Auf der Spur der Schurken [Rezension]

Jack Orlando

Eine Rezension von Atanasio Bugliari Goggia: La Santa Canaglia.Etnografia di militanti politici di banlieue; Ombre Corte, Verona 2023, 345 S. €25

Sich dem Thema der politischen Militanz in den Banlieues des 21. Jahrhunderts anzunähern bedeutet, mit einer der heißesten Fronten der sozialen Brüche, die das krisengeschüttelte Europa bewegen, auf Tuchfühlung zu gehen, und es ist unerlässlich, dass ein politischer Wille und nicht eine akademische Absicht die Operation leitet.

Bereits 2022 hatte Bugliari Goggia die Frage mit dem Band Rosso Banlieue 1 angesprochen, dessen Untertitel so eindeutig wie immer lautete: Ethnographie der neuen Klassenzusammensetzung in den französischen Vorstädten.

Der erste Band untersuchte die Form, die die subalterne Zusammensetzung im Laufe der Zeit angenommen hatte: vom Ende der weißen Arbeiter in den roten Zitadellen mit ihren politischen und ästhetischen Repräsentationen bis hin zu einer sozialen Mischform, die auf den ersten Blick eher dem Lumpenproletariat ähnelt, wo es keine Repräsentation gibt und die farbliche Linie die Gemeinschaft durchzieht.

Eine Entwicklung, die ihren Ursprung in der liberalistischen Linie hat, die nach der Niederschlagung des letzten Arbeiteraufstands (wenn wir ihn wirklich Arbeiter… nennen wollen) ihren Krieg gegen die Menschen unerbittlich fortsetzt, mit dem Ziel, eine Welt nach eigenem Gutdünken aufzubauen. Die Banlieue, die von allen von unten errichteten Architekturen der Macht befreit wurde, ist zum Terrain der Krise geworden, auf dem die städtische Geografie, die prekäre Arbeit, der abgebaute Sozialstaat und die polizeiliche Kontrolle die Voraussetzungen für die Entwicklung von Arbeitskräften schaffen, die am Rande des Überlebens stehen und immer wieder bereit sind, in geringen Zahlen und unter allen Bedingungen in die Produktionsmechanismen einzutreten.

Aber auch wenn dies der Plan des Liberalismus ist, so hat die Banlieue auch ein anderes Gesicht. Das des Territoriums, in dem die Gemeinschafts- und Klassensolidarität die Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens zusammenhält, in dem die Bedingungen der Subalternität dank der weit verbreiteten und vielgestaltigen Aktivitäten einer Konstellation von Gruppen und Vereinigungen, die sich von unten her bewegen, verwässert und bekämpft werden, in dem man ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität entwickelt und vor allem in der Lage ist, sich massenhaft gegen die Gewalt der gegenwärtigen Verhältnisse aufzulehnen.

Es ist schließlich eine menschliche Eigenschaft, das Unbewohnbare bewohnen zu können.

Nachdem mit dem ersten Band das Gesamtszenario umrissen wurde, wird La Santa Canaglia als weitere vertiefende Studie vorgeschlagen, die sich perfekt in die vorangegangene Arbeit einfügt und mit ihr in einen Dialog tritt: Nachdem wir das Subjekt identifiziert haben, beobachten wir die Formen und Instanzen seines Widerstands; welche Kräfte in der Lage sind, den parteiischen Gefühlen und Bedürfnissen von unten eine Struktur zu geben, welche Prozesse der Aktivierung und Politisierung im Umfeld der Banlieues möglich sind.

Der rote Faden der Forschung, der sie zusammenhält, ist die Positionierung des Forschers: kein Wissenschaftler, der von außen beobachtet, sondern ein Militanter, der von innen heraus handelt, der politische Arbeit leistet. Dies ermöglicht die Verflechtung von “wissenschaftlichem” Wissen und politischem Willen: eine Fülle von theoretischen Bezügen, Analysen und Interpretationsrastern wird in Gang gesetzt, aber sie werden den Bedürfnissen einer militanten Untersuchung angepasst, deren Ziel im Wesentlichen darin besteht, sich in den Dienst des Kampfes zu stellen, Wissen zu teilen, damit es ein Instrument der Emanzipation und des Kampfes sein kann. Insbesondere durch die Identifizierung und Wiederherstellung der Konturen des Widerstandsprozesses, der die Bewohner der französischen Vorstädte dazu bringt, die aufgezwungene Rolle des Futters für den Markt abzulehnen und ein autonomes kollektives Subjekt zu werden.

Es ist weder zufällig noch ungewollt, dass die gleichlautenden Titel an das Werk von Danilo Montaldi, Militanti politici di base, erinnern.

Die Banlieusard-Jugendlichen, die sich als Lager der “Stimmlosen” etablieren, finden ihre eigene Sprache und setzen sich durch Unruhen, Aufstände oder Revolten in der Welt in Szene. Durch Feuer und Straßenschlachten gelingt es ihnen, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu lenken und sich für ihre Situation zu rächen.

Es liegt auf der Hand, dass ein hegemoniales Narrativ, das sie gefügig und stumm machen will, sofort dazu drängt, sie als kriminelle Banden, als zu bestrafende Delinquenten darzustellen; dass es den Verdacht einer mafiösen oder dschihadistischen Richtung unterstellt, dass es mit dem Finger auf die Familien der jungen Leute zeigt, die sich mobilisieren.

Andererseits ist es in ruhigen Zeiten nicht viel anders, nur die Tonlage ist hinterhältiger und gedämpfter, aber der Inhalt ist der gleiche. Die Kriminalisierung des Protests und die Mystifizierung seiner Forderungen ist der grundlegende Prozess, um den Unterdrückten Raum und politische Legitimität zu entziehen.

Der Politiker, der drastische Dekrete unterzeichnet, der Fernsehkommentator, der Gift spuckt, und der Polizist, der auf der Straße tötet, sind nur kleine Bestandteile eines gefräßigen Räderwerks, das auf Herrschaft und Profit aus ist.

