit finden Unterdrückung und Wiederherstellung immer zusammen statt, aber eine von beiden kann vorherrschend sein, eine kann scheitern und die nächste kann erfolgreich sein.) Die repressiven Kräfte des Staates sind immens, und wenn wir ihnen nicht widerstehen können, können wir höchstens unsere Wunden lecken und herausfinden, was wir hätten besser machen können. Wenn Bewegungen und Räume des Widerstands uns jedoch im Stich lassen, ist dies fast immer eine direkte Folge von internen Fehlern, die nicht unvermeidlich waren.

Haben wir Partizipationsnormen aufrechterhalten, die diejenigen begünstigen, die über mehr Ressourcen verfügen – Universitätsabsolventen, Angehörige der Mittelschicht, neurotypische Menschen, Menschen ohne Traumata oder chronische Gesundheitsprobleme, Menschen ohne Kinder oder andere, die sich um sie kümmern müssen, Menschen mit einer Staatsbürgerschaft, weiße Menschen? Haben wir patriarchalische Wertesysteme in Bezug auf Kommunikationsstile reproduziert, in Bezug darauf, welche Formen des Kampfes gefeiert und belohnt werden, welche ignoriert und welche ausgebeutet werden?

Haben wir unsere Geschichte vergessen und unkritische Allianzen mit NGOs und politischen Parteien geschlossen, oder haben wir uns mit der zweckmäßigen Akzeptanz eines Ein-Themen-Fokus, eines reformistischen Rahmens ins Abseits gestellt? Haben wir den großen Fehler des Antifaschismus wiederholt und nur die Rechten als Gefahr gesehen, während wir die Demokratie oder autoritäre Sozialisten verschont haben? Haben wir einen neuen Irrtum des Nihilismus geschaffen, so dass die historisch gültige Kritik des Insurrektionismus in einem erneuten Fetischismus der bewaffneten Gruppen verschwand (ironisch, wenn man bedenkt, auf welchen Kontext die Kritik des Insurrektionismus reagierte).

Haben wir uns von Dogmatismus oder der Architektur sozialer Netzwerke konditionieren lassen und Widerstandsräume geschaffen, die so giftig waren, dass dort nur Tyrannen und Kriecher gedeihen konnten? Haben wir es versäumt, Praktiken des Überlebens, der Heilung, der Transformation und des gegenseitigen Wachstums zu entwickeln, so dass wir nur noch einen Hammer hatten und nur noch Nägel sahen?

Haben wir es versäumt, die Kämpfe dezentral zu verbinden und eine Logik der Solidarität zu verbreiten, die es allen ermöglichte, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen, ohne dass jemand die Kontrolle übernehmen konnte? Haben wir vergessen, Strategien für den Tag danach zu entwickeln, wie wir ein freudiges, sinnvolles Leben verbreiten können, wenn wir alles verbrannt haben? Haben wir die Fähigkeit verloren, uns vorzustellen, etwas anderes zu sein, etwas anderes zu schaffen, anders zu leben?

IGD: Erzählen Sie uns, wie es Ihnen geht – Sie haben kürzlich eine Spendenaktion für Ihre Gesundheit veranstaltet, wie können die Menschen Sie unterstützen?

Peter Gelderloos: Mir geht es abwechselnd furchtbar und wunderbar, was für mich normal ist, da ich bipolar bin. Mein Tumor gilt als unheilbar, aber behandelbar, so dass es aus Sicht der Ärzte darum geht, die Lebenserwartung zu verlängern, ihre Statistiken zu verbessern. Das ist nicht die Art und Weise, wie ich mein Leben und meinen Tod angehen werde.

Ich werde die Unterstützung bekommen, die ich brauche, von mir selbst und von denen, die mir am nächsten stehen. Jeder, der dies liest, weil ich eine Plattform habe, weil ich Bücher schreibe oder was auch immer, möchte ich bitten, über ein paar Dinge nachzudenken. Immer mehr Menschen erkranken an Krebs und anderen tödlichen oder chronischen Krankheiten. Krankheit ist keine individuelle Angelegenheit. Unsere Welt ist krank. Die Menschen verdienen den Raum, den sie brauchen, um zu heilen oder zu sterben, aber die Krankheit selbst kann nicht privat bleiben. Wir müssen unsere Tumore, unsere Entzündungen, unsere Zusammenbrüche, unsere Tränen, unsere Toten mit blutigen Händen tragen und sie vor die Tore des Kapitalismus stellen. Nicht um Entschädigung oder Wiedergutmachung zu fordern, sondern als einzige Erklärung, die wir brauchen, als einziges mögliches Wort der Wahrheit, bevor wir alles niederbrennen, den Leviathan und alle, die ihn verteidigen, anstatt das Leben zu verteidigen.

Das Leid kann nicht hinter diesen metaphorisch verschlossenen Türen bleiben. Diejenigen, die sich um uns kümmern, wenn wir leiden, sind unsere treuesten Genossen. Lernt von ihnen und kümmert euch um sie, verdammt noch mal.

Unterstützen Sie nicht mich, unterstützen Sie uns alle. Dies ist ein kollektives Problem.

Vielleicht könnten wir Kämpfe fördern, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt. Vielleicht könnten wir uns Welten vorstellen, in denen wir tatsächlich gerne leben würden, in denen wir dankbar wären, unseren Körper niederzulegen, wenn unsere Zeit gekommen ist.

Danke, dass Sie diese Website betreiben und all die Arbeit, die Sie für uns alle leisten.

Veröffentlicht am 19. September 2023 auf It’s Going Down, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Erklärung der revolutionären Komitees zum Jahrestag der Jina-Bewegung

Anlässlich des Gedenkens an den revolutionären Aufstand von Jina müssen wir uns einen Moment Zeit nehmen, um über den Weg nachzudenken, den wir gemeinsam zurückgelegt haben, und über die notwendigen Maßnahmen, um unseren Weg fortzusetzen. Eine dieser Maßnahmen ist unsere Rückkehr auf die Straße. Der Jahrestag ist eine Gelegenheit für einen Neuanfang. Die Rückeroberung der Straßen durch Massendemonstrationen ist unbestreitbar mit Hoffnung und dem Versprechen auf einen Sieg verbunden. Diese Hoffnung muss jedoch auf einer klaren Vorstellung davon beruhen, was getan werden muss, um die herrschenden Ungleichheiten zu beseitigen und die Islamische Republik – das derzeitige herrschende Regime – herauszufordern, damit der Sieg in greifbare Nähe rückt; andernfalls würde das Ergebnis nichts anderes sein als eine steigende Zahl von Gefangenen und eine zunehmende Migration.

Als diejenigen, die der Unterdrückung überdrüssig geworden waren, “Frau, Leben, Freiheit” riefen, ertönte dieser Ruf aus den Tiefen einer Gesellschaft, die von extremer Ungleichheit und Unmenschlichkeit geprägt war. Nun gilt es zu klären, wer genau “wir” sind, die diesen leidenschaftlichen Schrei erhoben haben, und am Jahrestag des Volksaufstands von Jina über unseren weiteren Weg nachzudenken. Wir” stehen für die Arbeiter und Unterdrückten, die die schwere Last der Klassenunterschiede tragen; “Wir” verkörpern die “Frauen”, die mit der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu kämpfen haben; “Wir” umfassen die “Queer”-Gemeinschaft, die mit zahlreichen Formen der Unterdrückung konfrontiert ist; “Wir” schließen “die Behinderten” ein, denen ihre Bürgerrechte verweigert werden; “Wir” sind Araber, Kurden, Türken, Belutschen, Loren, Turkmenen und viele andere, die alle unter dem Joch des zentristischen Nationalismus unter verschiedenen Fahnen leiden; und schließlich sind “wir” die Bewohner dieses Landes, die mit der Zerstörung der Natur, der Verwüstung der Wälder, der Austrocknung der Feuchtgebiete und Flüsse usw. zu kämpfen haben.

Für “uns” bedeutet Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustands, in dem die Mehrheit der Arbeiter nicht einmal das Nötigste für ein Leben in Wohlstand und Wohlergehen hat, so dass sie ständig um ihr Überleben und das Recht auf ein würdiges Leben kämpfen muss. Währenddessen steht eine Minderheit, die über großen Reichtum verfügt, einer Veränderung der sozialen Verhältnisse nicht nur gleichgültig gegenüber, sondern ist aktiv bemüht, jede Form von Fortschritt und Entwicklung zu verhindern.

Daher ist es unerlässlich, dass wir uns darüber klar werden, wofür wir bereit sind, Risiken einzugehen und Opfer zu bringen. Der inhärente Wert unserer Bemühungen sollte sich nicht nur darum drehen, dem gegenwärtigen Zustand um jeden Preis zu entkommen. Im Mittelpunkt sollte vielmehr das Bestreben stehen, eine Welt ohne Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung zu schaffen, eine Welt, in der die Vision von Wohlstand, Freiheit und Gleichheit bereits am Horizont auftaucht. Wir müssen uns der Ideale, für die wir kämpfen, und der Art der Welt, die wir uns erträumen, voll bewusst sein.

Erinnern wir uns daran, dass die Studenten im Dezember 2017, als sie ihre Stimme mit dem Ruf “Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, nur die Bildung eines Rates” erhoben, forderten, dass die Verwaltung der Universitäten und ähnlicher Bildungseinrichtungen in die Hände ihrer Kernbestandteile gelegt wird – ein Kollektiv aus “Professoren”, “Studenten” und “Angestellten”.

Als die Arbeiter mitten im Jahr 2018 den Ruf “Brot, Arbeit, Freiheit, Räteverwaltung” erschallen ließen, sprachen sie sich im Wesentlichen für einen Wechsel von den vorherrschenden Formen der “öffentlichen” und “privaten” Verwaltung in diesen “Werkstätten und Fabriken” zu einem von den Arbeitern selbst durch Arbeiterräte geführten System der Leitung aus.

Wenn Lehrer für die “Notwendigkeit einer kostenlosen Bildung” eintreten, unterstreichen sie damit im Wesentlichen die Notwendigkeit, das Paradigma der “Warenförmigkeit der Bildung” zu überwinden und die konkrete Verwirklichung einer zugänglichen und allgemeinen Bildung für alle zu betonen.

Als die Araber von Ahvaz während des Aufstands der Durstigen ihre Stimme erhoben und erklärten: “Wir werden nicht aufgeben, wir werden siegen oder wir werden sterben”, machten sie im Wesentlichen ihr eindeutiges Recht auf “Selbstbestimmung” geltend, losgelöst von den Zwängen der Logik der “ungleichen Entwicklung”.

Wenn Rentner ihren rechtmäßigen Zugang zu angemessenen und ausreichenden “Versicherungs-” und “Renten”-Leistungen einfordern und ihre Unzufriedenheit durch Kundgebungen, Slogans und an unfähige Beamte gerichtete Frustrationsbotschaften zum Ausdruck bringen, dann wollen sie die Verwaltung der “Rentenfonds” selbst in die Hand nehmen.

Diese und zahlreiche andere Beispiele zeigen, welche Alternativen die Menschen anstelle der von der Islamischen Republik auferlegten repressiven Methoden anstreben. Die Islamische Republik stellt im Wesentlichen ein “kapitalistisches, patriarchalisches und zentralistisches System der schiitischen Perser” dar, und wenn ihre einzelnen Bestandteile nicht systematisch demontiert werden, würde ihre Ersetzung durch ein anderes Regime faktisch eine Rückkehr zum bestehenden Status quo bedeuten, mit all den damit verbundenen Härten und Leiden.

Wenn wir auf bestimmte Gruppen und Fraktionen innerhalb der Opposition stoßen, die behaupten, die einzigen Lösungen für die Probleme der Menschen lägen im “Säkularismus”, in der “Herstellung einer Beziehung zu den USA” oder sogar im Streben nach “Leistungsgesellschaft”, wird deutlich, dass diese Gruppen in Wirklichkeit das komplizierte Netz miteinander verbundener Faktoren übersehen, die zu Unterdrückung und Ungleichheit beitragen.

Wenn wir unsere Bereitschaft erklären, alle Facetten von Unterdrückung und Ungleichheit zu bekämpfen, unabhängig davon, welche Gestalt sie annehmen, sei es als “Arbeiter”, “Frauen”, “Queers”, “unterdrückte Nationen”, “Studenten und Schüler” oder als Teil der großen Masse der Unterdrückten und Ausgebeuteten, haben wir die Gesichter der leidenden Individuen vor Augen: die “Kolbar”-Kurdin, die “arabische petrochemische Arbeiterin von Mahshahr”, die “türkische Tagelöhnerin”, die “Bushehri-Kinderbraut”, die “junge balochische Treibstoffträgerin”, die “Lor Shouti”, die “Gilak-Reisbäuerin”, die “afghanische Kinderarbeiterin”, den “Homosexuellen” und jeden verarmten Arbeiter, der um einen Happen Lebensunterhalt kämpft. Aus unserer Sicht wird es also nur dann zu einer echten “Veränderung des Status quo” kommen, wenn diese Mitglieder der Gesellschaft und der sozialen Klassen aus dem Sumpf von Armut und Hunger befreit werden und zu Wohlstand und Gleichheit gelangen. Eine solche Veränderung kann nur durch unsere eigenen konzertierten Bemühungen erreicht werden, durch die Einrichtung von “Komitees”, “Zellen” und “Arbeitsplatzorganisationen”, die ein Netzwerk von miteinander verbundenen, landesweiten “Organisationen” bilden.

Für uns geht Demokratie über die bloßen Grenzen von “Wahlurnen” und “gewählten Vertretern” hinaus, die anfällig für Lobbyismus und Korruption sind. Wir streben die größtmögliche Beteiligung der Menschen an der Gestaltung unseres kollektiven Schicksals an, und um diesen Gipfel der Partizipation zu erreichen, ist es notwendig, das “Privateigentum an Produktions- und Reproduktionsmitteln, Ressourcen, Bergwerken usw.” abzuschaffen, die “Vergesellschaftung der Hausarbeit” einzuführen und eine “kollektive und rätegestützte Verwaltung” von Produktions- und Dienstleistungsbetrieben einzuführen, die sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Mehrheit der Gesellschaft orientiert.

Wir konnten beobachten, dass bei “Überschwemmungen” und “Erdbeben” die Menschen selbst, besser organisiert und effizienter als die staatlichen Stellen, den Opfern dieser Naturkatastrophen schnell zu Hilfe kamen und sie unterstützten. Umgekehrt haben wir beobachtet, wie die Regierungen ihre Bürger oft im Stich gelassen haben und manchmal sogar geplündert haben, anstatt Hilfe zu leisten.

Wir treten dafür ein, dass Werkstätten und Fabriken von den Arbeitern selbst verwaltet werden, landwirtschaftliche Flächen von den Landwirten, Krankenhäuser unter aktiver Beteiligung von Krankenschwestern, Ärzten und Patienten in Absprache verwaltet werden, Schulen von Lehrern und Schülern gemeinsam geleitet werden, Universitäten von Studenten, Professoren und Angestellten gemeinsam verwaltet werden, Büros von Angestellten in Zusammenarbeit mit ihren gewählten Vertretern geleitet werden und Wohngebiete von den Bewohnern dieser Orte verwaltet werden.

Die Demokratie, die dafür plädiert, die Verwaltung der Angelegenheiten ausschließlich den so genannten gewählten Experten und Politikern durch Ernennungen anzuvertrauen, ist im Grunde eine trügerische Form der Demokratie, die schnell in Lobbyismus und verdeckte Diktatur umschlagen kann.

Deshalb schlagen wir neben dem Slogan “Frau, Leben, Freiheit” auch den Slogan “Brot, Arbeit, Freiheit, Räteverwaltung” vor, um uns gegen die Instrumentalisierung des Begriffs “Freiheit” durch verschiedene rechte und prowestliche Kräfte zu schützen.