Doch die Aufstände, die scheinbar aus dem Nichts kommen und ins Nichts führen, sind keine sinnlosen Feuersbrünste. Nichts geschieht zufällig oder wird aus dem Nichts erzeugt. Die Möglichkeit von Aufständen beruht auf der ausgeprägten Klassensolidarität, die das gesamte soziale Gefüge in den Vierteln durchdringt.

Ein instinktives politisches Bewusstsein, für das man keine Seminare braucht, ermöglicht es den Menschen, sich als Gleiche zu erkennen, sich zusammenzuschließen und in dieselbe Richtung zu marschieren.

Und tatsächlich nehmen die Banlieues aktiv an den Unruhen teil. Die Komplizenschaft ermöglicht ihre Wiederholung und Fortsetzung: Wenn die Petits auf der Straße mit der Polizei zusammenstoßen, ist der Rest des Viertels da, um sie zu schützen und ihnen Unterschlupf zu gewähren, die militanten Zusammenschlüsse (gemeint sich die ‘klassischen’ pol. Aktivisten vor Ort, d.Ü.) sind präsent, um logistische und politische Unterstützung zu bieten.

Es gibt keine okkulte Richtung, es gibt keine Generäle und Fußsoldaten in diesen Sprüngen nach vorn, ein Traum, der auf groteske Weise die ‘Politiker’ der Antagonisten und die  berufsmäßigen Bullen vereinigt.

Es gibt nur eine ständige Dialektik in den Beziehungen des Viertels, in der die Unruhen nur als Beschleuniger wirken. In diesen Phasen ebnet der Instinkt, das politische Verständnis, den Weg zum politischen Bewusstsein, d. h. zu seiner Systematisierung und Kanalisierung in einer organisierten Praxis. Die Klasse an sich und die Klasse um ihrer selbst willen, um die im Band zitierte Marxsche Terminologie aufzugreifen, verlaufen nicht linear und teleologisch, sondern stehen in ständiger Beziehung zueinander und sind Gegenstand hastiger Rückzüge und abrupter Vorstöße. Das eine ist eine konstante und minimalste Grundlage, das andere ist ihr kontingenter und geformter Höhepunkt.

Daraus folgt, dass die Revolte nicht die einzige Sprache ist, die die Banlieue spricht. Die Klassensolidarität nährt sich aus kollektiven Realitäten, die ein dichtes Netz von Beziehungen und Möglichkeiten innerhalb des Viertels weben, die Energien kanalisieren und versuchen, ihm Sauerstoff und Kraft zu geben.

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich nicht darauf, die Geschichte der Formationen und Modalitäten der Politik von unten in den Vierteln nachzuzeichnen, die immer wieder zwischen Repräsentations- und Autonomiehypothesen, zwischen Unterdrückung und Vereinnahmung gefangen sind, sondern lässt die politischen Aktivisten der Banlieues selbst zu Wort kommen.

Durch Auszüge aus Reden bei öffentlichen Versammlungen oder durch ausführliche Interviews ist sie die direkte Stimme derjenigen, die den Konflikt organisieren, die den Reichtum des Engagements und der Militanz, die verschiedenen Wege, das Aufeinandertreffen und die Konvergenz der Hypothesen wiederherstellt.

Es entsteht eine zerklüftete und vielgestaltige Galaxie, die widersprüchlich ist, manchmal konkurriert, manchmal kollidiert, manchmal konvergiert, in der aber immer wieder der Versuch unternommen wird, eine gemeinsame Kraft aufzubauen. Soziale und auf Gegenseitigkeit beruhende Aktivitäten koexistieren mit schwindelerregenden Kämpfen und direkten Aktionen; Nachbarschaftsvereinigungen und autonome Kollektive bewegen sich unabhängig auf lokaler Ebene, sind aber strategisch in einer Dimension nationaler Netzwerke oder Plattformen angesiedelt.

Was das Ganze in der Praxis zusammenhält, ist die Orientierung an den Bedürfnissen: Man bewegt und organisiert sich in Bezug auf die materiellen Bedürfnisse, die auf der Straße entstehen, seien es Wohnungs-, Gesundheits- oder soziale Bedürfnisse. Darauf konzentriert sich die Hauptintervention der Zusammenschlüsse, um die Territorien auf die Ebene des Kampfes zu bringen.

Aber, und dieses “aber” wiegt so schwer wie der Berg Tai, die Perspektive ist nicht auf das Unmittelbare beschränkt. Die Begrenzung des Handelns auf die Not ermöglicht eine Osmose mit dem eigenen sozialen Gefüge, aber sie wird zum Selbstzweck, wenn sie nicht mit einem Plan zur Entwicklung von Stärke übereinstimmt, der kleine Mobilisierungen in Prozesse radikaler Veränderung zu verwandeln weiß. Und deshalb gibt es das ständige Bestreben, ein immer breiteres, dichteres und entschlosseneres Netz zu knüpfen, wie es auch der Grund für die Präsenz der ‘politischen Aktivisten’ in den Unruhen ist.

Diese Beziehung zwischen Spontaneität und Organisation ist es, die das Fortbestehen eines kollektiven Humus ermöglicht, der in der Lage ist, den Kurven der Krise, den schrumpfenden Räumen der Legitimität zu trotzen, und immer neue Unruhen zu kreieren, die immer breiter und tiefer werden.

Der letzte  Aufstand war derjenige, der in diesem Sommer ganz Frankreich nach der Ermordung eines 17-jährigen Jungen durch einen Polizisten in Aufruhr versetzte und einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt der Radikalität sowohl in den Praktiken auf der Straße als auch in der militärischen Reaktion des Staates markierte.

Es sind Splitter einer fortgeschrittenen Gegenwart oder einer bereits vergangenen Zukunft, die in der Banlieue wieder zusammengesetzt werden. Hierin liegt die Erfüllung der politischen Absicht der Untersuchung.

Was gezeichnet wird, ist kein Bild, das zum Vergnügen eines militanten Orientalismus betrachtet wird.

Die Banlieue wird eingehend untersucht, weil sie eines der fortschrittlichsten Labore ist, in denen ein Modell sozialer Herrschaft getestet und dann serienmäßig angewendet wird. Ebenso wirft die Beobachtung ihrer Kampfformen ein Licht auf die kommenden Widerstände.

Es ist kein Zufall, dass die historische französische Trennung zwischen den städtischen Bewegungen, die in der Regel weiß und bürgerlich sind, und den Bewegungen in den Vorstädten in den letzten Jahren immer mehr verschwindet. Je mehr die liberalistische Umstrukturierung in die schwächsten Viertel der Stadt eindringt und ihre Bewohner in den Abgrund zieht, desto mehr nähern sich materielle Bedingungen und Formen des Widerstands an.

Die Cité in Flammen, die Cité, die sich selbst organisiert, ist nur ein Fragment der Wirklichkeit. Aber gerade in den Fragmenten spiegelt sich ein ganzes Universum wider.

Es versteht sich von selbst, dass die Besonderheit der französischen Vorstädte nicht einfach in andere Realitäten kopiert werden kann. Das koloniale Erbe, die identitäre Unbeweglichkeit der République, die Geschichte des Niedergangs der Arbeiterklasse und die Geschichte der schwarzen und Beur-Gemeinschaften, die Sozialpolitik und die repressive Politik sind keine Elemente, die man umschiffen kann; im Gegenteil, sie sind die Elemente, die analysiert werden müssen, um das Phänomen zu verstehen.

Paris ist nicht Mailand, das nicht Los Angeles oder Berlin ist.

Dennoch kann niemand leugnen, dass Kolonie, Gefängnis, Ausbeutung und Kontrolle die Eckpfeiler einer allgemeinen Architektur sind, die keine Grenzen kennt.

Eine Analyse, die die konkreten und spezifischen Elemente der Situation berücksichtigt, ist unerlässlich, um das Handeln zu lenken, aber mehr noch, um das Allgemeine im Besonderen zu erfassen, um Brücken zu bauen, die über das Lokale hinausgehen. Wenn man ein Stück Paris in Mailand einfangen kann, dann können sich auch ihre Kämpfe treffen. Dialog, Annäherung, Akkumulation von Macht.

La Santa Canaglia (Heilige Schurken) ist eine umfassende Betrachtung, die Methode und Intention, Alltagswirklichkeit und theoretische Tiefe miteinander verbindet und ein Werk hervorbringt, das als Ausgangspunkt für weitere und verwandte Studienversuche dienen kann, das aber auch als Leitfaden für die Arbeit an der Umwälzung des Bestehenden gelesen werden kann.

Andererseits sind die Straßen voller Schurken, die sich mit einer gemeinsamen Sprache ausstatten müssen, die ihre Kraft “heiligt”.

Veröffentlicht am 27. November 2023 auf Carmilla Online, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

“KOHLE, ODER WIR TÖTEN EUCH!”

Alèssi Dell’Umbria

“Kohle, oder wir töten euch!” Anfang der 1980er Jahre hallte dieser Schriftzug auf einer Mauer in Marseille wie der Schrei einer Generation wider, die im Gefolge des Mai 1968 nie wieder in den Kummer zurückkehren wollte. Die Gruppe ‘Os Cangaceiros’ reiht sich in diese Dissidenz ein, mit der ihr eigenen Interpretation: Sie erpresst Banken auf sanfte Weise. Die Gruppe, die mit den Kämpfen in den meuternden Gefängnissen, den der Schließung geweihten Fabriken und den rebellierenden Vorstädten verflochten war, setzte im folgenden Jahrzehnt ihre Ablehnung einer Welt fort, deren Versprechungen sich dann als vergiftet herausstellten. Alèssi Dell’Umbria erzählt in seinem einfühlsamen und persönlichen Bericht von der Gründung der Gruppe, ihrer Organisation und den Kämpfen, an denen er teilgenommen hat, von den illegalen Gefilden in Paris und Nantes bis zu denen in Marseille, Brixton oder Chiapas. “Du fric ou on vous tue!” ist soeben bei ‘Editions des mondes à faire’ erschienen, wir veröffentlichen hier einige schöne Seiten daraus. Das Buch ist ein Muss, natürlich wegen der zu wenig bekannten Geschichte, die es erzählt, aber auch und vor allem wegen der Art und Weise, wie diese Geschichte mit politischen und strategischen Überlegungen verknüpft wird. Wie kann man fernab der militanten Milieus, aus dem Alltag heraus, und sei es der Alltag von Rowdys, die Möglichkeiten schaffen, die Welt zu erschüttern?

Vorwort Lundi Matin

Seit etwa zehn Jahren erzählen mir an verschiedenen Orten rebellische Jugendliche, die sich organisieren und an den Kämpfen dieser Zeit teilnehmen, von ihrer Neugierde auf das Experiment der Gruppe Os Cangaceiros, das jedoch vor dreißig Jahren zu Ende ging. Hier wird ein Bericht in der ersten Person geliefert, in dem vielleicht nicht alles gesagt wird, aber alles, was gesagt wird, wahr ist.

* *

Kohle, oder wir töten euch! Ich weiß nicht, wer das Anfang der 1980er Jahre in Marseille auf eine Wand geschrieben hatte, aber mir gefiel diese Drohung eines Bankräubers, die wie eine allgemeine Aufforderung an diejenigen klang, die an der Börse die Fäden in der Hand halten. Dann, an einem Tag im Jahr 1984, verwüstete ein anonymer Arbeitsloser in Rennes, der durch die Schikanen der Behörden, die ihm seine mageren Sozialleistungen gestrichen hatten, in Rage geraten war, die Räumlichkeiten der Assédic systematisch mit einem Vorschlaghammer. Eine Geste, in der sich zweifellos viele Arbeitslose wiedererkannt haben dürften. Wir hatten daraufhin ein Plakat zur Unterstützung dieses Unbekannten, der wegen seines beispielhaften Akts des Vandalismus inhaftiert wurde, erstellt, und der Titel war wie selbstverständlich entstanden: Kohle, oder wir töten euch!