Wir fordern alle Arbeiter, Frauen, Bauern, unterdrückten Nationen und die LGBTQI+-Gemeinschaft, die für Freiheit, Gerechtigkeit und die Einrichtung der Räteverwaltung kämpfen, auf, sich im Kampf für Brot und Freiheit gegen unseren gemeinsamen Feind zu vereinen und eine Fehlinterpretation der Revolution als bloßer Regimewechsel zu vermeiden. In der Tat geht es bei der Revolution um den Aufbau einer grundlegend veränderten Gesellschaft, die eine Alternative zu den derzeitigen prekären und unterdrückerischen Verhältnissen darstellt und danach strebt, diese zu übertreffen. Unsere Vision ist der Aufbau einer Gesellschaft, in der die Produktion nicht durch das Profitstreben einiger weniger Privilegierter, sondern durch die kollektiven Bedürfnisse der Gemeinschaft bestimmt wird. Wir setzen uns dafür ein, dass in unserer Gesellschaft Freiheit und Gleichheit gleichzeitig herrschen, indem wir die uneingeschränkte und allgemeine Meinungsfreiheit, die Abschaffung der Todesstrafe und im Wesentlichen eine freie und sozialistische Gesellschaft gewährleisten, in der jeder Einzelne entsprechend seinen Fähigkeiten beiträgt und entsprechend seinen Bedürfnissen unterstützt wird.

Wir müssen wachsam bleiben und uns bewusst sein, dass mit dem Sturz der Islamischen Republik eine neue Revolution beginnt. Wir müssen kontinuierlich und organisiert auf die Straße gehen, um unser eigenes Schicksal aktiv zu gestalten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir nicht zulassen, dass Politiker und Kapitalisten uns erneut unter dem Vorwand einer auf der Wahlurne basierenden Demokratie unter verschiedenen Namen wie “Verfassungsgebende Versammlung” usw. beherrschen.

Für uns ist die Revolution eine fortwährende Reise, und die Notwendigkeit von Veränderungen wird so lange bestehen, wie Arbeiter, Frauen und unterdrückte Nationen sich weiterhin dem Kapitalismus, dem Patriarchat und der Machtkonzentration widersetzen. Sie bleiben standhaft in ihrem Bestreben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten.

Revolutionäre Jugend der Stadtteile von Sanandaj

Revolutionäres Komitee Gilan

Javad Nazari Fatahabadi Komitee

Das Rote Revolutionäre Jugendkomitee von Mahabad

Jian-Gruppe

Revolutionärer Jugend-Kern von Zahedan

Diese Erklärung wurde auf Englisch auf Slingers Collective veröffentlicht und von Bonustracks in Deutsche übersetzt.

Überflutete Erinnerung: Demonstrieren, Experimentieren [Chile]

Gabriel Bravo Soto

Ethische Wahrheiten sind also keine Wahrheiten über die Welt, sondern die Wahrheiten, auf deren Grundlage wir in ihr leben. Es sind Wahrheiten, Behauptungen, ausgesprochen oder verschwiegen, die erlebt, aber nicht nachgewiesen werden. Der schweigsame Blick des kleinen Anführers mit den geballten Fäusten, der ihn eine lange Minute lang mustert, ist eine davon, ebenso wie das donnernde “Man hat immer das Recht zu rebellieren”. 

Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde

Im Bereich der Politik wollen sowohl die Linke als auch die Rechte vorführen, das letzte Wort zu haben, die überzeugendste Interpretation und die Erklärung zu geben, die es am besten schafft, den gegnerischen Diskurs zu begraben, hoffentlich für immer, indem sie ihre jeweilige und vermeintliche moralische Überlegenheit zeigen, während sie gleichzeitig den nationalen Diskurs zu einer geschlossenen Gesamtheit homogenisieren. Allende hier, Pinochet dort; Demokratie, Diktatur, ob zu verurteilen oder nicht zu verurteilen, die Gesetze, die Verfassung, dass sie es begonnen haben, dass sie es fortgesetzt haben. Reiner Schlamm. Purer Morast. Reine Ohnmacht hier und dort. Wenn in früheren Jahren die gegenseitigen Wutanfälle und die wiederholten Vorwürfe bis zur Erschöpfung das Stärkungsmittel waren, so ist es heutzutage mit größerer Schärfe, Morbidität und Einbildung. Es ist der 50. Jahrestag einer der blutigsten bürgerlichen Offensiven in Lateinamerika, und natürlich gibt es in der politischen Sphäre einen Streit der Interpretationen, und jeder krakeelt für die Demokratie und die Verurteilung der Exzesse unter der Prämisse der heuchlerischen und angeblichen Verteidigung der Menschenrechte. 

Dass in diesem Land gefoltert, gemordet und vergewaltigt wurde, ist etwas Offensichtliches, das nur die verdrehte Denkweise der Rechten zu rechtfertigen vermag und die symptomatische Feigheit der Linken statisch zu monumentalisieren vermag. Dass heute politische Konglomerate wie Chile Vamos gemeinsame Erklärungen abgeben, um über den Untergang der Demokratie im Jahr 73 nachzudenken (ohne Worte wie “Staatsstreich” oder “Menschenrechtsverletzungen” zu verwenden), oder dass Gabriel Boric sich mit Sebastián Piñera trifft, um Lehren für die nächsten 50 Jahre auszutauschen, kann nur ein Hohn, eine Verhöhnung und eine Verachtung des Gedächtnisses sein, das im Gegensatz zum staatlichen und musealen Gedächtnis aus Blut, Nerven und Fleisch besteht und (Wieder-)Empfindungen durchflutet wird. 

Dieses überflutete Gedächtnis artikuliert in gewisser Weise das, was wir als ein marginales, volkstümliches und kämpferisches Gedächtnis verstehen können. Die überschwemmte Erinnerung zeugt zwar von der Brutalität, den Exzessen, der Feigheit und der Rücksichtslosigkeit des Regimes, geht aber streng genommen über die Bezeugung hinaus; ihre katalysierende und zukunftsweisende Kraft liegt in ihrer Fähigkeit zur Erfahrung, und zwar gerade deshalb, weil sie generationenübergreifend ist und weil die Folgen noch leibhaftig gelebt werden. Die überschwemmte Erinnerung beschränkt sich also nicht nur auf die Menschen, die die Diktatur erlebt haben, sondern erstreckt sich auch auf diejenigen, die danach kamen und kommen.

Das überschwemmte Gedächtnis hat weniger mit dem Quantitativen und weniger mit den genauen Zahlen der bürgerlichen Umfragen zu tun als mit dem Qualitativen, d.h. mit dem Ausmaß und der Tiefe, mit der Geschichte im Alltag erlebt wird. Und Tatsache ist, dass wir, die Kinder und Enkel der Diktatur, heute alle Folgen der globalen Konterrevolution des vorigen Jahrhunderts in allen Dimensionen des Daseins erleben, durch Drogen, Fernsehmüll, Schulbildung, allgemeine soziale Betäubung und die langweiligen Lebensprojekte, auf die wir setzen können. Wir sind ein Produkt unserer Zeit, und unsere Zeit ist gekennzeichnet durch zerbrochene Kompasse, durch die Herrschaft der Sinnlosigkeit, durch die Vernichtung der Umwelt, durch eine allumfassende Leere, durch den Zusammenbruch von allem um uns herum und durch den Zusammenbruch unserer Lebensformen.

Die gegenwärtige Situation ist keineswegs einfach, und angesichts dessen weigert sich die überflutete Erinnerung, zu verschwinden, was sich im Schrei der Mütter ausdrückt, die wissen wollen, wo ihre Kinder sind, im Kampf der Organisationen gegen die Straflosigkeit, in der Suche nach den politisch Verantwortlichen sowie in der Solidarität mit den kämpferischen Gefangenen von gestern und heute, in den Worten von Genossinnen und Genossen wie Luisa Toledo, in den Straßenkämpfen an den Schulen und Universitäten, in der territorialen Organisierung in verschiedenen Teilen des Landes, in den selbstgebastelten Waffen, mit denen die Polizei in den Gassen der Städte zurückgeschlagen wird, und kürzlich in der sozialen Revolte von 2019. Blut, Nerven, Fleisch und (wiederkehrende) Empfindungen.

Ohne Angst, ungenau zu sein, ist das überflutete Gedächtnis in gewisser Weise das Gedächtnis des Widerstands. Es hat Verbindungsfäden mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, aber nicht in einem linearen Format, sondern eher in einem spiralförmigen Format, wie die Rüssel der Schmetterlinge. (1) Deshalb ist die Vergangenheit noch da und die Zukunft nicht völlig versperrt, zur Schande der Leugner, Konservativen und Reaktionäre. Es gibt etwas in der Gegenwart, das weiter in die Zukunft, in das Neue drängt und sich nicht damit abfindet, zu verschwinden. Dieses “Etwas” ist gewissermaßen der Inhalt, der sich in der überfluteten Erinnerung an das Gestern und das Heute ausdrückt und der letztlich die Aufstände unserer Zeit katalysiert. In dieser Erinnerung steckt viel Leid, das unseren sensiblen und ständigen Kampf gegen das Vergessen aufrechterhält. 

Diesem kollektiven und generationenübergreifenden Leiden liegen ethische Wahrheiten zugrunde, die über politische Wahrheiten hinausgehen, die lediglich demonstrativ, demokratisch und moralisch korrekt sind. Ethische Wahrheiten sind jene, die uns schreien, weinen, beim Tod eines Mitmenschen erschaudern lassen, eine ganze Stadt in Brand setzen, wenn es das rechtfertigt. Auf der politischen Ebene bedarf es keiner politischen Demonstration, sondern einer gemeinsamen Erfahrung auf der sensiblen Ebene. Politische Wahrheiten hingegen sind eine andere Sache. Dass die UP-Regierung durch eine Militärintervention mit Hilfe der USA gestürzt wurde (nennen wir es einen “Putsch” oder eine militärische ” Proklamation”), ist bereits bewiesen, es ist politisch wahr, und im Hinblick auf diese Tatsache dreht sich die spektakuläre Auseinandersetzung auf der politischen Ebene um die “Vermeidbarkeit” und die “Unvermeidbarkeit”, die Verfassungsmäßigkeit und die Verfassungswidrigkeit von Allendes Projekt in institutioneller Hinsicht.

Außerhalb der Politik wird jedoch wenig oder gar nicht über die immobilisierende Arbeit nachgedacht, die Allende während seiner gesamten Regierungszeit geleistet hat und die schließlich den Weg für den nachfolgenden Staatsstreich ebnete. Es genügt, an die Verabschiedung des Waffenkontrollgesetzes, den Plan Millas zur Rückgabe der Unternehmen, die Versöhnungen mit der Opposition, die Unterdrückung und Kontrolle der kämpferischsten und bewusstesten Sektoren des Proletariats und die unmittelbare Verantwortung für das anschließende Massaker und die Zerschlagung der “bewusstesten Arbeiterklasse Lateinamerikas” zu erinnern, wie das Provinziale Koordinationskomitee der Industriesektoren in seinem Brief an den Präsidenten vom 5. September 1973 betonte.

Es handelte sich nicht nur um einen Mann, dessen hehre Pläne zur Umgestaltung vereitelt wurden. Und dies ist ein besonders heikles Thema für einen Teil der Gesellschaft, der in dem “Genossen Präsident” ein Idol, einen Märtyrer, einen gütigen und gutherzigen Mann sieht, der sich seinen Idealen von Gerechtigkeit und Gleichheit verschrieben hat. So sehr, dass Allende im Bereich der nationalen Kultur eine autochthone Persönlichkeit darstellt, die in gewisser Weise bestimmte Komponenten des “Chilenischen” in sich vereint (wie Violeta Parra, Gabriela Mistral, Víctor Jara, u.a.). Auf der internationalen Bühne ist er eine Führungspersönlichkeit, eine Referenz, ein Mensch “besonderer Art”, so wie der “chilenische Weg zum Sozialismus” in den sozialistischen Versuchen der Welt etwas Besonderes war. 

Daraus ergibt sich, dass das zeitgenössische überflutete Gedächtnis, wenn es fortbestehen und kohärent sein will, die grundlegende Aufgabe hat, eine kritische Bestandsaufnahme der Vergangenheit vorzunehmen und die goldenen Kälber zu entmystifizieren, damit seine Kraft aus Blut, Nerven, Fleisch und (Wieder-)Empfindungen nicht in der Politik endet, einem Terrain, auf dem es immer verlieren wird, sondern sich als eine echte Kraft für die Zukunft konfiguriert, die es schafft, die Wurzeln dieser eingekapselten Gegenwart aufzubrechen, die unfähig zu sein scheint, sich selbst zu verändern. Dazu ist es notwendig, sich von den Altlasten der Geschichte zu befreien, von denjenigen, deren Last noch immer auf unserem Gewissen lastet und die uns daran hindern, über den aktuellen Scheideweg hinauszugehen. Allende ist einer von ihnen. Und Allende muss überwunden werden. Kurz gesagt, es geht darum, die Revolution wieder in den Mittelpunkt zu stellen, wobei wir von vornherein davon ausgehen, dass ihre Bedeutung nicht dieselbe ist und sein kann wie in der Ära der UP und der sie umgebenden leninistischen Linken.

Dieselbe leninistische und nostalgische Linke, die sich um Allende und die UP schart, scheint heute die Existenz eines Konzepts zu ignorieren, das gerade deshalb entstanden ist, um die gegenwärtige Unmöglichkeit zu erklären, revolutionäre Projekte zu verwirklichen, zumindest unter demselben Prisma wie im letzten Jahrhundert. Trotz seines “europäischen” Ursprungs gelingt es dem Begriff des Programmatismus, (2) den Kampfhorizont zu definieren, den die Revolutionen der Vergangenheit während des gesamten 20. Jahrhunderts hatten, die sich dadurch auszeichneten, dass sie sich 1) in einem bestimmten Raum entfalteten: der Arbeiterbewegung, die heute nicht mehr existiert, 2) von einer Avantgarde von Berufsrevolutionären angeführt wurden, die das Proletariat zum Kommunismus führen sollten, 3) die politisierte Perspektive der Machtergreifung hatten und 4) eine Periode des Übergangs einleiteten.

Auf globaler Ebene markierten die 1970er Jahre das Ende der einen und den Beginn der anderen Periode, die die kommenden Kämpfe prägte und das programmatische Format der Revolution obsolet werden ließ. Mit den jeweiligen Unterschieden und Besonderheiten in jedem Winkel der Welt kann diese Periode unter dem Begriff der “realen Subsumtion” verstanden werden, d. h. dem Moment, in dem das Kapital als zerstörerische, autonome, selbstzerstörerische und expansive Kraft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beherrscht. Von da an sieht sich das Proletariat mit neuen Sackgassen, Scheidewegen und Herausforderungen konfrontiert.

In den Zeiten der UP konnte das Bewusstsein nicht klar genug sein, dass der Staat keine Sache ist, die nach dem Gutdünken des Herrschers eingesetzt werden kann. Unseren Vorfahren auf der Grundlage der Lehren, die wir heute gezogen haben, Vorwürfe zu machen, ist unsinnig. In unserer heutigen Zeit gibt es keine Trennung oder Opposition zwischen Staat und Kapital, denn der Staat ist der Staat des Kapitals. Sie sind aufs Engste miteinander verwoben. Die Revolution unserer Zeit muss etwas völlig anderes sein als die staatliche Verwaltung des Kapitals: eher ein Prozess als ein Ende, eher ein Experiment als eine Demonstration, eher eine zentrifugale als eine zentripetale Kraft. 

Das Feld der Politik erscheint uns heute als unzureichend für eine gesellschaftliche Erlösung von den Schrecken der Vergangenheit. Das zeigen die Rechten und die Linken mit ihrem grotesken und erbärmlichen Schauspiel. Die überflutete Erinnerung muss Blut, Fleisch, Nerven und (wiederkehrendes) Gefühl zu den Stellschrauben machen, die an der Realität weiter drehen. Es ist auch notwendig, die notwendigen und ausreichenden Materialien zu sammeln, um eine revolutionäre Perspektive für unsere Zeit zu entwerfen. Diese Perspektive, die sich auf das Erbe und die kämpferische Erfahrung unserer Klasse stützt, kann sich nicht damit begnügen, nur politisch zu sein, auch nicht damit, antidiktatorisch zu sein, geschweige denn demokratisch. Diese Perspektive, die im Laufe der Jahre mit Sauerstoff angereichert wurde und Orte, Ausdrucksformen und Generationswechsel gefunden hat, konfiguriert sich in der Gegenwart und nimmt die Zukunft in den Beiträgen einer Gruppe von marginalen und wenig bekannten Initiativen vorweg, die nicht die Regale der bürgerlichen Buchhandlungen füllen und nicht in den Fernsehdebatten präsent sind: PointBlank! Helios Prieto, Correo Proletario, Mike Gonzalez, Carlota Vallebona und die verschiedenen theoretischen Produktionen von GenossInnen im ganzen Land, die sich aus Experimenten und aktuellen Kämpfen speisen. 