Wenn man einen Anfang für die Revolte, die uns antrieb, benennen müsste, wäre es das Jahr 1968. Die meisten von uns waren etwas zu jung, um daran teilgenommen zu haben, aber die Schockwelle war noch lange danach zu spüren. Wir könnten mit einer schrecklichen Szene beginnen, die bei der Wiederaufnahme der Arbeit in den Wonder-Werken in Saint-Ouen am 9. Juni 1968 gefilmt wurde. Eine junge Arbeiterin weint vor Wut über die Wiederaufnahme der Arbeit, während ein Gewerkschaftsvertreter versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie doch noch etwas gewonnen haben. “Ich werde nicht zurückkehren, nein, ich werde nicht zurückkehren. Ich will nie wieder einen Fuß in diesen ekelhaften Knast setzen.” Ein paar Worte, die den alten Arbeiterausdruck “in den Kummer gehen” auf die wortwörtlichste Weise veranschaulichten.

«À nous ! Romanesques amis : ça va nous plaire. / Jamais nous ne travaillerons, ô flots de feux !» Man konnte uns noch so sehr entgegenhalten, dass es sinnlos sei, aus einer so bewusst marginalen Position heraus “den Himmel zu stürmen”, wir wussten, dass unsere Ablehnung der Arbeit ein Echo der explosiven und revolutionären Kraft war, die sich damals in einigen Arbeiterkämpfen manifestierte. Für Tausende von Menschen hatte sich im Mai/Juni 1968 plötzlich ein Lichtblick in einer Existenz aufgetan, die auf Arbeit, reine Reproduktion und die Notwendigkeit des Geldes ausgerichtet war. Und in den folgenden Jahren konnte niemand die Intensität der Ungehorsamsgesten am Arbeitsplatz und das Fluchtverhalten vieler junger Arbeiter ignorieren. Wiederholte freiwillige Arbeitslosigkeit, die Wahl von Aushilfsjobs, ganz zu schweigen vom Fernbleiben von den Betrieben – all diese Verhaltensweisen verwischten die Grenzen zwischen Alltag und sozialem Kampf. Diese Haltungen passten nicht in die Agenda der Gewerkschaften, und auch die linksextremen Gruppen, die der Linken immer hinterherhinkten, konnten sie nicht verstehen. Dennoch schufen sie im Frankreich der 1970er Jahre einen diffusen Erwartungshorizont.

Im Gegensatz zu den Militanten, die dazu neigen, sich für unentbehrlich zu halten, waren wir der Meinung, dass ein großer Teil des Negativen, das in den Eingeweiden dieser Welt am Werk ist, zunächst in Form von Enthaltsamkeit wirkt. Diese hat den Vorteil, dass sie eine Offenheit für das Unerwartete bewahrt, die durch die Flucht in einen allzu vorhersehbaren Aktivismus eher verloren geht. Wir fühlten uns keineswegs verpflichtet, auf die endlosen Aufforderungen der Nachrichten des Spektakels zu reagieren, die das Feld präventiv besetzen und viele Militante dazu veranlassen, sich vorzeitig verschlissen zurückzuziehen. Der Widerstand durch Trägheit bewahrt die Fähigkeit, den Feind zu überrumpeln, gerade durch das, was er an Unbestimmbarem und damit Unbeherrschbarem enthält. Es ist ein Teil der intimen Erfahrung, auf den die Macht keinen direkten Einfluss hat und der sich nur in den toten Winkeln der Gesellschaft mitteilt. Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Proletarier inaktiv bleibt und sogar den Aufforderungen zum Aktivismus gleichgültig gegenübersteht, macht sie umso bedrohlicher. Den Feind stets zu überrumpeln, ist das Prinzip, wie die jüngste Geschichte in Frankreich im Herbst 2005 und dann im Herbst 2018 gezeigt hat.

Denn es ist eine Tatsache, dass die Stärke, die im Mai/Juni 1968 zum Tragen kam, sich zunächst in einer massiven Desertion äußerte: Millionen von Arbeitern streikten ohne jeden abgestimmten Plan, einfach weil die Zusammenstöße im Quartier Latin, an denen Studenten und Gymnasiasten, Arbeiter und Leute in den schwarzen Klamotten teilgenommen hatten, das Mögliche hatten erahnen lassen. Der Sinn dieser Desertion war freilich nicht in den Reden auf der Tribüne erkennbar. Er war in der Vielzahl der spontanen und unerwarteten Gespräche zu erkennen, die in diesem schönen Frühling die Straßen belebten. Jeder konnte durch die vom Autoverkehr befreiten Straßen schlendern und sich an der Kontroverse beteiligen, ohne jemals den Vorteil der Anonymität zu verlieren. Umgekehrt waren die Figuren, die vorgaben, die Bewegung zu repräsentieren, bedeutungslos. Ist es da verwunderlich, dass sie später so leicht in den Vorzimmern der Macht recycelt werden konnten?

* *

Es hatte sich also eine Sensibilität entwickelt, die nicht auf die des Individuums oder des Kollektivs reduziert werden konnte. Sie schwebte geradezu im Raum, nicht greifbar für diejenigen, die nicht von dieser Bewegung erfasst wurden. Für diejenigen, die das Ereignis der Mai-Revolte von 1968 in ihrer ganzen Intensität erlebt hatten oder in den folgenden Jahren in den Geist dieser neuen Epoche hineingezogen worden waren, erschien sie hingegen wie ein Siegel der Selbstverständlichkeit. Denn die Welt öffnet sich aus dem Ereignis heraus. Da wir in der Situation anwesend sind, hören wir auf, Zuschauer zu sein – wie ein Rock’n’Roll-Poet, der schnell lebte und jung starb, gesungen hatte: “We want the world and we want it… / Now / Now? / NOOOOOOW!” In dieser plötzlichen Unterbrechung offenbarte sich, dass Arbeit nicht nur eine erzwungene Beschäftigung war, deren Zweck sich uns entzog, und damit verlorene Zeit, die nie wiederkehren würde, sondern das gesamte Leben, das auf diese Weise konditioniert wurde und jeden darauf reduzierte, nur der ängstliche Zuschauer der Welt zu sein, die er als Arbeiter mit hervorgebracht hatte. Es handelte sich nicht einmal mehr um die bohemische Verweigerung, die im Laufe des Jahrhunderts einige poetische Avantgarden geprägt hatte, sondern um eine allgemeine Desertion als Lebensstil, auch wenn diese in der französischen Gesellschaft marginal bleiben sollte.