Diese Perspektive von Gegenwart und Zukunft muss also ein Gedächtnis schaffen, aber kein statisches und monumentales Gedächtnis, sondern ein Gedächtnis, das uns erlaubt, unsere Vergangenheit zu verstehen und die Poesie der Zukunft für die Kämpfe der Gegenwart zu gewinnen. Und genau das tut das offizielle Gedächtnis, das stets die nationale Einheit anstrebt, nicht. In diesem Zusammenhang fragen wir uns: Gibt es eine Möglichkeit des Konsenses? Ist es möglich, diese so zerrissene Gesellschaft zu harmonisieren? Warum und wie? Wie lange ist es möglich, mit diesem sinnlosen Schein weiterzumachen? 

Die Zeit läuft ab; Zeit ist relativ. Für den Einzelnen mögen 50 Jahre eine lange Zeit sein, aber für die Geschichte ist es noch nichts. Heute, 50 Jahre nach der Offensive der Bourgeoisie in Chile, ist es notwendig, erneut zu experimentieren, den Alltag zum Schlachtfeld unseres Kampfes zu machen. Nie wieder ohne uns. Nie wieder gegen uns. Und “damit nie wieder in Chile” unsere Klasse auf überholte politische Revolutionen vertraut, auf diejenigen, die vorgeben, uns zu führen und zu befreien. Heute, 50 Jahre später, sind einige Phrasen der Synthese weiterhin zu hören: 

“Diejenigen, die halbherzige Revolutionen machen, schaufeln ihr eigenes Grab”; Saint Simon. 

“Wenn wir nicht das Unmögliche tun, werden wir uns dem Undenkbaren stellen müssen”; Murray Bookchin

Weder Vergeben, noch Vergessen, noch Versöhnung

Freiheit für die Gefangenen 

Nichts und niemand ist vergessen

Fussnoten der dt Übersetzung 

  1. „Espiritrompa(s)“ im Original, siehe den Film “La lengua de las mariposas” https://de.wikipedia.org/wiki/La_lengua_de_las_mariposas
  1. Siehe dazu auch https://endnotes.org.uk/translations/endnotes-theorie-communiste-und-troploin

Veröffentlicht im Original am 11. September 2023 zum 50. Jahrestag des Putsches in Chile, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Umweltschützer oder Hypervernetzte?

Anselm Jappe

Bei großen und kleinen Treffen von Umweltschützern auf der ganzen Welt kann man oft dieses seltsame Ritual beobachten: Wenn es darum geht, über organisatorische Angelegenheiten zu sprechen, bei denen man auch Fragen diskutieren kann, die Diskretion erfordern, wird man aufgefordert, sein Mobiltelefon auf einem Tisch, einige Meter von der Versammlung entfernt, liegen zu lassen. Danach rücken die Aktivisten so nah wie möglich zusammen, um Informationen fast im Flüsterton auszutauschen. Es ist bekannt, dass Smartphones in zwei Richtungen funktionieren und, ohne dass ihre Besitzer es wissen, Informationen an neugierige Ohren weitergeben können.

Die Aktivisten berauben sich dann für eine Viertelstunde ihrer Geräte – zweifellos unnötig, da es Spionagegeräte gibt, die aus der Ferne mithören können (ganz zu schweigen davon, dass es höchstwahrscheinlich Spitzel unter den Aktivisten gibt – aber auch das ist ein Thema, über das in der Bewegung selten gesprochen wird).

Dieses Ritual stellt einen etwas unbeholfenen Kompromiss dar: Wir wissen sehr wohl, dass wir es schaffen sollten, nicht ständig vernetzt zu sein, aber wir schaffen es nur von Zeit zu Zeit, für eine Viertelstunde, und aus Gründen der “Sicherheit” – über die man wegen gewisser “Pfadfindermanieren” auch ein wenig schmunzeln muss. Aber gerade ökologisch sensible Menschen sollten sich vor der digitalen Welt in Acht nehmen und ihre Nutzung so weit wie möglich einschränken.

Auch auf die Gefahr hin, Argumente zu wiederholen, die jeder Umweltschützer auswendig kennen und verbreiten sollte, sei an dieser Stelle an einige “Grundweisheiten” erinnert:

Die Nutzung des Internets verursacht einen hohen (vor allem fossilen) Energieverbrauch: Er macht derzeit weltweit 15 Prozent aus, nimmt aber stark zu und wird in einigen Jahren noch viel größer sein. (1) Sein Beitrag zur “globalen Erwärmung” ist bekannt. Netze mögen zwar “immateriell” sein, aber sie beruhen immer noch auf sehr materiellen Strukturen wie Rechenzentren, Kabeln, Computern und Telefonen. Den “Übergang” zu einer immer stärkeren Nutzung dieser Geräte als “ökologische” Lösung darzustellen, ist eine Illusion oder ein Schwindel, ebenso wie der Vorschlag – im Stil der deutschen Grünen in der Regierung -, so viel wie möglich smartes Arbeiten zu nutzen, und sich sogar dafür zu feiern, dass die Covid-Pandemie wesentlich zum Wachstum dieser Arbeitsweise beigetragen hat. Dabei wird vergessen, dass Internet und Mobiltelefone nur dank des Abbaus von Rohstoffen, ihrer Herstellung und der Abfallentsorgung existieren, die ausnahmslos unter entsetzlichen Bedingungen im globalen Süden stattfinden. Aber dieselben Menschen, die nur Kaffee trinken und Hemden tragen, die aus dem “Öko”-Handel stammen, zeigen in der Regel wenig Sensibilität für bestimmte Themen, vielleicht weil sie wissen, dass sie dort nur wenige “faire und nachhaltige” Produkte finden werden und dann ganz darauf verzichten müssten, wenn sie konsequent wären.

Erinnern wir uns daran, dass elektromagnetische Wellen schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben und dass man nirgendwo mehr vor ihrer Strahlung sicher ist.

Zweitens geht die ökologische Sensibilität im Allgemeinen mit einer gewissen Sensibilität für die öffentlichen und privaten Freiheiten einher (auch wenn in bestimmten Kreisen die Versuchung groß ist, autoritäre Methoden vorzuschlagen, um die ökologische Krise zumindest teilweise zu lösen, sei es durch intelligente Städte, durch die kapillare Überwachung des Verhaltens der Bevölkerung oder durch echte “Ökodiktaturen”). Es ist also nicht nötig, daran zu erinnern, dass nichts heutzutage die Freiheiten eines jeden so sehr bedroht wie die Möglichkeit, die Worte und Bewegungen einer Person über ein “vernetztes” Gerät zu verfolgen, sei es ein Telefon oder eine Kreditkarte, der Stromverbrauch (“Linky”-Zähler) (2) oder eine TV-Serie, ein Zugticket, selbst wenn es an einem Automaten gekauft wurde, oder der Einkauf im Supermarkt. Wir erleben bereits einen Grad der Überwachung, der in vielerlei Hinsicht den von Orwell in seinem Buch 1984 beschriebenen übertrifft, wo es noch möglich war, sich aus dem Blickfeld des Bildschirms zu bewegen. Und wenn man bedenkt, dass alles, was in diesem Bereich möglich ist, auch gemacht wird, kann man sicher sein, dass Überwachungssysteme, wie sie in China bereits im Einsatz sind, einschließlich der Gesichtserkennung (wir werden bei den nächsten Olympischen Spielen 2024 in Paris einige beeindruckende Dinge sehen …),  wird auch in Europa bald normal sein. Wir stehen auf allen Ebenen unter dem permanenten Druck, nur noch in der digitalen Welt zu leben – wer kein Handy hat, kann praktisch nicht leben. Für das Kapital und den Staat hat die totale Digitalisierung eindeutig oberste Priorität, der sich nichts entziehen darf: Grund genug, sich ihr zu widersetzen.

Darüber hinaus bedeutet Ökologie die Verteidigung der Natur gegenüber der technologischen Aggression – also eine Kritik an der zunehmenden Künstlichkeit der Existenz. Es ist nicht zu übersehen, dass wir, je digitaler wir werden, immer weniger direkten Bezug zu anderen Menschen oder zur Natur haben.

Das sind alles Dinge, die man sich merken muss. Wenn man einen militanten Umweltschützer an sie erinnert, wird er sie bereitwillig zugeben. Aber sie in die Praxis umzusetzen ist eine ganz andere Sache. Es wird oft betont, dass die Gründe, die sowohl von den Bürgern als auch von den Machthabern angeführt werden, um rasche Veränderungen für unmöglich zu erklären (Ausstieg aus dem Autofahren, Abschaffung von Pestiziden, Verringerung des Fleischkonsums, Abschaffung der Jagd, Verbot von Nitriten, drastische Verringerung des Flugverkehrs usw.), unzutreffend sind und bestenfalls von Faulheit, wenn nicht gar von Sabotage und dem Willen, nichts zu ändern, bestimmt sind. Aber dieselben Umweltschützer, von denen diese gerechte Kritik kommt, erklären vorschnell, dass das Internet die Organisation des kämpferischen Lebens und die Verbreitung von Informationen so sehr erleichtert, dass es undenkbar ist, ohne es auszukommen. Ein Argument, das viele irritiert, die es vorziehen, die Diskussion schnell auf andere Themen zu lenken. Nur ein Aspekt bleibt im Gedächtnis haften: die Angst, abgehört zu werden. Doch die technische Lösung steht bereit: “ultra-sichere” Anwendungen, weil sie “Ende-zu-Ende” verschlüsselt sind. Jeder Kämpfer muss ein Experte werden und auf die Zuverlässigkeit von Protonmail, Telegram oder Signal schwören. 

Es ist ein Jammer, dass Protonmail im Jahr 2021 Informationen über einige Klimaaktivisten an die Polizei weitergegeben hat (Numerama, 6/9/21). Es ist also absolut sicher, dass die Polizei jeden Anbieter zwingen kann, alle Daten herauszugeben, wenn es um “Sicherheit” geht (z.B. bei “Ökoterrorismus”!). (3) Und es ist ebenso sicher, dass die Polizei jedes Kommunikationsmittel überwachen kann, legal oder nicht. Es ist kindisch zu glauben, dass man in digitalen Netzen auf absolut sichere Weise kommunizieren kann.

Es gibt mit großer Wahrscheinlichkeit sicherere Wege, Informationen zu verbreiten, die nicht an die Ohren der Polizei gelangen müssen. Zum Beispiel den alten Postweg. Aber all das kostet Zeit und Mühe, und der Aktivist, wie der Durchschnittsmensch von heute, der die Bahn lobt, aber dann doch das Auto nimmt, wählt immer den einfachen Weg. 

An dem Punkt, an dem wir angelangt sind, scheint es in der Tat fast unmöglich geworden zu sein, von einem Moment auf den anderen auf ein Smartphone zu verzichten, ebenso wie auf ein Auto oder ein Bankkonto. Aber wäre es nicht notwendig, zumindest eine Diskussion darüber zu beginnen und vor allem einige “gute Praktiken” einzuführen? Warum sollte man in einem “Klimacamp” überall QR-Codes mit dem Programm aushängen, anstatt es auszudrucken? Warum die Materialien der Kampagne “Wir zahlen nicht für fossile Energie” (Last Generation) verteilen, noch dazu mit einem QR-Code, der die totale Digitalisierung der Welt und ihre Folgen für die Umwelt symbolisiert, insbesondere was den Verbrauch fossiler Brennstoffe angeht?

Es war unmöglich, ohne Smartphone zur Veranstaltung in Sainte-Soline (4) zu kommen. Um ohne eigenes Auto dorthin zu gelangen, musste man sich auf einer Website mit einem Passwort registrieren, genau wie bei blablacar. Dann wurde man eingeladen, sich auf Telegram zu registrieren, um zu wissen, wohin man fahren muss, und so weiter. Wer sich diesen Regeln nicht anpassen will, ist ein Ärgernis für die anderen und gilt zumindest stillschweigend als reaktionär, alt, untauglich, ein Relikt der Vergangenheit. Genau wie im Rest der Gesellschaft. Es wird unmöglich, sein Bankkonto abzufragen, ein Zugticket zu kaufen, ein Museum zu besuchen. Oder zu einer Demonstration zu gehen.

Ein praktischer Vorschlag: Bei ökologischen Treffen und Aktionen ist das Essen immer vegan, auch wenn es nicht alle Aktivisten sind. Warum also nicht auch diese Treffen als “internetfrei” deklarieren, indem man vorhandene technische Vorrichtungen nutzt, um das Netz in einem bestimmten Umkreis zu blockieren? Allein die Tatsache, dass man für ein paar Stunden, besser noch für ein paar Tage, vom Netz getrennt ist, könnte zur Entgiftung und Bewusstseinsbildung beitragen…

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Vorschlag angenommen wird, ist jedoch gering. Eines der Merkmale des Öko-Aktivismus ist nämlich die Suche nach Einstimmigkeit und der Versuch, interne Konflikte zu vermeiden (“wir sind schon wenige…”). Die Verbindung aufzugeben, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, würde vielen zu hart erscheinen. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass FOMO (Fear of missing out) noch stärker ist als die “Öko-Angst”. Hinter der Frage der Netznutzung zeichnet sich eine mögliche Spaltung im Lager der Öko-Angst ab: Zwischen denjenigen, die der Meinung sind, dass die Vermeidung einer ökologischen Katastrophe eine drastische Verringerung des Einsatzes von Technologien und die Wiederherstellung autonomer Praktiken erfordert, und denjenigen, die, auch wenn sie es nicht offen sagen, glauben, dass es unvermeidlich ist, bestehende und sogar noch zu entwickelnde Technologien zu nutzen, von der smarten Arbeit bis zum Geo-Engineering, von den Algorithmen der Abfall- und Verkehrsverwaltung bis zum synthetischen Fleisch, vom Elektroauto bis zur Wärmedämmung aus Polystyrol, von der Windenergie bis zu den Biokraftstoffen…

Anmerkungen

(1) “Wäre das Internet ein Land, so wäre es mit 1.500 TWH pro Jahr nach China und den USA der drittgrößte Stromverbraucher der Welt. Insgesamt verbraucht der digitale Sektor 10 bis 15 % des weltweiten Stroms, was der Leistung von 100 Atomreaktoren entspricht. Und dieser Verbrauch verdoppelt sich alle vier Jahre! Nach Angaben des Forschers Gerhard Fettweis wird der Stromverbrauch des Internets im Jahr 2030 so hoch sein wie der weltweite Verbrauch im Jahr 2008. In naher Zukunft wird das Internet die größte Umweltverschmutzungsquelle der Welt sein. […] Was die CO2-Emissionen betrifft, so verschmutzt das Internet 1,5 Mal mehr als der Luftverkehr. Die Hälfte der durch das Internet erzeugten Treibhausgase stammt vom Nutzer, die andere Hälfte wird zwischen dem Netz und den Datenzentren aufgeteilt” (https://www.fournisseur-energie.com/internet-plus-gros-pollueur-de-planete/, 26. 7. 2023, eine Website, die nicht umweltfreundlich ist, sondern “Ratschläge für Verbraucher” gibt).

(2) Es handelt sich um eine neue Generation von Zählern, die als “intelligent” bezeichnet werden, weil sie eine effizientere Verwaltung des Stromverbrauchs zu ermöglichen scheinen. Er war von Anfang an umstritten, vor allem wegen der starken elektromagnetischen Felder, die er erzeugt, und wegen der Nichtbeachtung der berühmten “Privatsphäre”. Ursprünglich in Frankreich eingeführt, wird sie nun auch in Italien immer häufiger eingesetzt.

(3) Ein Beispiel dafür, wie wenig die sensiblen Daten eines jeden geschützt sind, vor allem, wenn sie “systemfeindlich” sind, ist sicherlich die berühmte Episode, in die 2004 der Provider Aruba und die antagonistische Website inventati.org verwickelt waren und die zur Verhaftung einiger Anarchisten führte – mal zur Abwechslung. Aruba hatte auf Ersuchen der Polizei die Schlüssel für den Zugang zu den Postfächern der Kollektive ausgehändigt und somit ermöglicht, deren E-Mail-Verkehr täglich zu überwachen. Für diejenigen, die sich eingehender mit dem Thema befassen wollen, kann es nützlich sein, diese Seite der fraglichen Website oder die Wikinews-Seite mit einer Zusammenfassung der Fakten zu besuchen.