Viele der kleinen Banden hatten sich auf der Grundlage einer freiwilligen und methodischen Abweichung von der vorherrschenden Lebensweise gebildet. Abgesehen von einem theoretisch-praktischen Erbe, das wir uns im Laufe der Zeit angeeignet hatten, konnten wir uns nur auf unsere eigene Erfahrung stützen. Diese blieb in einem sozialen Untergrund verborgen, aus dem sie sowohl durch isolierte und unverständliche Gesten als auch durch unkontrollierte Formen des sozialen Kampfes hervorbrach. Es schwebte in der Luft und nahm Gestalt an in Begegnungen auf der Straße und in ihren Komplizenschaften für einen Augenblick, in Cafés, die noch echte Orte der volkstümlichen Geselligkeit waren, in Situationen, deren Intensität sich jeglicher Rationalisierung entzog, am Ende von unruhigen Demonstrationen oder rund um Rock’n’Roll-Konzerte. Es ist kein Zufall, dass viele von uns auf die Welt gekommen sind, indem sie die Institution Schule verlassen haben. Ist es nicht ihre Hauptaufgabe, Körper und Seele zu disziplinieren, indem sie sie auf das für die Arbeitnehmerschaft typische Verhältnis zur Zeit konditioniert? Für viele war dies der erste Akt der Arbeitsverweigerung, getrieben von dem dringenden Wunsch, das Leben zu verzaubern.

Die Menschen leben nicht nur im Realen, sondern auch im Imaginären. Alles, was wie ein totes Gewicht wirkt, auf das man stößt und an dem man sich unweigerlich die Zähne ausbeißt, ist dieses Reale, dessen einzige Konsistenz darin besteht, als Selbstverständlichkeit gegeben zu sein; während das Wirkliche nur in der Bewegung entsteht, als Werden, Handeln, mit anderen Worten all das, woran das Begehren, der Traum, die Idee teilhaben. Im Wirklichen ist das Negative als Wunsch am Werk. Dass es schließlich kurzgeschlossen wurde und der Traum manchmal zum Albtraum wurde, wobei diese halluzinierte und halluzinierende Suche dann in Verwesung und Tod endete, ändert nichts an dem Reichtum dieser Jahre. Danach sollte man in den 1980er Jahren, nachdem die Welle von 1968 abgeebbt war, die Kraft aufbringen, sich zu organisieren, damit der Traum länger als die Nacht dauerte. Wie wir im Leitartikel der Nr. 2 unserer Zeitschrift in Abwandlung einer berühmten Formel schrieben: “Wir sind aus dem Material gemacht, aus dem unsere Träume gemacht sind, und darin sind wir revolutionär”.

In diesen Jahren nahm dieser Traum vor allem zwei Formen an. Zum einen bildeten sich Gemeinschaften in einer Art Stadtflucht in verschiedene verlassene Regionen, wo aufgegebene Bauernhöfe billig aufgekauft oder “ohne Recht und Titel” besetzt wurden. In Wahrheit haben nur sehr wenige derartige Experimente die 1980er Jahre überdauert. Andererseits breitete sich eine anarchistische städtische Kriminalität aus, die naturgemäß noch kurzlebiger war und von Banküberfällen und gestohlenen Scheckbüchern lebte. In einem reichen Land wie Frankreich fehlte es nicht an Ressourcen.

Die Revolte hatte sowohl die Arbeiterklasse als auch die Mittelschicht erfasst und die sozialen Zugehörigkeiten, denen jeder Einzelne zugeteilt war, verwischt. Im Gegensatz zu den verschiedenen linken und stalinistischen Verleumdungen, die darin nur kleinbürgerliche Abweichungen oder die Delinquenz von Lumpenproletariern sahen, muss man daran erinnern, dass die Ablehnung der Arbeit in erster Linie die Arbeiterschaft durchdrang. Die tragischen Figuren von Jean Bilski und Pierre Conti, zwei anarchistischen Arbeitern, die zu Überfällen übergingen und ein brutales Ende fanden (der erste beging Selbstmord, nachdem er in Paris einen Bankier erschossen hatte, der zweite verschwand nach einem blutigen Überfall in der Ardèche in der Wildnis), zeugen davon. Viele Jugendliche in den 1970er Jahren bezeichneten sich als “Anar”, ohne etwas mit den politischen Gruppen gemein zu haben, die sich auf die anarchistische Ideologie beriefen und die genauso lästig waren wie die anderen Gruppierungen. Der Anarchismus stellte eine Art kulturelle und politische Metareferenz dar, insbesondere unter jungen Arbeitern und Schülern technischer Gymnasien, zu einer Zeit, als die Bonnot-Bande und Ravachol relativ bekannte, wenn auch nicht wirklich prominente Figuren waren.

Banden rebellierender Jugendlicher, die sich selbst als Anarchisten, später als Autonome oder meist als sans identification bezeichneten, organisierten sich, um der Not des Geldes zu entgegnen, vor allem auf Kosten der Banken. Während eine ganze Generation in die Kriminalität abrutschte, sollten zwei Fälle, die durch die Presse gingen, das gesamte Jahrzehnt dieser Revolte in all ihren tragischen Facetten veranschaulichen: die sogenannte Tables-Claudiennes-Bande 1971 in Lyon und die Bankräuber der Rue Lafayette 1980 in Paris.

Die Bande der Rue des Tables-Claudiennes im Lyoner Stadtteil Croix-Rousse bestand aus Anarcs, die im Mai/Juni 1968 aktiv an der Bewegung teilgenommen hatten und sich angesichts der Rückkehr zur Normalität mit Halluzinogenen und zahlreichen Raubüberfällen in der Region auf ein Abenteuer eingelassen hatten. Wie viele andere in diesem Jahrzehnt verbrannten sie sich dabei die Flügel und ihr Abenteuer endete in einer Nacht auf dem Acid-Trip, als einer von ihnen auf die Polizei losging. Didier Gelineau wurde schwer verletzt und starb kurz vor dem Prozess 1973 im Gefängnis unter zumindest verdächtigen Umständen. Seine Genossen wurden zu harten Strafen von bis zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Anlässlich des Prozesses hatten Leute ein Flugblatt in Umlauf gebracht, um sie zu unterstützen, obwohl die gesamte extreme Linke in Lyon auf sie spuckte. In diesem Text hieß es (ich zitiere aus dem Gedächtnis): “Wir behaupten, dass diese Genossen auf die rationalste Art und Weise zurückgegriffen haben, ihr materielles Überleben unter der Herrschaft des Kapitals zu organisieren.” Ich erinnere mich, dass ich dieses Flugblatt damals gelesen habe, als meine Kameraden und ich begannen, unsere ersten Straftaten zu begehen. Der Raubüberfall in der Rue Lafayette im Mai 1980 wurde von einer Bande Autonomer durchgeführt, die an Straßenschlachten gewöhnt waren und in der Rue Lahire und später in der Passage Hébrard als hart geltende besetzte Häuser innehatten. Sie verübten ihre Überfälle seit einiger Zeit in der Nähe von Paris und eine BNP Bank in der Rue Lafayette wurde ihnen zum Verhängnis, da die Polizei ihnen auf den Fersen war; bei einem Schusswechsel blieb der 23-jährige Lionel Lemare auf der Strecke, während es einem Teil der Bande gelang, sich abzusetzen.

Solche extremen Handlungen sind nur vor dem Hintergrund einer diffuseren Desertion zu verstehen. Viele junge Leute entschieden sich dafür, sechs Monate zu arbeiten, um den Rest des Jahres von dem verdienten Geld zu leben, das sie mit Diebstahl in Geschäften (Kleidung, Lebensmittel, Alkohol usw.) streckten. Die Figur des Leiharbeiters, der zwischen zwei Jobs auf Ölplattformen oder als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft hier und da ein paar Raubüberfälle begeht, ist uns mehr als einmal begegnet. Anfang der 1980er Jahre hatten wir einen Freund, der von Beruf Dachdecker war: Er arbeitete für kleine Chefs, die ihn auf die Dächer schickten, um die Zinkschicht zu erneuern. Er war ein Typ aus den roten Vororten von Paris, mit seinen drei tätowierten Punkten auf der rechten Hand und seinem Lederarmband mit Nieten. Er arbeitete ein paar Monate, dann gab er auf und fing an, Einbrüche zu machen, und wenn kein Einbruch in Sicht war, nahm er die Arbeit wieder auf. Einer von uns hatte sogar einmal einen Coup mit ihm gemacht. 1982 waren wir mehrmals gemeinsam in seinem DS 21 zu den Samstagen von Vireux gefahren, um an den Auseinandersetzungen teilzunehmen, zu denen eine Koalition von Stahlarbeitern und Atomkraftgegnern aufgerufen hatte, die in diesem Zipfel der Ardennen kämpften. Er war ein Mann, mit dem man sich gut amüsieren konnte. Er hätte seinen Platz in Os Cangaceiros gehabt, aber er hatte keine Zeit dafür. Eines Tages verlor er auf einer Baustelle das Gleichgewicht und stürzte vom Dach. Es war im Jahr 1984. Er war 24 Jahre alt und hatte gerade ein Kind bekommen. Wir alle hatten Verwandte, die in jungen Jahren starben, bei unserem “Hundeleben” selbstverständlich. Aber bei der Arbeit zu sterben, ist wirklich das Schlimmste, was einem passieren kann.

Für die meisten von uns war in den 1970er Jahren die Ablehnung der Arbeit nicht von einer diffusen und sporadischen Kriminalität in Jugendbanden getrennt, die auf einem gemeinsamen Nährboden wuchs, der viele schöne Begegnungen ermöglichte. Das Thema “Jugendkriminalität” wurde im medial-politischen Spektakel regelmäßig in den Vordergrund gerückt, sei es durch Auseinandersetzungen rund um Konzerte und manchmal sogar Fußballspiele, durch Vandalismus gegen die Kulisse, die die Ware in den Städten errichtet hatte, durch Auto- oder Motorraddiebstähle, um einen Ausflug zu machen, durch Angriffe auf gutbürgerliche Kleinbürger… Mit dem Rock’n’Roll als Soundtrack, der damals die Musik der aufbegehrenden Jugend war.

Die Bande ist eine recht universelle Art des mehr oder weniger spontanen Zusammenschlusses in proletarischen Milieus, aber es ist bemerkenswert, dass sie sich in bestimmten historischen Epochen verallgemeinert. Für Frankreich kann man sagen, dass sich diese soziale Tatsache nach der großen Welle der Apachen zu Beginn des Jahrhunderts ab den 1960er Jahren auf den Straßen durchsetzte und zum Gegenstand ängstlicher Kommentare von Polizisten, Journalisten und Soziologen wurde. Die Tatsache, dass diese Vorgehensweise sowohl den Nachbarschaftsbanden als auch den Banden der Deklassierten gemeinsam war, erleichterte es in der Zeit nach 1968 erheblich, sich untereinander zu treffen. In den 1980er Jahren sollte sich dies zu Gruppierungen wie den Ducky Boys, Del-Vikings und Black Dragons hin entwickeln, die weniger spontan, dafür organisierter und gezielter gegen die rassistischen Boneheads vorgingen, die damals behaupteten, ihre Herrschaft in den Straßen von Paris durchsetzen zu können. In den 1990er Jahren schlossen sich die jungen Proletarier dann zum Fußball oder Hip-Hop zusammen, wobei der Fanclub und die Posse die traditionellen Banden ersetzten. Ansonsten hatte das Heroin die Proletarierviertel weitgehend dezimiert und immer mehr Jugendliche in einsame und dissoziale Lebensläufe getrieben.