(4) In der Nähe von Sainte-Soline, einem kleinen französischen Dorf im Departement Deux-Sèvres in der Region Neu-Aquitanien, ist der Bau von Mega-Becken geplant, die riesige Wassermengen für den intensiven Anbau enthalten sollen. Dieses unter Umweltgesichtspunkten verheerende und mit der Agrarindustrie verbundene Projekt hat große Proteste und mehrere Demonstrationen ausgelöst, von denen die bekannteste am 25. März 2023 stattfand. Die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte führte zu mehr als 200 zum Teil schwer verletzten Demonstranten und zahlreichen Festnahmen. Für weitere Informationen siehe https://www.globalproject.info/it/mondi/francia-sainte-soline-e-la-violenza-di-stato-una-nuova-strategia-repressiva-allorizzonte/244

Übersetzt von Bonustracks aus der italienischen Version, die auf IL ROVESCIO erschien.

Das Mysterium der Neuzusammensetzung in den Banlieue-Aufständen

Atanasio Bugliari Goggia [Interview]

Vorwort Machina

Als Resultat umfangreicher Feldforschung hat Atanasio Bugliari Goggia für ‘Ombrecorte’ zwei wichtige Bücher über die Kämpfe und politischen Organisationen der Banlieue geschrieben. Nach den Juni Unruhen wurde er von mehreren italienischen Zeitschriften und Websites interviewt, aber wir hatten dennoch das Bedürfnis, ihn zu befragen, um einige Themen zu erforschen, die uns vernachlässigt schienen und die wir stattdessen für äußerst wichtig halten: von der Beziehung zwischen der Klassenzusammensetzung der Unruhen und den politischen Organisationen bis hin zum Problem der Neuzusammensetzung zwischen Teilen des großstädtischen Proletariats, die durch eine ‘farbliche’ Trennlinie getrennt sind, die die grausamsten Formen des Rassismus schürt. Niemand hat die Lösungen für die im Interview angesprochenen Probleme und kann sie umsetzen, aber unser Gast gibt uns einen wichtigen Hinweis: Nur die Stärke der Kämpfe kann die Praxis der Neuzusammensetzung schmackhaft machen und die ‘farbliche’ Trennung überwinden. . Im Gegenteil, alle anderen liberalen Formen des Antirassismus verstärken nur, wenn auch unter anderen Vorzeichen, die Trennung, die unser politisches Hauptproblem ist. Mit diesem Interview eröffnen wir zusammen mit der Rubrik ” vortex ” ein kleines Dossier über Frankreich im Hinblick auf die Debatte mit Louisa Yousfi, Houria Bouteldja und Atanasio Bugliari Goggia selbst, die am 22. September in Bologna im Rahmen des von Punto Input, Machina und DeriveApprodi organisierten “Festival Kritik 00” stattfinden wird.     

* * *

Frage: In anderen Interviews haben Sie eine Erklärung für die Unruhen gegeben, indem Sie sie in den Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Krise gestellt haben, die ganz Europa seit mehreren Jahrzehnten erfasst hat. Lassen sich noch andere Elemente ausmachen, die uns helfen, das Phänomen zu verstehen? Zum Beispiel scheint mir die Frage der Integration ein zentraler Aspekt zu sein, insbesondere in einem Land wie Frankreich, wo es unter anderem das “Recht aufgrund des Geburtsort” gibt. Was denken Sie darüber?

Antwort: Die von Ihnen erwähnten Interpretationen scheinen in der Tat sehr naheliegend zu sein, aber sie sind nicht für jeden geeignet. Diese Revolten sind sicherlich eine Reaktion auf die Krise. Die wirtschaftswissenschaftliche Interpretation kann jedoch problematisiert werden. Um beim Thema Integration zu bleiben: Ich denke, dass in diesen Unruhen nicht so sehr die Forderung nach Integration im Vordergrund steht, sondern vielmehr eine sachliche Kritik an dem verzerrten Gebrauch, den die Institutionen von diesem realen “Mittel” machen. Die jungen Leute, die die Juni-Krawalle angezettelt haben, haben alle erwarteten Wege beschritten, um sich integriert zu fühlen: Sie sind in Frankreich geboren, sie haben französische Schulen besucht, ihre Großeltern und Eltern haben Frankreich in den “glorreichen Dreißigern” reich gemacht, und jetzt halten sie das Land am Laufen, indem sie die schlechtesten und schlecht bezahlten Jobs, kostenlose Praktika usw. machen, aber sie sind sich bewusst, dass diese Integration sie in eine minderwertige Position gebracht hat, indem sie aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Herkunft tödlichen Formen der Ausgrenzung und Kontrolle ausgesetzt sind. Für einen jungen Araber oder Schwarzen ist das Risiko, getötet zu werden, wie uns die Nachrichten leider immer wieder vor Augen führen, oder “einfach” von der Polizei angehalten zu werden, viel höher als das Risiko eines durchschnittlichen weißen Bürgers. Es besteht also kein Zweifel, dass die arabische und schwarze Bevölkerung einem System rassischer und kolonialer Herrschaft unterworfen ist. 

Der antikoloniale Charakter dieser Unruhen ist also offensichtlich, und es ist sehr schwierig, die Fanon-Lesart der Militanten aus den Banlieues nicht zu teilen. Wenn wir jedoch einen Klassenstandpunkt einnehmen, können wir sagen, dass man arm ist, weil man schwarz ist, und man ist schwarz, weil man arm ist. In der Tat färbt die Armut auch die Haut der in den Vorstädten lebenden Weißen dunkel. Diese Mittel der kolonialen Macht, die so mächtig und vielleicht einzigartig in Europa sind, werden in zunehmendem Maße in anderen sozialen Bereichen und gegen andere Fragmente der Zusammensetzung angewandt, die zuvor aufgrund des Reichtums und der territorialen Aufteilung immun gegen sie waren. Es genügt, in diesem Sinne an die Repression zu denken, der Bewegungen wie die “Gilets Jaunes” oder diejenige, die sich gegen die Rentenreform wehrten, bis hin zu der Bewegung, die ich am interessantesten finde, die der “Soulèvements de la Terre”. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise hat also zu einer Neuausrichtung der Stadt- und Banlieue-Bewegungen hinsichtlich der kolonialen Kontroll- und Repressionsmechanismen geführt, denen sie unterworfen sind. Dies zeigt, dass die Fanonsche These, die sowohl der Klasse als auch der ‘Rasse’ eine strukturelle Funktion zuweist, im Gegensatz zu Interpretationen, die letztere als bloßen Überbau bezeichnen, mehr als nur einen Keim der Wahrheit enthält. Dies ist nämlich die vorherrschende Interpretation unter den Kollektiven und Gruppen der Banlieues. Diese Neuausrichtung der Kontrollmechanismen kann meines Erachtens auch eine Annäherung zwischen der Banlieue-Bewegung und den städtischen Bewegungen begünstigen, die sich in den letzten Jahren bereits angedeutet hat.

Welches Verhältnis besteht zwischen den städtischen Bewegungen und der Banlieue-Bewegung?

Um diese Frage vorläufig zu beantworten, unterscheide ich nicht zwischen den organisierten Gruppen in den Vorstädten und der jugendlichen Zusammensetzung der Banlieues, die sich größtenteils durch Modalitäten bewegt, die ich als “Affinität ohne Hegemonie” definiere, obwohl ich weiß, dass es sich um zwei verschiedene und unterschiedliche Realitäten handelt, die jedoch durch Formen der Solidarität und der Weitergabe des Wissens über die Kämpfe verbunden sind, die sie in eine Linie politischer und “ideeller” Kontinuität stellen. Das erste festzuhaltende Merkmal ist jedoch die Ablehnung von allem, was von außerhalb der Banlieue kommt und institutionell geprägt ist, von linken Parteien über Gewerkschaften bis hin zu linksradikalen Organisationen. Es ist eine Ablehnung, die historische Wurzeln hat, von der mangelnden Unterstützung der Befreiungskämpfe über die geringe Berücksichtigung der Bedürfnisse des eingewanderten Teils der Arbeiterklasse durch die Gewerkschaften bis hin zu der absoluten Bevormundung, mit der die Sozialistische Partei unter der Führung von Leuten wie Mitterand in den 1980er Jahren versuchte, eine aufkommende Banlieue-Bewegung mit präzisen Forderungen zu zähmen, weil man nichts mehr vorgeben konnte. Trotz teilweise erfolgreicher Kooptationsversuche, die darauf abzielen, zu zeigen, dass es innerhalb der republikanischen Ordnung Raum für eine individuelle Emanzipation von den Lebensbedingungen der Banlieue gibt, bleibt diese Ablehnung mehrheitsfähig.  

Selbst die Erklärungen von Mélenchon reichen meines Erachtens nicht aus, um diese Kluft zu überbrücken, denn sie haben einen zweideutigen Hintergrund: Abgesehen von der Solidarität bezüglich der Hinrichtung Nahels berühren sie nicht das Hauptproblem, nämlich den Einsatz von Waffen im Falle einer Nichtbefolgung polizeilicher Weisungen und ganz allgemein die zunehmend politische Rolle der Polizei, die im institutionellen Gefüge jenseits der Alpen inzwischen eine wirklich autonome und unabhängige Macht ist. Aus diesen Gründen gibt es meiner Meinung nach keine Möglichkeit für einen Dialog. Diese Kluft betrifft auch das Verhältnis zu den so genannten städtischen Bewegungen, die sich in den letzten Jahren seit der “Gilets Jaunes”-Bewegung nur teilweise neu formiert haben. Einer der Gründe für diese Kluft hat meines Erachtens mit der unterschiedlichen Klassenzugehörigkeit zu tun, wobei beispielsweise die Zusammensetzung der städtischen Bewegungen die Probleme im Zusammenhang mit der Arbeit in Form eines Mangels an Entfaltung wahrnimmt und nicht als reines Überlebensproblem, wie es bei der Zusammensetzung der Banlieue-Bewegung der Fall ist.  

Um ein etwas veraltetes Beispiel zu nennen: Die Bewegung gegen die Reform des CPE (des Erstanstellungsvertrags) hat die Banlieue nicht miteinbezogen, weil dieses Gesetz zwar eine radikale Prekarisierung des Arbeitsmarktes einführte, aber von den Banlieues fast positiv gesehen wurde, weil es ihre Zugangschancen zu Beschäftigung verbesserte, ohne die Substanz zu verändern: In der Tat hatte der Arbeitsmarkt für die jungen Banlieusard schon seit Jahren die Merkmale der Flexibilität und der Prekarität angenommen. Die durch die Krise verursachte Verarmung, die viele Stadtbewohner in den gleichen Schattenkegel wie das Proletariat und das Subproletariat in der Banlieue gestoßen hat, in Verbindung mit der repressiven Eskalation des Staates gegen die städtischen Bewegungen hat jedoch zweifellos zu einer Annäherung zwischen den beiden Teilen der Zusammensetzung geführt, sowohl in Bezug auf die Lebensbedingungen als auch auf die Modalitäten der politischen Aktion und der Präsenz auf der Straße. In diesem Sinne stellte die Bewegung der “Gilets Jaunes” einen wichtigen Wendepunkt dar. Die Plünderungen, die wir bei den Aufständen in diesem Sommer gesehen haben, gab es bei den Unruhen von 2005 nicht und sind meiner Meinung nach eine Praxis, die den städtischen Bewegungen zu verdanken ist, sie sind sicherlich das Ergebnis der Nachahmung der Praktiken der organisierten Gruppen der radikalen Linken in der Stadt.  Die Annäherung auf der Ebene der Klassenzugehörigkeit schlägt sich jedoch nicht in einer politischen Annäherung nieder. Dies ist jedoch ein Problem, das, wie ich bereits sagte, sehr tiefe historische Wurzeln hat.  Um ein letztes Beispiel zu nennen: Das religiöse Element, das in den politischen Instanzen der Banlieue sehr präsent ist, wurde von den politischen Organisationen, die mit der städtischen Bewegung verbunden sind, immer mit Misstrauen betrachtet, was dazu beigetragen hat und weiterhin dazu beiträgt, die Kluft zu festigen. 

Was Sie über die Beziehung zwischen den Banlieue-Bewegungen und den “Gilets Jaunes” gesagt haben, scheint mir sehr wichtig zu sein. Können Sie diesen Punkt näher erläutern?

Die Bewegung der “Gilets Jaunes” stellte sicherlich einen wichtigen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Banlieue-Bewegung und den städtischen Bewegungen dar. Erstens, weil, wie gesagt, die Repression des Staates und die gewaltsame Anwendung der Polizeigewalt, von der diese Bewegung betroffen war, Faktoren der Annäherung waren: Die Jugendlichen der Banlieue hörten nämlich teilweise auf, die militanten Stadtbewohner als “privilegiert” zu betrachten, selbst bei den Grausamkeiten der Repression, die der Staat für sie reservierte. Zweitens fehlte den “Gilets Jaunes” der für frühere städtische Bewegungen und die kommunistische und anarchistische Linke typische Paternalismus. Dies machte die “Gilets Jaunes” zu einer attraktiveren Bewegung für Jugendliche und Militante aus den Banlieues, insbesondere in Städten wie Montpellier und Lyon. Es muss jedoch gesagt werden, dass diese Annäherung nicht einheitlich verlief, da die Bewegung der “Gilets Jaunes” sehr unterschiedliche territoriale Ausdehnungen hatte. In anderen Städten, wie zum Beispiel Paris, verhinderten die klassenkämpferischen Aspekte, die Ausklammerung der ‘Rassenfrage’ und der bereits im Entstehen begriffene Populismus, der sich dann in der Anti-Impf-Bewegung und der Bewegung gegen die Anti-Covid-Restriktionen entlud, die Beteiligung der Banlieue-Zusammensetzung und ihrer politischen Organisationen.

Es ist bezeichnend, dass linke Organisationen, die stärker in die städtischen Bewegungen eingebunden sind, ein Hindernis für die Beteiligung ‘rassifizierter’ Subjektivitäten aus der Banlieue darstellen.

Wie ich bereits sagte, tragen die städtischen Bewegungen nicht so sehr das Laster der ideologischen Reinheit in sich, was nicht unbedingt ein negativer Charakterzug ist, sondern vielmehr den Anspruch, Träger einer politischen Wahrheit zu sein, selbst in Handlungsmodellen, die von der Banlieue aus immer als eine Form der “weißen” Bevormundung wahrgenommen wurden. Bei den Unruhen von 2005 war dieses Laster kolonialer Züge der Linken eklatant. Im Gegensatz zu den Unruhen dieses Sommers gab es damals nur wenig Solidarität von Seiten der politischen Organisationen der Linken und sogar der radikalen Linken, außer in einer faden Form gegen die staatliche Repression. Im Gegenteil, selbst auf der Linken gab es einen paternalistischen und moralistischen Diskurs, der sich nicht von dem der Rechten unterschied, die die Unruhen mit den abwertenden Begriffen einer “Jacquerie” interpretierte, d.h. aus einem Blickwinkel, der die jungen Krawallmacher als Menschen ohne politisches Projekt bezeichnete, deren einziges wirkliches Bestreben darin bestand, sich der Konsumgesellschaft anzuschließen. Ich glaube, dass eine tiefgreifende Entkolonialisierung des Blicks noch immer notwendig ist.

Ein klassisches und übergeordnetes Thema ist wie immer das Verhältnis von Spontaneität und Organisation. Was können Sie uns dazu sagen?

Das Verhältnis zwischen den politischen Organisationen der Banlieues und dem Teil der Jugend, der an den Unruhen teilnimmt, ist recht komplex. Wenn es aus den oben genannten Gründen für linke und linksradikale Organisationen unmöglich ist, in den Banlieues zu intervenieren, so ist es auch für die Banlieue-Organisationen, die zwischen den 1980er und 1990er Jahren entstanden sind, sowie für die neueren Organisationen leider nicht einfach, denn sie befinden sich seit 15-20 Jahren in einer sehr starken Krise, was ihren Versuch erschwert, die neuen Generationen zu politisieren. Die Repression hat sicherlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung dieser Krise gespielt. Es darf nicht vergessen werden, dass neben der täglichen Ausübung der Polizeigewalt in der Zeit nach 2010 unter Hollande alle Organisationen mit “kommunitärer” oder religiöser Prägung per Gesetz aufgelöst wurden. Nach der Welle von Terroranschlägen in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre hat die repressive Reaktion des Staates die Gesellschaft polarisiert und die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen im Rahmen eines islamfeindlichen Diskurses reglementiert, wobei wichtige politische Organisationen, die in der Banlieue verwurzelt sind, de jure und de facto aus dem Bereich der politischen Legitimität ausgeschlossen wurden.