Das beunruhigende Phänomen der Banden, wie die Presse es nannte, hatte in Großbritannien eine noch größere Dimension angenommen. Dort hatten sich in den 1960er und 1970er Jahren veritable proletarische Subkulturen gebildet, die sowohl die Zugehörigkeit zur Working Class als auch einen Bruch mit deren herrschenden Werten bekundeten. Zunächst waren es die Teddy Boys, die sich in den 1950er Jahren die Kleiderordnung der Edwardianische Epoche aneigneten, dann die eklektischen Mods, die in den 1960er Jahren im italienischen Stil gekleidet waren und ihre Motorroller mit blitzendem Chrom überbordend verziert hatten. Im Gegensatz dazu standen die raueren Codes der Rocker, die in schwarzes Leder mit Nieten gekleidet waren, oder der Skinheads, die die Kleiderordnung der Arbeiterklasse zur Verzweiflung brachten, indem sie sie für den Kampf zweckmäßig umgestaltete. Alle waren auf ihre Weise Teil der gleichen kollektiven kulturellen Verfremdung. Diese Banden unterwanderten die auf Sparsamkeit basierende Arbeitsethik ihrer Eltern, die ihnen gebot, an ihrem Platz zu bleiben und sich an ihren sozialen Status anzupassen, ohne jemals aufzufallen. Diese Jugend weigerte sich, die soziale und kulturelle Minderwertigkeit der Arbeiterklasse zu verinnerlichen. Es war nicht verwunderlich, dass sich dies in Großbritannien, dem fortgeschrittenen Laboratorium der industriellen Domestizierung, in so übersteigerter Form ausdrückte.

* *

Wir hatten all diese Jahre überstanden, getrieben von der Hoffnung, dass ein neuer Aufstand bevorstehen würde. Doch die Wahl François Mitterrands 1981 bedeutete das Ende dieser messianischen Hoffnungen. Der sozialistische Kandidat konnte es sich sogar leisten, mit einer Parole in den Wahlkampf zu ziehen, die sehr nach 1968 klang: “Vivre!”… Ab 1983 wäre kein Zweifel mehr möglich gewesen, aber der Schockeffekt sollte seine Wirkung nicht verfehlen. Das war übrigens die historische Funktion der Sozialdemokratie, nach einem bewährten Szenario, das sich in jüngster Zeit in mehreren lateinamerikanischen Ländern wiederholt hat. Man musste sich organisieren, um die sich ausbreitende Wüste zu durchqueren.

Anmerkungen der Übersetzung von Bonustracks: Dieser Auszug aus dem Buch «DU FRIC OU ON VOUS TUE !» von Alèssi Dell’Umbria erschien am 27. November 2023 auf Lundi Matin

Zwischen Januar 1985 und Juni 1987 haben ‘Os Cangaceiros’ drei Nummern einer gleichnamigen klandestinen Zeitschrift herausgebracht, in der sie allerlei Texte veröffentlicht haben, 2003 erscheint dann in Italien ein Buch mit Anti-Knast Texten von ‘Os Cangaceiros’ (Un crimine chiamato libertà). Wolfi Landstreicher übersetzt jenes Buch 2005 auf Englisch und erweitert es um einige, nicht Gefängnis bezogene Texte (A Crime Called Freedom). Daraus entsteht dann der deutschsprachige Text “Ein Verbrechen namens Freiheit”, der als PDF hier, bzw. als Dokument auch bei der “Anarchistischen Bibliothek” zu finden ist. 

Das Problem der inneren Front

n+1

Während der Telekonferenz am Dienstagabend, an dem 21 Genossen teilnahmen, zogen wir Bilanz über den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten.

Der Westen steckt in großen Schwierigkeiten: Er kann die Ukrainer nicht langfristig stützen und muss sich mit dem Pulverfass Naher Osten auseinandersetzen. Die Journalisten tun sich schwer damit, zuzugeben, dass Russland den Krieg gewonnen hat und die Ukraine vom Zusammenbruch bedroht ist. Moskaus Blitzkrieg (Februar 2022) zielte nicht darauf ab, Kiew zu erobern, sondern einen Landstrich zu besetzen, den die Ukrainer faktisch verloren haben. Die Gegenoffensive im ukrainischen Frühling verlief schlecht, und nun weiß die Regierung Zelenskij nicht mehr, was sie tun soll. Sie kämpft mit einer von westlicher Hilfe gestützten Wirtschaft, einem Mangel an Soldaten und Munition und einem internen Konflikt zwischen Politikern und Militärs. Unterdessen bombardieren die russischen Streitkräfte weiterhin feindliche Häfen, Infrastrukturen, Stützpunkte und Kraftwerke, und es gibt bereits Gerüchte über Verhandlungen über die Abtretung von 1/5 der Ukraine an Russland und die Anerkennung des neutralen Status des Landes.

Die USA sehen sich in ihrer Abschreckungsmacht geschwächt. Wenn Russland sich andererseits erlaubt, die Ukraine anzugreifen, dann deshalb, weil es davon ausgeht, dass es unter den gegebenen internationalen Umständen Erfolge erzielen würde. Die Ereignisse im Nahen Osten verlagern die Ressourcen, vor allem aber die internationale Aufmerksamkeit von der ukrainischen Front weg. In Kiew und anderen Städten gingen die Familien der Soldaten auf die Straße (selbst in Russland demonstrierten einige Frauen nur wenige Meter vom Kreml entfernt, um die Rückkehr ihrer Männer von der Front zu fordern). Die Schläge, die die USA einstecken müssen, ermutigen andere Staaten in anderen Kontexten, die westliche Ordnung herauszufordern; man denke nur an die antifranzösischen Putsche in Afrika. Israel, das seit seiner Gründung in kurzer Zeit jeden Krieg gewonnen hat, ist auf seinem eigenen Territorium von nichtstaatlichen Streitkräften angegriffen worden, und jetzt sitzt seine Armee im Gazastreifen fest.