Hinzu kommt die allgemeine Krise der Militanz, die alle betrifft und die die Banlieue wie jeden anderen sozialen und politischen Bereich betrifft, so dass es kaum einen generationenübergreifenden Wechsel gegeben hat. 

Es kann nicht behauptet werden, dass die Unruhen von den politischen Organisationen der Banlieues angeführt werden, aber es stimmt, dass deren Aktivisten alle eine Vergangenheit als “casseur” haben. Die Unruhen, die in den Vorstädten viel häufiger vorkommen, als es die mediale Aufmerksamkeit erfassen kann, stellen somit einen grundlegenden Schritt in den Politisierungsprozessen in den Biographien der Banlieue-Jugend dar. Die Revolte ist in jeder Hinsicht, wenn auch mit all ihren Begrenzungen, ein Instrument des Kampfes der Banlieue-Bewegung. 

Trotz der Krise der Militanz und der Schläge der Repression sind die Banlieue-Organisationen vor Ort präsent und genießen auch einen hohen Anerkennungsgrad. Für die Jugendlichen zum Beispiel sind sie Ausdruck einer Politik, die nicht korrumpiert ist, die in der Lage ist, die Forderungen der Peripherie voranzutreiben, ohne sich an die Institutionen der Republik zu verkaufen. Eine politische Organisation, eine Banlieue-Vereinigung, läuft Gefahr, ihre Autorität zu verlieren, wenn sie ihre Unnachgiebigkeit gegenüber der institutionellen Politik aufgibt, auch wenn sie dadurch Zugang zu Mitteln hat, die ihr das Überleben ermöglichen.

Diese starke Anerkennung – es gibt in der Tat keinen jungen Menschen aus der Banlieue, der nicht den Namen eines der aktivsten Militanten der Mib oder der Pir kennt – führt jedoch nicht automatisch dazu, dass sich junge Menschen militanten Organisationen anschließen, abgesehen von einem geringen Prozentsatz. Das liegt zum einen daran, dass der Einsatz und das Engagement der Militanten, wie gesagt, heute fast überall auf kein besonderes Interesse stößt, und zum anderen daran, dass die Jugendlichen die Arbeit der politischen Organisationen zwar respektieren, ihr aber den Makel zuschreiben, nie Ergebnisse erzielt zu haben. Der Spontaneismus, den die Banlieue-Jugend in die Praxis umsetzt, ist also ein begründeter Spontaneismus, eine echte Kampfmethode. In meinem Buch bezeichne ich diese Art des Handelns in den Revolten als “Affinität ohne Hegemonie”. Mit dieser Kategorie möchte ich das Gefühl der Zugehörigkeit zum selben sozialen Ort, zur selben Ausbeutungssituation bezeichnen, das die kollektiven Aktionen der Aufstände antreibt, ohne jedoch ein Endziel oder ein explizites politisches Programm zu haben, sondern nur einige verworrene und magmatische Forderungen.

Was diesen politischen Organisationen jedoch sehr gut gelingt und was in gewisser Weise eine Rolle bei der Explosion der Revolten spielt, ist die Weitergabe der Erinnerung an die antikolonialen Kämpfe sowie an die Kämpfe, die innerhalb der französischen Grenzen seit den 1960er Jahren gegen die wirtschaftlichen, kolonialen und neokolonialen Instrumente geführt wurden, die die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in den Würgegriff nahmen (in Fabriken und Bergwerken, für das Recht auf Wohnen, gegen die “double peine”, um nur einige emblematische Beispiele zu nennen).

Auch heute gibt es keinen jungen Menschen aus der Banlieue, der sich nicht der Historizität seiner eigenen Situation, der seiner Familie und seiner Nachbarn bewusst ist. Diese Arbeit der Weitergabe und Reaktivierung der Erinnerung ist äußerst wichtig, denn in Frankreich herrscht ein ungeheurer institutioneller Rassismus, der einen republikanischen Hass auf diesen Teil der Bevölkerung verrät und der das offizielle Urteil über das Gewicht des Kolonialismus in der politischen Geschichte der Republik stark beeinträchtigt. Ein politisches Wirken, dieses der organisierten Gruppen, das zum Bewusstsein der Petits beiträgt. Um diese “Politisierung des Alltäglichen” der neuen Generationen zu erklären, verwende ich in der Arbeit den Begriff der “Geschichten, die in der Banlieue kursieren”, um genau diese Fähigkeit der Bewohner hervorzuheben, einen gemeinsamen Horizont zu konstruieren, indem sie sich an eine Vergangenheit der Kämpfe und eine Gegenwart der Ausbeutung erinnern.  

Es gibt ein Thema, über das verständlicherweise aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit nur wenig gesprochen wird, das aber berücksichtigt werden muss, wenn man Prozesse der Neuzusammensetzung in Gang setzen will. Ich spreche von den Brüchen innerhalb der Klassenzusammensetzung und den potenziellen Konflikten zwischen ihren verschiedenen Segmenten. Um mich zu erklären, werde ich ein Beispiel anführen. Während der Unruhen in Los Angeles 1992 kam es zu Plünderungen gegen koreanische Geschäftsleute, was zeigt, dass es einen Konflikt zwischen ‘rassisch’ gleichgestellten Gruppen gibt. Gibt es ein solches Phänomen auch in der Banlieue?   

Ich bin nicht in der Lage, diese Frage vollständig zu beantworten. Ich werde versuchen, einige Anhaltspunkte zu geben. Sicherlich ist die Parallele zu Los Angeles und den Unruhen in den Vereinigten Staaten im Allgemeinen angebracht, insbesondere im Hinblick auf diesen jüngsten Aufstand. In den Banlieues gibt es eine Spaltung der weißen Bevölkerung. Wenn es eine Spaltung gibt, dann bei allem, was als weiß gelten kann. Allerdings gibt es bei den Krawallen auch eine Beteiligung des weißen Proletariats und des Subproletariats der Banlieues, die zwar oft, aber nicht immer, einen Migrationshintergrund haben.

Meines Erachtens unterscheidet sich die französische Banlieue in Bezug auf die Bevölkerungsstruktur deutlich vom amerikanischen Ghetto. Die Banlieue hat nämlich eine viel vielfältigere Bevölkerung, ein Element, das meiner Meinung nach die Entstehung einer Kluft zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen verhindert. Die Bewohner der Banlieue selbst neigen dazu, die soziale “mixité” der Peripherie für sich in Anspruch zu nehmen und sie eher als Ort der Konzentration der eingewanderten und armen Bevölkerung denn als Ort einer spezifischen ethnischen Gemeinschaft darzustellen. 

Die Funktionsweise dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgeographie lässt sich zum Beispiel an der Dynamik der Kleinkriminalität ablesen: In Frankreich ist die Welt der Kleinkriminalität nicht nach ethnischer Zugehörigkeit, sondern nach territorialer Zugehörigkeit polarisiert. In den Vereinigten Staaten hingegen erleichtert die Strukturierung von ethnisch homogenen Ghettos innerhalb dieser Ghettos den Ausdruck von Rivalitäten und Gewalt zwischen den Ethnien. In der Banlieue sind die Überschneidungen stark und real, und die Begegnungen zwischen verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten sind weniger problematisch als in den Vereinigten Staaten, auch wenn, wie gesagt, die eigentliche Kluft zwischen Weißen und Nicht-Weißen besteht. Denn der weiße Banlieue-Bewohner wird trotz seiner Zugehörigkeit zur Unterschicht mit Misstrauen betrachtet, zum einen, weil er im Vergleich zu denjenigen mit einer ethnischen Zugehörigkeit kolonialen Ursprungs immer noch als privilegiert gilt, und zum anderen, weil er doppeldeutig oder gar offen rassistisch sein kann. Das Misstrauen ist also gerechtfertigt und oft auf den Rassismus der proletarischen Weißen zurückzuführen. 

Vorhin sprachen wir von einer auch politischen Trennung zwischen Banlieue und Stadt, aber in den zweiten Aufständen taucht noch ein weiterer wichtiger Bruch auf, nämlich der zwischen der “cité”, dem ärmsten Teil der Banlieue, und dem Teil außerhalb, dem “pavillonaire”, in dem ein Segment lebt, das in der kapitalistischen Hierarchie durch die Art der Arbeit besser gestellt ist und stärker in die Formen der politischen Vermittlung und institutionellen Anerkennung eingebunden ist. Es ist klar, dass sich die Wut bei den Unruhen manchmal auch gegen diesen Teil der Banlieue richtet. Aber hier ist der Bruch nicht ethnisch, sondern eher “politisch” und betrifft die Ebene der Vermittlung mit den in Anspruch genommenen Institutionen. Nach diesen allgemeinen Überlegungen bin ich nicht in der Lage zu sagen, ob es bei diesem Aufstand zu Gewalt zwischen den Ethnien gekommen ist, wie bei dem Aufstand in Los Angeles 1992, den Sie in Ihrer Frage erwähnt haben.

Die Gentrifizierungsprozesse, denen ich im ersten der beiden bei ombre corte erschienenen Bücher breiten Raum widme und die die Geographie der Städte verzerren, werden nach Ansicht vieler Wissenschaftler zu einer ethnischen Ghettoisierung führen, so dass mittelfristig ein Szenario nach amerikanischem Vorbild nicht ausgeschlossen ist.  

Die letztgenannten Überlegungen sind von großer Bedeutung, da sie uns nicht nur ein realistisches Bild der sozialen Situation vermitteln, sondern auch die Möglichkeit bieten, das Profil eines “Antirassismus der Klasse” zu definieren … 

Der Anteil explizit rechter oder faschistischer Weißer in der Banlieue ist sehr gering und findet sich kaum in organisierten politischen Formen wieder, nicht zuletzt deshalb, weil die extreme Rechte in Frankreich nicht in den Vorstädten geboren wird. 

In der Banlieue gibt es einen wichtigen Teil des weißen Proletariats, der sich an den Unruhen beteiligt, der sicherlich auch bei den Unruhen von 2005 präsent war, der sich gleichermaßen räumlich und sozial eingeengt fühlt, der ein starkes antiinstitutionelles Gefühl zum Ausdruck bringt und der dennoch in einigen Fällen in der Lage ist, Formen von Fremdenfeindlichkeit hervorzurufen. In der Revolte können sie jedoch Möglichkeiten finden, die Institutionen der Republik in Frage zu stellen. Ich denke, dass es unter Umständen wie in diesem Sommer zu kurzen und sporadischen Formen der Neuzusammensetzung kommen kann. Eine Neuzusammensetzung, die sich eher in der Materialität des Kampfes als auf der Ebene des Bewusstseins entwickelt. Dies scheint mir im Allgemeinen das produktivste Terrain des Antirassismus zu sein. Auch weil der pädagogische Antirassismus, der der guten Absichten, in Frankreich, anders als vielleicht in Italien, vollständig in das institutionelle System integriert ist, lässt dies jedoch mehr Raum für Organisationen, die versuchen, einen Antirassismus zu praktizieren, der das Problem der Neuzusammensetzung aufwirft. 

Ein weiteres heikles Thema ist der Islam und der Islamismus. Wie verhält sich die Religion zur Politik in der Banlieue?

Die Frage des Islamismus in Bezug auf die Politik kann auf drei Ebenen artikuliert werden. Auf der ersten Ebene finden wir einen Islam, der eine tröstende Funktion ausübt und sich in dem Maße durchsetzt, in dem eine politische Perspektive der Emanzipation fehlt. Es ist ein Islam, der zum Rückzug ins Private führt, der sich, wie alle Religionen, mit dem Geist beschäftigt. Es ist der Islam, der vom Staat “gehätschelt” wird, weil er in dem Maße, in dem er entpolitisiert, ein Instrument der Regierung ist. Er wird gegen religiös inspirierte, also nicht wirklich religiöse Organisationen eingesetzt, die eine politische Botschaft transportieren, wie die “Cri”, die die zweite Ebene repräsentieren. Gegen sie werden Säkularismus und Islamophobie vom Staat eingesetzt, um politische Forderungen aus den Vorstädten und den Banlieues zu diskreditieren. Auf der dritten Ebene schließlich finden wir den politischen Islam außerhalb Frankreichs, wie den des Arabischen Frühlings oder den der Palästinenserfrage, der einen sehr starken Einfluss auf militante Banlieues und Jugendliche hat, weil er eine unmittelbare Quelle der Anerkennung darstellt, ein ikonisches Beispiel für den antikolonialen Kampf in einem bestimmten Gebiet. 

Abschließend muss gesagt werden, dass diese Dimensionen des Islams nichts mit dem Dschihadismus zu tun haben, der, wenn überhaupt, die Kehrseite der Medaille des Islams mit tröstender Funktion ist, und wie letzterer insofern greifen kann, als die Emanzipationsperspektiven und die sie tragenden Organisationen, die dann die vom Staat am meisten Angegriffenen sind, sich zurückziehen.

* * *

Atanasio Bugliari Goggia befasst sich mit Fragen des sozialen Wandels in den Großstädten und konzentriert sich dabei auf die Dynamik der organisierten Opposition und die Techniken der sozialen Kontrolle in städtischen Kontexten. Mit Hilfe der ethnografischen Methode, der teilnehmenden Beobachtung und Erzählungen aus dem Leben hat er die antagonistischen Realitäten in Turin, Bologna, Paris und Montpellier untersucht. Anhand von mündlichen Überlieferungen sowie Archiv- und Gerichtsquellen hat er Nachforschungen über Asbesttote in Italien und der Schweiz und über die italienische Emigration in die Schweiz angestellt. Er hat bei ‘Ombrecorte’ ‘Rote Banlieue. Ethnographie der neuen Klassenzusammensetzung in den französischen Vorstädten (2022)’ und ‘Der heilige Schurke. Ethnographie der politischen Kämpfer der Banlieues (2023)’ veröffentlicht.

Erschienen im italienischen Original am 13. September 2023 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Breaking the Waves [dt]

Nicolò Molinari

Vorwort [dt. Übersetzung]

Der im Juni 2023 bei Ill Will erschienene Essay ‘Die Wellen brechen’ von Nicolò Molinari widmet sich detailliert einigen zunächst recht unterschiedlichen Aufstandserscheinungen der letzten 5 Jahre. Die Herangehensweise ist weitgehend immanent und die Sprache mitunter sperrig, aber im Ganzen beweist der Autor gute Kenntnisse der revolutionären Alchemie. Man mag einwenden, daß er sehr an der Form der verschiedenen Aufstände hängt, weniger ihren Inhalt behandelt. So werden bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Rentengesetz in Frankreich kaum die Fragen gestellt: Will man tatsächlich 60 statt 62 Jahre arbeiten oder vielleicht doch das Lohnsystem selbst angreifen? Will man die Formen der alten Demokratie vor übermäßigem Autoritarismus bewahren oder doch den bürgerlichen Staat und seine biopolitische Verfügungsgewalt über seine Subjekte im Ganzen verneinen? Tatsächlich verwundert es, dass von radikalen Kräften Frankreichs keine offensive Agitation in diesen Fragen geführt wird, was schließlich ihrer mitunter überbordenden Aktion etwas Substanz verleihen könnte. Aber manches ist verwunderlich an den französischen Radikalen. Ein Text wieder, der explizit in solche Kämpfe eintaucht, ohne ihnen gleich alternative Losungen unterschieben zu wollen, da ein solches Unterfangen doch schnell zum Immergleich der verschiedenen linken Vereinahmungsversuche führen würde, kann nicht anders, als den Abstraktionen der wirklichen Kämpfe zu folgen, während die ersehnte Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse implizit oder angedeutet bleibt und in diesem Essai in der vagen Phrase von der „Schaffung neuer Formen des Lebens“ verschwindet. Und eine offensive Agitation prinzipiellen Inhalts in allen Ehren: Jede Wahrheit braucht zunächst ein gewisses eruptives Moment, um als solche erscheinen zu können. Im Moment der Eruption selbst ist sie wieder unmöglich zu formulieren, da man dann in der Regel Besseres zu tun hat, und so lassen sich erst nach wirklichen Auseinandersetzungen alle Fragen besser stellen, auch die nach dem Sinn und Unsinn von Lohnarbeit oder des Staates. Je stärker der augenblickliche Bruch mit den gegebenen Formen, desto offener wird dabei jemand sein, die überkommenen Kategorien der alten Welt abzulegen und auf Ideen zu kommen, die im akzeptierenden Alltagstrott nur albern wirken. Daher das momentan überwiegende Interesse des revolutionären Alchemismus an strategischen Fragen. Im Zentrum steht dabei weniger, wie überhaupt Brüche mit dem Bestehenden erzeugt werden können, da diese inzwischen an allerlei Orten quasi spontan und momentan besseren Falls ohne politisches Zutun entstehen und vorausgesetzt werden können. Vielmehr geht es darum, wie man ihnen eine gewisse Dauer verleihen kann. In diesem Zusammenhang wird in dem Text neben der „Strategie der Zusammensetzung“ und der „territorialen Basis“ gesellschaftlicher Kämpfe auch die Strategie der „Destitution“ oder vielleicht besser der „Entsetzung“ entfaltet, die insbesondere den Rückzug einschließt, um falsches Märtyrertum zu verhindern und Raum für Pausen zu gewähren und damit Platz zur Besinnung.

Komposition

Kürzlich stellte ein Text von Temps critiques (1) Überlegungen über die generationsübergreifende Zusammensetzung der wachsenden Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich an. Diese begann dort nämlich, in Erscheinung zu treten, während sie bei der Bewegung der Gilets jaunes noch fehlte. Die Autoren beschreiben, was sie eine alliage nennen, eine Legierung der Umstände, die durch die vorübergehende Fusion verschiedener gesellschaftlicher Fragmente herbeigeführt wird. Diese Kategorie erinnert an das von Endnotes benannte ‚Problem der Zusammensetzung‘ in den jüngsten Bewegungen (2). Ganz unterschiedliche junge Leute haben dem Kampf einen neuen Anstoß gegeben, was zu einem kraftvollen Anwachsen des cortège de tête in den Dynamiken der Auseinandersetzung mit der Polizei führte. Die Gewerkschaften verloren dadurch die Kontrolle über die Plätze. Zur selben Zeit hat die Jugend die Rolle von Schul- und Universitätsbesetzungen neu definiert, indem sie die Besetzungen in Operationsbasen für Aktionen verwandelten, die sich dann über die Städte verbreiten konnten. Auf diese Weise änderte sich die Bedeutung der Besetzungen: Indem die Studenten dieser klassischen Praxis ihres Repertoires eine neue Form gaben, dienten sie anders als in vergangenen Bewegungen nicht mehr der Wiederaneignungen der Bildungseinrichtungen, sondern waren in der Lage, sich mit der Bewegung gegen die Rentenreform zu verbinden. In diesem Sinne müssen wir von einer alliage sprechen, die sich sowohl gegen die konzentrierte Macht von Macrons Staat als auch gegen die dezentralisierte Macht der Wirtschaft stellt.

Die konfliktgeladene Form der Mobilisierung im März in Frankreich, die direkte Aktionen und Blockaden bevorzugte, hängt sowohl mit dieser kompositorischen Anordnung der verschiedenen beteiligten Akteure zusammen als auch mit den Schritten Macrons. Der Rhythmus der Bewegung entwickelte sich als Antwort auf Macrons ‚Coup‘, der, indem er sämtliche übliche institutionelle Oppositionsformen wie Gewerkschaften und Parteien überging, einzig die direkte und unvermittelte Opposition übrig ließ. An diesem Punkt konnten die Jugend und alle ‚radikaleren‘ Fraktionen der Bewegung ihren Platz finden und die Mobilisierung aufrütteln, indem sie ein Repertoire von Praktiken ins Zentrum rückten, das sich aus Straßensperren, Streikposten, schwarzen Blöcken und wilden Demonstrationen zusammensetzte.

Ein Text, der am 11. April auf Lundi matin erschien (3), macht drei Momente der Mobilisierung aus: zunächst (als die Reformen von der Regierung noch debattiert wurden) eine vereinte Mobilisierung durch die Gewerkschaften, dann eine Kombination aus Streiks, Blockaden und Streikposten in den Schlüsselbereichen der Wirtschaft, und schließlich, infolge der erzwungenen Verabschiedung der Rentenreform, das starke Anwachsen und die Ausbreitung autonomer, nächtlicher Ausschreitungen sowie Blockaden der Verkehrswege. Den Autoren zufolge hatte die Mobilisierung nur in dieser dritten Phase die Möglichkeit, aus dem reaktiven, ihr von der Regierung vorgegebenen Muster auszubrechen und über die Untiefen der republikanischen Demokratie sowie die vermittelnden Organisierung der Gewerkschaften und Parteien hinweg zu springen, um ansatzweise mit Neugruppierungen zu experimentieren.

Angesichts der Unwirksamkeit der Gewerkschaftsstreiks in der Geschichte (selbst wenn diese zum ‚Generalstreik‘ wurden), nahm die Praxis der Blockade eine größere Bedeutung ein. Diese Blockaden – die Hauptverkehrsstraßen und strategische Orte wie Busbetriebshöfe, Raffinerien und Abfallsortierzentren umfassten – hatten die Tendenz, den Konflikt zu dezentralisieren und die militärische Dynamik der direkten Konfrontation mit der Polizei zu durchbrechen. Das bewahrheitete sich insbesondere, wenn sie unerwartet in verschiedenen Teilen der Stadt aus dem Boden schossen und das Geschäftsleben lähmten. Diese Form eröffnete einer zu Beginn noch komplett vom Gewerkschaftsverband kontrollierten Bewegung einen anderen Rhythmus.

Raum und Ort

Diese Texte deuten an, daß die Organisierung von kämpfenden Blöcken und Aktionen dort am fortgeschrittensten war, wo die Mobilisierung Koordinationsformen entwickelte, die außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens operierten und dabei in direkter Verbindung mit den entschlossensten Teilen der Gewerkschaftsbasis blieben. Das was als ‚Operation Geisterstadt‘ (Ville morte) bekannt wurde, eine Serie von lähmenden Blockaden, die in Rennes, Nantes und Lyon stattfanden, bezeugt das Entstehen einer selbständigen Stoßrichtung innerhalb der Mobilisierung. Diese besitzt die Fähigkeit, eine revolutionäre Subjektivität zu entwickeln, die sich zu einem Widerspruch gegen den Staat kristallisiert und dabei die Vermittlung durch die Gewerkschaften umgeht. Die Herausforderung dieser Subjektivität liegt in der Notwendigkeit, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung, Koordinierung und Intervention innerhalb ihrer Blöcke beständig neu zu erfinden, ohne dabei die Verhärtung und Verkalkung ihrer Taktiken und ihrer Strategie zu erlauben. Andernfalls würden sie für die Polizei leichter durchschaubar, was den Verlust des strategischen Vorteils für die Bewegung bedeutete.

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, müssen die Kämpfe eine territoriale Basis entwickeln – sei es auf der Ebene eines Stadtteils, in einer ganzen Stadt oder sogar regional –, die es ihnen ermöglicht, Wirtschaftskreisläufe und Verkehrsflüsse zu unterbrechen, ohne der Polizei die Wiedergewinnung der Kontrolle über die Infrastruktur und die Bewegungen zu erlauben. Um eine gewisses Effektivitätsniveau zu erreichen, wird eine territoriale Dimension immer wesentlich sein. Obwohl sich beispielsweise die Bildung konfliktgeladener Räume in der Bewegung gegen die Rentenreform auf studentische Besetzungen und Blockaden beschränkte, könnten sie jenseits ihrer rein operativen Funktion auch zu Treffpunkten für eine Reihe verschiedener Subjektivitäten werden und eine Beitrag zum Aufbau eines ethischen und praktischen ‚Wir‘ leisten. Die Kreisverkehrsbesetzungen der ersten drei Monate des Aufstands der Gilet jaunes sind bis heute das fortgeschrittenste Beispiel einer solchen simultanen Kombination von konfliktgeladenen Formen, die in der Lage sind, die Verkehrsflüsse zu unterbrechen, mit einem raumgebenden Impuls, der ein Außen herstellt.

Das Schaffen von Orten gehört zur grundsätzlichen Grammatik aller neueren Bewegungen, von der Bewegung der Plätze in Europa bis hin zum George-Floyd-Aufruhr 2020 in den USA. Infolge der amerikanischen Occupy-Bewegung beriefen sich einige Genossen auf die Kategorie der ‘aufständischen Kommune’ (4), um ansatzweise theoretisch zu fassen, wie diese durch Kämpfe geöffneten Orte mit Formen der gesellschaftlichen Reproduktion außerhalb der Kapitalkreislaufs experimentierten. 2020 wurden von Seattle bis Atlanta ganz ähnliche autonome Zonen geboren und versucht, polizeifreien Gebieten Leben zu geben. (5) Wenn sie auch nicht frei von zahlreichen Schwierigkeiten waren, zeigen diese Erfahrungen doch, daß die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nicht ausschließlich Sache der Polizei ist, da die gegnerische Rolle häufig von Teilen der Bewegung eingenommen wird.

Egal, ob man nun diese jüngeren Bewegungen aus einer marxistischen Perspektive (zum Beispiel der Kommunisierungstheorie) oder einer moralischen betrachtet, bildet die Schaffung von Orten, die sich von der staatlichen oder kapitalistischen Kontrolle des Gebiets abspalten und sich ihr widersetzen, das Element, welches verschiedenen Subjektivitäten den Aufbau einer geteilten und möglicherweise andauernden Grundlage ihrer Existenz ermöglicht. Der Niedergang programmatischer Politik wie auch einer Politik, die durch gesellschaftliche Stellvertretungsmodelle die Integration in die Räume der klassischen politischen Sphäre sucht, läßt eine Leere entstehen, die allmählich durch den Aufbau neuer nicht-souveräner Territorien gefüllt wird. Der Niedergang einer auf Forderungen aufbauenden Politik, macht den Weg für eine neue politische Geographie frei, bei der es um die Schaffung neuer Formen des Lebens geht, um Orte, die schon ehe sie sich materialisieren ethisch sind, ein Gewebe beweglicher und nicht verdingbarer Beziehungen.

Der Punkt ist nicht, daß physische Orte nun die wichtigste Stütze der gegenwärtigen Bewegungen geworden sind, sondern nur, daß ihre materielle und strategische Infrastruktur auf diesen beruht. Wenn wir den Begriff ‘autonome Zone’ so verstehen, daß er sich auf ein Gebiet bezieht, das von der Region um sie herum nicht mehr abhängig ist – nun, eine solche Sache existiert nicht wirklich. Ebensowenig handelt es einfach um eine Frage der Anwendung eines formalen Verwaltungsmodells, so als ob ‘Selbstverwaltung’ oder eine Praxis des Geschenkegebens notwendigerweise schon eine antikapitalistische Orientierung charakterisieren müßten. Noch weniger handelt es sich um Souveränität und Unabhängigkeit, um das Ersetzen der staatlichen Hoheitsgewalt mit einer anderen staatsähnlichen Hoheitsgewalt, vor allem, wenn man an die anderen gleichermaßen schrecklichen Formen denkt, die bei solchen Versuchen hervorgebracht werden können. (6) In Wahrheit geht es bei ‘Autonomie’ als einer strategischen und revolutionären Frage nicht primär um Selbstverwaltung oder eigene Herrschaft. Sie ist vielmehr eine Spannung oder ein Problem, das nur innerhalb eines dynamischen Ortes eines fortgesetzten Konflikts erwächst: Ein Kampf bleibt ‘autonom’, so lange er seine Fähigkeit erhält, beständig neue offensive und antagonistische Formen zu erzeugen.(7) Aus dieser Sicht sind Orte, an denen wir alternative Formen der Organisation und sozialen Reproduktion entwickeln können, offensichtlich hilfreich, aber ihr Entstehen sollte nicht als Endpunkt oder Kulmination des Kampfs verstanden werden.

Gebietskämpfe

Der George-Floyd-Aufstand 2020 oder die Gilet jaunes in den Jahren 2018 und 2019 waren Momente einer massiven Mobilisierung: Aufstände, die Momente eines Bruch markierten. Sie entsprangen weder anwachsenden und über sich hinausgehenden sozialen Kämpfen (8), noch stellten sie die Umsetzung irgendeines Programms dar. Dennoch erzeugten sie auf der subjektiven Ebene die Art von biographischem Bruch, die eine Rückkehr zu einem von solchen Momenten intensiven Kampfs freien Alltagsleben noch unerträglicher machen. Wer einmal von einer revolutionären ethischen Spannung bewegt wurde, kann nur noch schwer akzeptieren, daß er auf den nächsten unvorhersehbaren Aufstand warten soll, in den er sich dann reinstürzen kann. Als Antwort darauf können organisatorische Fragen entstehen: Wie können wir von diesen Aufständen lernen und zur selben Zeit durch Momente der Ebbe kommen? (9)

Hugh Farrell erkennt in Gebietskämpfen eine Form, die der Konflikt in Zeiten der starken Ebbe und der allgemeinen Reaktion annehmen kann und die bestimmte Charakteristika mit den Massenaufständen der Gegenwart gemeinsam hat. (10) Wenn wir teleskopisch auf das letzte Jahrzehnt blicken, sehen wir, wie es territoriale Kämpfe in verschiedenen Teilen der westlichen Welt geschafft haben, disparate Subjektivitäten in der Verteidigung eines Gebiets zu verbinden und einen neuerlichen Impetus zu dessen Bewohnung und Neuaufbau zu geben. Das zeigt sich am No-TAV-Kampf im Susa-Tal, an der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, am NoDAPL-Kampf in North Dakota wie auch für neuere Konflikte – wie gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline oder die Bewegung Stop Cop City in Atlanta.

Wie das Territorium die Vektoren vorgibt, um die herum sich der Kampf artikuliert, wird es von den hier initiierten Zusammensetzungsprozessen reflektiert. Aus diesem Grund bestimmt sich das hier in Frage stehende ‘territoriale Element’ sowohl physisch – es betrifft bestimmte zu verteidigende Orte oder zu blockierende Megaprojekte – wie auch affektiv. Das bringt einen Prozess der beständigen Neudefinition und Transformation mit sich, den die den jeweiligen Ort bevölkernden Menschen hervorbringen. (11) So hat zum Beispiel die unter dem Namen Les Soulèvements de la Terre (‘Aufstände der Erde’) bekannte Bewegung versucht, eine Verbindung zwischen verschiedenen Subjektivitäten zu entwickeln, die in mancher Beziehung der oben beschriebenen Bewegung gegen die Rentenreform ähnlich ist. In diesem Fall setzt sich das Gewebe aus Bauern, Landbewohner, ‘ZADisten’ und die ‘Klimageneration’ zusammen, zusammengebracht durch eine Reihe von Gebietskämpfe quer durch Frankreich – der berühmt-berüchtigste davon fand gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline statt.

Auch im Kampf in Atlanta, der sich unter dem Slogan ‘Stop Cop City / Defend the Forest’ zusammengefunden hat, zeigte sich ein territoriales Element. Da der umkämpfte Ort sich nicht in einer ländlichen Gegend befindet, sondern ein Wald innerhalb Atlantas ist (einer Stadt, die selbst innerhalb eines Walds liegt), hat sich die Zusammensetzung eher aus verschiedenen lokalen Jugendsubkulturen ergeben, die extrem lebendig sind (Aktionswochen finden oft zusammen mit Musikfestivals statt). Diesen haben sich anarchistische und ökologische Elemente aus dem ganzen Land ebenso angeschlossen wie lokale politische Gruppen, etwa Stadtteilaktivisten, Assoziationen zur Abschaffung der Polizei (die versuchen, den Ausschreitungen der 2010er und 2020er Jahre eine Kontinuität zu geben) und religiöse Gemeinden.

Die Kämpfe in Atlanta und Sainte-Soline teilen mit den meisten Klimabewegungen keine gemeinsame Grammatik, da letztere größtenteils zu friedlichen Demonstrationen und symbolischen Aktionen tendieren, mit dem Ziel ‘Awareness’ für die Klimakrise zu kultivieren. Deren strategischer Horizont räumt dem Stellen von Forderungen an diverse Institutionen die Priorität ein, unter Zurückweisung der Möglichkeit, alternative Lebensweisen hervorzubringen. Es handelt sich hierbei letztlich um einen gefährlichen Wunsch nach dem unumschränkten Schrecken eines ‘Klimaleviathans’ von derselben Sorte, wie ihn der grüne Pseudo-Leninist Andreas Malm fordert.

Es lohnt sich, festzuhalten, daß – während sich in ‘Nicht-Bewegungen’ wie den Gilets jaunes oder den Kämpfen um die Rentenreform von 2023 der Prozess der Zusammensetzung unabhängig von irgendeiner expliziten Intention Seitens der einzelnen Segmente ergab – man in Atlanta oder Sainte-Soline explizit und absichtlich eine Strategie der Zusammensetzung verfolgte (wenn auch nur durch einem Teil der einzelnen Elemente), die von bestimmten vorher existierenden politischen Netzwerken vorangetrieben wurde. Eine solche Strategie zielt durch die Kooperation verschiedener Gruppen darauf, gemeinsame Ziele auszusprechen und Aktionen zusammenzustellen oder zu ‘komponieren’, die den Widerspruch eskalieren und intensivieren. Auch wenn dieser Prozess zeitweise den Eindruck einer Legierung oder Fusion verschiedener Gruppen erwecken kann, versucht man letztlich, die jeweiligen Unterschiede im Verlauf des Kampfes zu konservieren, wenn auch ohne der sklerotischen Tendenz zu verfallen, Reflexionen über Identität gegenüber dem Sieg im Kampf selbst zu priorisieren.

Im Unterschied zu Massenaufständen sind territoriale Kämpfe nicht einfach moralische Notstände der Verweigerung, sondern verkörpern stattdessen die Schwelle zwischen dem Moralischen und dem Politischen. Dadurch ergeben sich relevante Fragen der Organisation und Strategie für jeden, der sich fragt, wie der Kampf revolutionär werden kann. (12) Wie vermeiden wir die Fallgruben eines leninistischen Avantgardismus, ohne der gegenteiligen Gefahr zu verfallen: zum bordigistischen Zuschauer zu werden, der Bewegungen nur äußerlich von der Seitenlinie interpretiert? Wie kommen wir zu einer Logik, in der die Teilnehmer sich nicht nur als integrale Teile eines spontanen Prozesses erkennen, in dem sich allmählich eine Strategie entwickelt, sondern sich ihrerseits zum Einbringen von Gesten ermächtigt fühlen, die die Grundlagen und Prozesse ändern, ohne dabei zu versuchen, diese Gesten oder ihre Bahnen zu kontrollieren, vielmehr zuzulassen, daß diese von anderen reproduziert werden?

Ein aktueller Text (13) über die cortèges de tête erinnert uns, dass sogar zahlenmäßig kleine Assoziationen gelegentlich erfolgreich Taktiken einbringen können, die den gesamten strategischen Plan eines Kampfes verändern oder sogar destabilisieren. Manchmal ist Destabilisierung genau das, was eine Bewegung braucht, um davor gefeit zu sein, zu versteinern oder in einer Sackgasse stecken zu bleiben. Sie stärkt die Fähigkeit der Bewegung, Konflikte auszuhalten, erweitert ihren taktischen Horizont und nährt ihre kreativen Fähigkeiten.

In gewisser Hinsicht ist das die Wette von Adrian Wohlleben in seinem Essay ‘Memes without End’ (14): Durch die Einführung von Gesten, die sich über die sie initiierenden Subjektivitäten hinaus ausbreiten und vervielfältigen, können kleine Gruppen in bestimmte sozialen Bewegungen intervenieren und sie aus deren intern verfestigten Bedingungen hinausbugsieren und dadurch ihren Horizont für eine radikale Veränderung erweitern. Um Kämpfe oder militante Gruppen aus ihren Sackgassen des Reformismus oder des Märtyrertums herauszubringen, ist es entscheidend, die Verfestigung ihrer Taktiken zu verhindern, jede exklusive Kontrolle über die Praktiken zu untergraben und gegen die Zentralisierung der Strategie zu arbeiten.

Sackgasse

Die Sackgasse, in der viele der Kämpfe der jüngeren Zeit stecken, besonders jene von ‘Aufstände der Erde’, scheint derjenigen sehr zu ähneln, mit der die Mobilisierung gegen die Rentenreform konfrontiert war: Die Kristallisation eines Antagonismus, die den Kampf in einer wesentlichen Dialektik mit dem Staat befestigt. Die Stabilisierung einer solchen Dialektik läuft zweierlei Gefahr, in eine Sackgassensituation zu geraten: zunächst die einer Wiedereingemeindung (Rekuperation), Entkräftung oder Deeskalation des Konflikts, einschließlich der Möglichkeit einiger Konzessionen oder eines Teilsiegs wie im Fall des ZAD (15); und dann die eines symmetrischen Konflikts, der unmittelbar in einer hoch militarisierten direkten Konfrontation enden kann.

Wenn wir den Blick uns selbst zuwenden, unserer Subjektivität, laufen wir Gefahr, unsere Beteiligung an der Bewegung in eine Art entfremdeter Militanz zu verfestigen, die uns von dem trennt, was Bordiga ‘die historische Partei’ (16) nennen würde, oder dem, was wir auch die wirkliche Bewegung nennen können. Diese Trennung (die bolschewistische), die an der Spitze der Bewegung eine Avantgarde sieht, die die Bewegung organisiert, und die im ganzen zwanzigsten Jahrhundert als wichtige taktische und strategische Formel gedient hat, hallt heute in all diesen Bewegungsstrategien wieder, die darauf abzielen, Gegenmächte oder Gegensubjekte zu konstruieren, ohne zu realisieren, daß die Macht, gegen die sie opponieren wollen, keine spezifische Konsistenz hat und in wichtigen Hinsichten ‘anarchisch’ (17) ist.

Zudem übersehen diese Analysen den ganz und gar entscheidenden Fakt, daß die Aufstände von heute eine völlige Abwesenheit irgendeines politischen Massensubjekts aufweisen, das fähig wäre, den Konflikt zu zentralisieren. Dieses wurde durch eine Fragmentierung von Massensubjektivitäten ersetzt. Die resultierenden Konflikte werden durch eine Reihe ethischer Spannungen zerrissen, ohne daß eine gemeinsame ideologische, diskursive oder programmatische Grundlage gefunden würde. Von Hong Kong über Chile bis zu den Gilets jaunes ist das revolutionäre ‘Wir’ zu einem erfahrungsbasierten und ethischen ‘Uns’ verfallen, ohne gemeinsame Sprache. Doch genau aus diesem Grund ist sie kaum für die traditionellen Rekuperationstechniken anfällig, die der klassischen Politik zukommen. Jeder, der sich vorzustellen versucht, wie die Konflikte unserer Zeit echte Revolutionen werden könnten, muß sich mit dieser Realität herumschlagen und die Nostalgie für (oft mystifizierte) alte Epochen aufgeben, in denen ein Massensubjekt den Motor der Kämpfe bildete. Wir leben in einer Epoche, in der Klasse keine soziologische oder politische Einheit mehr findet, sondern nur eine ethische und subjektive, geformt in und durch den Moment des Aufstands. Klasse ist von einer Reihe von Vektoren durchzogen, die sie sozial fragmentieren; ‘Identitätspolitik’ ist dabei nur eine symptomatische Form.

Statt künstlich neue soziale oder politische Einheiten zu inszenieren, muß jeder revolutionäre Kampf mit dieser sozialen Fragmentierung und der anarchischen Natur der gegenwärtigen Macht zurechtkommen. Anders als die Fantasie einer ‘konstituierenden Macht’ oder einer ‘Gegenmacht’ ist die Option der Destitution die einzige, die fähig ist, inmitten einer Realität, in der die Illusionen formeller politischer Repräsentation zu reinen Trugbildern verkommen, eine revolutionäre Strategie vorzuschlagen. Unter solchen Bedingungen bleibt einem Antagonismus, der sich damit zufrieden gibt, die Trugbilder seiner Gegner zu spiegeln, nur der Amoklauf. (18)

Das Kapital drückt sich, indem es sich verselbstständigt hat und in die Phase seiner wirklichen Herrschaft eingetreten ist, nicht mehr in einer Reihe abstrakter oder hegemonialer Prinzipien aus. Es verfügt über kein anderes regulatives Prinzip als sein eigenes Überleben und seine Reproduktion, wenn nötig mit gewaltsamer Repression. Aus diesem Grund hat es keine Bedenken, seine schreckliche Brutalität offenzulegen und alles zu zerschlagen, was es als Bedrohung verstehen kann. Die dialektische Beziehung zwischen Kapital und Arbeit, vielen Marxisten so lieb, wird fortwährend vom Kapital selbst gebrochen. Ob nun aus einer Nostalgie für irgendeinen verlorenen demokratischen Horizont oder aus anderen Gründen: Zu glauben, daß man diese durch die Mittel des Kampfs wieder herstellen könnte, ist von Anbeginn eine verlorene Wette, wie die Sackgassen gezeigt haben, in denen die Bewegung für eine alternative Globalisierung und der ganze post-proletarische Vorschlag von Negri und Hardt gelandet sind. Wie konnten wir in der polizeilichen Repression von Seattle 1999 und Genua 2001 nicht das Schreckgespenst eines von der Herrschaft leicht gekämpften und gewonnenen Bürgerkriegs sehen? Während die ‘Tute Bianche’ [globalisierungskritische Bewegung in Italien, die mit weißen Overalls auftrat] auf einer rein symbolischen Ebene Trugbilder bekämpften, zerschlug die Gegenseite die Bewegung mittels Gewalt und Angst.

Ganz ähnlich könnte man die mörderische Gewalt sehen, die die Polizei gegen die Protestierenden in Sainte-Soline ausübte. Wann immer eine antagonistische Gewalt das öffentliche Konfliktniveau erhöht und es auf eine hoch symbolische Ebene bringt, gibt sie sie sich der Repression klar und deutlich zu erkennen, die keine besonderen Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren und alle zur Zerschlagung des Gegners notwendigen Mittel zu mobilisieren. Die Frage der Gewalt muß sich so von einer doppelt spiegelnden Naivität befreien: auf der einen Seite von einer gewaltfreien Opferposition, die glaubt, man könne die Gewaltverhältnisse allein auf dem diskursiven oder kulturellen Level ändern, indem man die Gewalt des Staates denunziert und auf der anderen Seite eine Wiederaneignung der Gewalt, die versucht, einen kraftvollen Feldzug zu starten, der dem des Staates symmetrisch ist. Das birgt das Risiko, die produktiven und erfinderischen Potentiale des Konflikts in eine Konfrontation zwischen zwei etablierten Fronten zu kanalisieren, von denen die eine militärisch vollständig dominiert.

Destitution (Entsetzung)

Anders als symmetrische und dialektische Modelle der Konfrontation, die Formen der Regierung nur opponieren, um Alternativen vorzuschlagen, ist Destitution eine Form der Verschwörung, die darauf abzielt, den Apparat, der das Leben und Verhalten des neoliberalen Subjekts regiert, zu deaktivieren und abzuschalten, sowohl territorial, als auch subjektiv. Eine revolutionäre (destituierende) Subjektivität in der heutigen Epoche entleert die Macht und verwehrt sich dabei einer Identität oder anderer Formen der Subjektwerdung.

Destitution ist eine opake Kunst, die Anarchie der Macht umzuwerfen – in Richtung auf wirkliche Anarchie, verstanden als ein Leben, das keine Legitimität braucht und im freien Spiel und Austausch zwischen den Lebensweisen wurzelt. Folgt man dem Unsichtbaren Komitee, besteht eine Möglichkeit, die Anarchie der Macht mittels Aktionen offenzulegen, darin, ihre Grundlosigkeit zur Schau stellen. Das heißt nicht, ihre Gewalt zu denunzieren, um einen demokratischen Skandal auszulösen, sondern vielmehr, Schläge auszuführen, die zeigen, daß die wahre Natur der Macht bar jedweder abstrakten Legitimität ist (ein Gesellschaftsvertrag, Demokratie, Gleichheit, Nation, Ordnung etc.). Ebenso braucht auch eine Geste der Destitution keine Legitimität, da sie ihren Ausdruck in einer vernünftigen und ersichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit verankert, die keine diskursive Bedeutung benötigt. Solche Gesten zwingen die Polizei, sich als das zu zeigen, was sie ist: eine kriminelle Bande wie alle anderen, die um die Herrschaft über ein Gebiet kämpft.

Folgt auf eine Geste der Destitution, die die Macht zwingt, wieder auf Erden zurückzukehren und sich in ihrer Materialität zu zeigen, ein konstituierender Prozess (einer Strategie und eines Subjekts), wird der Konflikt wahrscheinlich zu einem frontalen Zusammenprall mit den Gewalten der Ordnung führen. Er wird zu einem tragischen Krieg in einer symmetrischen Konstellation, in der die konterrevolutionären Kräfte (die Polizei) all ihre überwältigenden Kräfte einsetzen werden, um die Schlacht zu gewinnen. (19) Das passiert jeder Bewegung, die, wenn sie in ihrem Widerspruch zum Staat in eine Sackgasse geraten ist, entweder ins Verfallsstadium eintritt oder einen Kern freilegt, der das Level des Kampfes kontinuierlich so zu erhöhen trachtet, bis er auf tragische Weise militärisch wird und jeder revolutionäre Schimmer erlischt. Der Bürgerkrieg versteinert in zwei feste Fronten, mit einem Gegner, der neben dem militärischen Vorteil auch noch das Privileg hat, sich auszusuchen, auf welchem Feld die Schlacht geschlagen wird.

Diese Wahrheiten zeigen sich uns im gegenwärtigen französischen Kampfzyklus: Einerseits die innovative Fähigkeit des Aufbruchs, eine neu zusammengesetzte Subjektivität zu initiieren; eine Fähigkeit, die in sich selbst als destituierend betrachtet werden muß, insofern sie Erfolg dabei hat, sowohl einer dialektischen Logik mit dem Staat zu entgehen, als auch sich in praktischem und rhythmischem Sinne fortwährend neu zu erfinden (etwa bei der Wahl des Zeitpunkts der Aktionen). Wenn ‘Aufstände der Erde’ eine große Fähigkeit gezeigt hat, die Polizei in Schach zu halten und bloßzustellen, ist das ganz analog zum großen Teil der innovativen Kraft zu verdanken, die die neue Zusammensetzung hervorbringen konnte. Allerdings scheint diese Fähigkeit, neue unerwartete Formen hervorzubringen, am 25. März nachgelassen zu haben, wo sich die Zusammensetzung eher verfestigte und die angewandte Strategie ähnlich der vom Vortag war. Das Ergebnis war eine Reihe von Entscheidungen, die für die Polizei vorhersehbar geworden waren, die sich dazu entschied, die Ankunft der Demonstration abzuwarten und eine ‘Belagerungs’-Dynamik zu beginnen, welche es ihr ermöglichte, die Menge brutal anzugreifen. Die darauf folgenden Analysen der taktischen Fehler in diesem Fall sind sicherlich stichhaltig (20), aber um in der Lage zu sein, die Sackgasse vom 25. März zu umgehen, wird eine Neuformulierung der allgemeinen strategischen Annahme erforderlich sein, die zur Automatisierung und Verhärtung der Organisationsfähigkeit geführt hat, wodurch verhindert wurde, daß die Bewegung improvisieren und die Gegenseite verwirren konnte wie noch im letzten Oktober.

Eine Annahme könnte sein, auf eine Verbreiterung des Zusammensetzungsprozesses abzuzielen: In dieser Hinsicht haben Versuche, den Kampf um den Wasserspeicher auf eine internationale Ebene auszuweiten, auf der einen Seite dazu geführt, daß das Niveau der Erwartungen an die Konfrontation erhöht wurde (eine Gelegenheit, die zu ergreifen die Polizei sich nicht nehmen ließ); auf der anderen Seite kann eine Internationalisierung die Neuformulierung der taktische Organisierung der Demonstration erschweren. Und wenn wir zurückblicken, haben internationale Treffen und Kampagnen, die einen Kampf quantitativ vergrößern sollten, selten einen qualitativen Sprung herbeigeführt. Wenn überhaupt irgendwas, dann kündigen sie oft den Abstieg und Niedergang der Wirklichkeit der Kämpfe an. Im Gegensatz dazu ist unsere Annahme, daß die Stärkung und Vertiefung eines Kampfes eher aus der Intensivierung der Beziehungen der sie zusammensetzenden Komponenten erwachsen oder vielleicht auch von einer abwechselnden Zersetzung und Neuzusammensetzung, die neue und nicht vorhersehbare Formen der Improvisation hervorbringen könnte.

Bis März 2023 war die Bewegung in Atlanta in der Lage, die Initiative zu halten, indem sie eine Reihe von Aktionen ausführte, die die Polizei fast immer unvorbereitet trafen. Das ist natürlich so, weil die inneren Dynamiken der Bewegung extrem undurchsichtig sind, vor allem für die Polizei, die weiter im Dunkeln nach einer radikalen Führungsgruppe sucht, die für die zerstörerischsten Aktionen verantwortlich ist, aber auch, weil jede Aktionswoche unterschiedlich und in hohem Maße improvisiert gewesen ist. Während der ‘Aktionswoche’ vom März 2023 hat dieser Vorteil die Bewegung dazu verleitet, das Niveau so sehr zu erhöhen, dass schneidendere Formen der direkten Aktion schwer vorstellbar sind. (21) Zur selben Zeit war die Polizei gezwungen, mit einer willkürlichen Festnahme einiger Leute zu antworten, gegen die der schwere Vorwurf des ‘inländischen Terrorismus’ erhoben wurde. Als sich die Stadt Atlanta fast einen Monat später entschloss, das Projekt voranzutreiben und anzufangen, einen Teil des Waldes abzuholzen und dessen Umgebung zu militarisieren, vermied es die Bewegung, auf den Schritt der Stadt zu reagieren und in die Falle zu treten (das hätte heißen können, die Baustelle zu besetzen). Zur selben Zeit haben Versuche, anderswo anzugreifen und den Konflikt zu dezentralisieren, bislang offenbar noch keine effektiven Formen gefunden, trotz der guten Intuition (quer durch die USA fanden zahlreiche Aktionen statt, um die mit dem Cop-City-Projekt verbunden Gegebenheiten zu ‘sanktionieren’). An diesem Punkt besteht die einzig verfügbare Strategie darin, die explosiven Widersprüche innerhalb der demokratisch regierten Stadt zu schüren, indem der Druck auf den Bürgermeister immer weiter erhöht wird, dabei den breiten Konsens ausnutzend, der gegenüber der Bewegung in der Bevölkerung besteht. Dies könnte die Achse des Kampfes jedoch jenseits der Fähigkeiten der Bewegung verschieben. Wie manche Leute, die schon lange Teil der Mobilisierung sind, erkannt haben, könnte die Einbindung neuer Subjektivitäten in den Zusammensetzungsprozess neues Leben in den Kampf bringen, wie es schüchtern im Fall der Studenten passiert ist, die bestimmte Universitätsgebäude in Atlanta besetzt haben, oder durch das Experimentieren mit praktischen Formen, die einen qualitativen Sprung bei der Unterstützung und beim Engagement bei den dem Projekt feindlich gegenüberstehenden ‘Bürgern’ herbeiführen geeignet sind.

Wenn eine Bewegung nicht länger zur Verteidigung (oder zum Angriff) in der Lage ist, weil sie ihre taktischen Ressourcen aufgebraucht hat, besteht das Risiko des Rückfalls in politische Dynamiken. Die Strategie fängt an, zurück in repräsentative Formen der Politik zu rutschen, taktische Entscheidungen fallen leicht zugunsten performativer Formen, die darauf zielen, auf der Ebene der Öffentlichkeit oder der Medien zu intervenieren. Das Geschehen in Atlanta oder auch in Frankreich (besonders kürzlich in Val Maurienne), ist dem Risiko ausgesetzt, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie die No-TAV-Bewegung in Italien. Konfrontiert mit ihrem Niedergang, fing diese an, sich in repräsentativer Politik zu fliehen, entweder, indem sie die ‘Demokratie’ nutzen wollten oder einfach, indem man in stumpfen Aktivismus zurückfiel und Medienaufmerksamkeit suchte. In diesen Momenten öffnet die ‘Strategie der Zusammensetzung’ nicht mehr den Weg Richtung Revolution. Stattdessen fallen die Gruppen in immer stärker identitäre Dynamiken zurück; die politischeren fangen dann an, Konsensbildung zu betreiben und ihre Position im Auge der Öffentlichkeit zu stärken, ‘Kapital’ aus dem Konflikt zu schlagen. Die starke moralisch-politische Spannung am Grunde des Kampfes wird ersetzt durch eine Dynamik der Öffentlichkeit und Politik. Wenn Politik öffentlich wird, setzt sich die Bewegung nicht nur der Repression aus, sie verliert auch die Fähigkeit, zu improvisieren und unvorhersehbar zu bleiben.

Eine Strategie der Zusammensetzung kann die revolutionären Möglichkeiten eines Kampfes nur dann ‘offenlegen’, wenn sie offen bleibt und dabei eine Zielrichtung der Destitution verfolgt. Das heißt einerseits, sich immer in Richtung Flucht vor jedweder dialektischen Dynamik mit der Macht zu orientieren, und andererseits, die aus dem Zusammensetzungsprozess entstandenen Formen einer ständigen Neukombination und Brüchen auszusetzen. Eine Neukombination kann, wie im Beispiel der Mobilisierung gegen die Rentenreform, durch das Einbrechen eines neuen, für der Macht schwer zu entziffernden Protagonisten stattfinden. Oder sie versucht bei Schwierigkeiten, Platz für neue Komponenten zu machen, weitere Konfigurationen des Zusammentreffens und Kontakts zwischen den kämpfenden Subjektivitäten zu entdecken und Wege der Desubjektivierung zu suchen, um einen Versteinerungsprozess zu verhindern.

Und wenn kein neuer Rhythmus gefunden werden kann, wenn die experimentellen Fähigkeiten erschöpft worden sind, müssen wir den Beginn des Verfallsprozesses erkennen, da jeder voluntaristische Versuch der Wiederbelebung nur in Formen von Opferungsmilitantismus endet, der die Macht spiegelt, die bekämpft werden soll. Aus einer breiteren strategischen Sichtweise kann solch ein Wille zur Opferung auch in einem Verlust der Lektionen resultieren, welche der Kampf ansonsten lehren und weitergeben hätte können, die logistischen, organisatorischen und praktischen Fähigkeiten, die andernfalls ein Schlüsselvermögen für eine neue Phase des Konflikts in der Zukunft sein hätten können.

In einem Wort: Die revolutionären Möglichkeiten jedes Kampfes hängen von seiner Fähigkeit ab, destituierende Kraft zu erschaffen und zu erhalten; und das in einem Prozess der Negation und Selbstnegation, der sich durch fortlaufendes Experimentieren und Improvisieren selbst regeneriert. Revolution ist eine alchimistische Kunst: Bei ihr geht es um das Gießen von Gold, Stahl und Blut, um damit neue Verbindungen zu erzeugen, neue Strategien zu kombinieren, und das Ganze in einer endlosen Heterogenesis.

Nicolò Molinari, 23. Juni 2023

Anmerkungen

(1) Temps critiques: La protestation en cours sur les retraites. Du refus à la révolte?, in: Lundi matin #377, 4. April 2023

(2) Siehe Endnotes: Onward Barbarians

(3) Anonym: Sortir de l’antagonisme d’état, Lundi matin #378, 11. April 2023

(4) Joshua Clover: Riot. Strike. Riot, Verso 2016. Der Autor bezieht sich besonders auf die Kommune von Oakland.

(5) Die folgenden zwei Text spüren klare Verbindungen zwischen zwei bedeutenden Erfahrungen in den USA der 2020er auf: in Atlanta und in Seattle. Anonym: At the Wendys, Ill Will, 9. November 2020, und: Anonym: Get in the Zone. A Report from the Capitol Hill Autonomous Zone in Seattle, It’s going down, 8. Juni 2020

(6) Über das Verhältnis zwischen Verwaltung und Hoheitsgewalt und wie die Erfahrung der Zapatisten erfolgreich bestimmten Untiefen westlichen radikalen Denkens entkommt, siehe: Jerome Baschet: Zapatista Autonomy. A Destituent Experiment?, Ill Will, 7. September 2022

(7) Zu diesem Gebrauch des Begriffs ‚Autonomie‘ siehe Adrian Wohlleben: Autonomy in Conflict, in: The Reservoir, Vol. 1

(8) Im Original steht der ungebräuchliche Begriff Transcrescence und dazu folgendes Kommentar in einer Fußnote: „Transcrescence ist ein Begriff, den Jacques Camatte verwendet, um den Übergang des Kapitalismus in eine radikalere Stufe zu beschreiben, die nun keine Vermittlungsebenen mehr benötigt, da das kapitalistische Gesetz die Gesellschaft und ihre Subjekte vollkommen durchdrungen hat. Beispielsweise erscheint Arbeit nun nicht mehr als dialektischer Widerspruch zum Kapital, sondern wird Teil des Kapitals. Der Kapitalismus ist damit keine Wirtschaftsform mehr, sondern eine Zivilisation.“

(9) Aus einer subjektiven Perspektive ist die Leere, die am Ende eines Aufstands bleibt, vor allen Dingen ethisch und affektiv. Dies steht im Kontrast zu anderen, eher nostalgischen Argumenten, die mit der Arbeiterbewegung verbunden sind, die die politische Leere betonen, die als Folge bleibt, und die Abwesenheit eines verläßlichen politischen Subjekts hervorheben. Siehe zum Beispiel: Maurizio Lazzarato: The Class Struggle in France, Ill Will, 14. April 2023. Oder allgemeiner dessen Buch Guerra o rivoluzione, Derive Approdi, 2022

(10) Hugh Farrell: The Strategy of Composition, Ill Will, 14. Januar 2023

(11) In einem neueren Text mit dem Titel ‚Tragic Theses‘ argumentiert der Autor, daß territoriale Kämpfe ein Beispiel für den Versuch bieten, die Grenze zwischen den Arten, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zu überwinden oder zu unterminieren, indem die Prozesse der Humanisierung und Dehumanisierung, die den Prozessen der Inwertsetzung von Kapital zugrundeliegen, gebrochen werden. Diese Hypothese scheint in den Slogans Bestätigung zu finden, die viele dieser Bewegungen verwenden: ‚Wir sind das Tal, das sich selbst verteidigt.‘ (NoTAV). Oder auch in den Namen selbst: ‚Aufstände der Erde‘, die auf einen Ort, ein Territorium verweisen und nicht auf ein Subjekt, das die Vermittlung zwischen den Orten darstellt. Siehe: Anonym: Tragic Theses, Decompositions, 9. März 2023

(12) Es sollte erwähnt werden, daß ‚Aufstände der Erde‘ mehr ist als ein territorialer Kampf; tatsächlich hat die gesamte organisatorische Anstrengung dieses Netzwerks in vielerlei Hinsicht einen Versuch dargestellt, die Grenzen eines bestimmten und lokalen territorialen Kampfs zu überwinden. In diesem Text liegt mein Schwerpunkt nur auf dem spezifischen Fall des Kampfs gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline.

(13) Siehe: Anonym: Pour ceux qui bougent (en 2023): 2016 dans le rétroviseur, Lundi Matin, 14. Februar 2023. Deutsch: Für diejenigen, die sich bewegen (im Jahr 2023): 2016 im Rückspiegel – (Die wahre Geschichte des Cortège de Tête)

(14) Adrian Wohlleben: Memes without End, Ill Will, 16. Mai 2021

(15) Zur Komplexität dieses Falls siehe: Anonym: Victory and its Consequences, in: Liaisons, Vol. 2

(16) Bordiga-Schüler werden mir hoffentlich diese krasse Übersimplifizierung des Unterschieds zwischen historischen und formalen Parteien verzeihen.

(17) Dieser Ausdruck stammt aus: Katherine Nelson: The Anarchy of Power, South Atlantic Quarterly, 122-1, Januar 2023. In der nachfolge von Rainer Schürmann argumentiert Nelson, daß die Krise der Moderne einen Niedergang der metaphysischen Rahmen mit sich gebracht hat, auf denen die Formen der Macht in der modernen Zeit gebaut waren. Der Nihilismus hat diese Rahmen bloßgestellt, die, einmal entschleiert, nur noch einen unaufhaltsamen Verfall durchlaufen können. Im Ergebnis ist das System unseres Zeitalters wesentlich nihilistisch und anarchisch. Angesichts dieses Verfalls sucht sich die Macht nicht mehr eine Reihe universeller oder totalisierender Rechtfertigungen, wie sie es in der ganzen Geschichte westlicher Modernität getan hat, sondern sie definiert sich nun neu als reine Gewalt, gewaltsame Herrschaft. Michele Garau ist in seinem neuen Werk über Jaques Camatte zu ähnlichen Schlüssen gekommen (siehe: Garau: The Community of Capital, Ill Will, 23. April 2022). Garau zufolge geraten die Rechte und Formen des liberalen Staates Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Krise. Die Repräsentationen, mit denen das Kapital sich ausgestattet hat, um das Vakuum zu füllen, das durch die Zerstörung der kommunitaristischen Bindungen, die ihm vorhergingen, stellen kein zusammenhaltendes Element mehr dar, da die ökonomischen Verhältnisse die sozialen durchdrungen haben und das Kapital der Gesellschaft selber immanent geworden ist, dem ‚Sozialen‘, und so nicht länger eine Reihe von Externalisierungen oder Transzendenzen in Form von Institutionen oder Werten produzieren muß, die als Klebstoff für eine Bevölkerung separierter Individuen dienen muß. Diese Thesen hat Jaques Camatte in den späten 1960ern und frühen 70ern entwickelt. Sie wurden, wie Garau bemerkt, von Negri aufgenommen und zwar in seinem Text Crisi dello stato piano von 1972, in dem der Autor bürgerliche Freiheiten und den Nationalstaat nicht mehr als Schein, sondern als doppelten Schein beschreibt. Macht ist nun zufällig und willkürlich. Geld ist die totale Repräsentation geworden und wird so zur Herrschaftsform über der sozialen Welt; dabei hat es jeden sozialen Grund, zu existieren, verloren und beruht ausschließlich auf Klassengewalt. Der Staat nimmt nunmehr eine Rolle ein, die keine mehr der Vermittlung ist, sondern die politische Basis für die Herrschaft des Kapitals bereitstellt.

(18) Im Gegensatz zu denen, die behaupten, daß die Hypothese der Destitution einfach nur einen Vorschlag für weitere Revolten und das Aufheben der historischen Zeit darstelle, wurde die Idee der desituierenden Macht tatsächlich von Agamben und dem Unsichtbaren Komitee als Versuch formuliert, einen revolutionären Weg aufzuzeigen, der nicht auf den selben Felsen Schiffbruch erleidet, die schon so lange moderne Revolutionen zu Konterrevolutionen werden ließen.

(19) In The Anarchy of Power betont Nelson einige Grenzen bei der Überführung einer destituierenden Macht in eine Gegenmacht: „Eine Politik, die sich jedem Anspruch auf Legitimität verweigert, kann tatsächlich, wie das Unsichtbare Komitee schreibt, die Regierung dazu zwingen, ‚sich auf die Ebene der Aufständischen zu erniedrigen, die dann nicht länger mehr die ‚Monster‘, Kriminellen’ oder ‚Terroristen‘ sein können, sondern ganz einfach Feinde’; sie kann ‚die Polizei zwingen, fortan nichts mehr als eine Bande zu sein, und das Justizsystem zu einer kriminellen Vereinigung machen‘. Damit ist jedoch das Risiko verbunden, daß der folgende Kampf zu einem ‚Kampf um Leben und Tod‘ zwischen den Fraktionen wird. In solchen Fällen wird eine zu kurz gefaßte Destitution zum zerbrochenem Metonym einer sinnvollen politischen Existenz – und produziert dabei Opfer einer anarchischen Epoche. Um das klar zu sagen: Eine solche tödliche Identifikation von dem, was man ist oder was wir sind, mit dem, was zu tun ist, von Sein und Praxis ist überhaupt nicht bezeichnend für Destitution – jedoch ist es das Risiko, das gebe ich zu, welches eine Politik der Destitution besonders und wesenhaft birgt.‘

(20) Siehe: Les Soulèvements de la Terre: To those who marched at Sainte Soline, Ill Will, 24. April 2023

(21) Eine ganze Baustelle wurde in Brand gesteckt.

Diese Übersetzung stammt vom Et al. Kollektiv [PDF Version] und wurde Bonustracks zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, um den Text breiter bekannt zu machen.