Auf dem G20-Gipfel am 22. November, den Indien zum Ende seiner Amtszeit organisiert, wird der russische Präsident zum ersten Mal seit Beginn des Ukraine-Konflikts anwesend sein. Es ist kein Zufall, dass Putin eingeladen wurde: Indien kauft trotz der Sanktionen große Mengen Öl aus Russland zu günstigen Preisen, um es zu höheren Preisen nach Europa weiterzuverkaufen. Das Problem betrifft nicht nur die Länder, die zu Feinden der USA erklärt wurden, sondern auch die nicht feindlichen Länder wie Indien, Saudi-Arabien und die Türkei, die beginnen, sich zu verselbständigen. Einigen geopolitischen Analysten zufolge würde diese weltweite Situation der zunehmenden Unordnung die Tür zu einem multipolaren kapitalistischen System öffnen. In einer solchen Vision fehlt jedoch die historische Dynamik: Der Kapitalismus kann nicht ewig bestehen, und die Parabel des Mehrwerts beweist dies (die Maschinen verdrängen die lebendige Arbeit und untergraben das auf ihr basierende System).

Der Krieg ist ein Produkt der Gesellschaft und spiegelt die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft wider. Die Türkei hat den ersten Drohnenträger der Welt gebaut. China, das in Bezug auf die Zahl der Flugzeugträger nicht mit den USA konkurrieren kann, wird sich möglicherweise dazu entschließen, sich ebenfalls mit kostengünstigeren Drohnenträgern auszustatten.

Auch Israel hat mehrere offene Fronten: den Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon, das Westjordanland, aber auch den Jemen mit den Huthi, die Drohnen und Raketen abschießen (und die ein israelisches Handelsschiff im Roten Meer gekapert haben). Der Iran greift mit Hilfe schiitischer Milizen US-Stützpunkte in Irak und Syrien an. Es sei darauf hingewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen den Geschehnissen in der Ukraine und dem Konflikt im Nahen Osten gibt, wo Russland sowohl mit privaten Milizen (Wagner) als auch mit Militärstützpunkten (Syrien) präsent ist; außerdem laufen Verhandlungen mit General Khalifa Haftar über den Bau eines Marinestützpunkts in Libyen, in Tobruk.

In einem Artikel der Zeitschrift Analisi Difesa (“Quale futuro per Gaza?“) wird über einen Plan berichtet, den Italien, Frankreich und Deutschland dem Chef der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, vorgelegt haben, um eine endgültige Lösung der Palästina-Frage herbeizuführen. Der Plan, dem auch die USA zustimmen könnten, sieht vor, dass Israel den Gazastreifen nicht dauerhaft besetzt, dass das Schicksal des Streifens mit dem des Westjordanlandes verbunden bleibt (“umfassende Lösung”) und dass die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen vermieden wird. Um diese Lösung zu erreichen, müsste eine palästinensische Administration eingerichtet werden, die von westlichen Ländern unterstützt wird und an der arabische Staaten beteiligt sind. Der Rückzug der Israelis aus einem Teil des Westjordanlandes und die Möglichkeit der Errichtung eines palästinensischen Staates sind nichts anderes als der alte Plan von General Moshe Dayan. Derzeit ist der größte Teil der Bevölkerung des Streifens in den Süden umgesiedelt worden und befindet sich in einer prekären hygienisch-sanitären Situation. Was mit ihr geschehen wird, ist noch unklar, vielleicht sogar für Israel nicht. Auf jeden Fall ist es schwer vorstellbar, dass die Bewohner des Gazastreifens eine palästinensische Behörde akzeptieren würden, die mit israelischen Panzern in den Streifen einmarschiert.

Innerhalb Israels ist die gesellschaftliche Situation alles andere als stabil. Die Demonstrationen der Familien der Geiseln gehen weiter: Einerseits fordern sie die Freilassung ihrer Angehörigen, andererseits kritisieren sie die Regierung Netanjahu für ihre Unfähigkeit. Würde der Krieg fortgesetzt, würde die Zahl der Todesopfer unter den israelischen Soldaten (und Geiseln) steigen, die Wirtschaft würde einbrechen und die Unzufriedenheit im Lande würde wachsen.

In Argentinien hat der Anarchokapitalist Javier Milei die Stichwahl um die Präsidentschaft gewonnen: Sein Programm sieht die vollständige Dollarisierung der Wirtschaft, die Privatisierung mehrerer Sektoren und die Abschaffung von zehn Ministerien und der Zentralbank per Dekret vor. Die internationale Front, die Milei unterstützt, reicht von Bolsonaro in Brasilien über Trump in den USA bis hin zu Elon Musk, der aus seinen Sympathien für den neuen argentinischen Präsidenten nie einen Hehl gemacht hat. In einem Artikel aus dem Jahr 2002 (“Il fallimento argentino“) haben wir über Argentinien geschrieben und darauf hingewiesen, dass das Land aufgrund der Schwierigkeiten seiner Wirtschaft, sich dem internationalen Kapital anzupassen, mehrmals in Zahlungsschwierigkeiten geraten war. Milei verweist auf ein weit verbreitetes Missfallen gegenüber der gegenwärtigen Situation und führt dies auf eine Reihe von Liberalisierungsmaßnahmen zurück, die vor einigen Jahren von Carlos Menem eingeleitet wurden. Argentinien ist ein riesiges, modernes Land mit 45 Millionen Einwohnern, von denen die überwiegende Mehrheit in städtischen Gebieten lebt. Die Idee, die Wirtschaft zu dollarisieren, während sie sich in einer tiefen Krise befindet, ist nicht neu: Menem hat dies getan, um die Inflation zu bekämpfen, aber die Krise wurde dadurch noch schlimmer. Das Land hat eine außer Kontrolle geratene Verschuldung, eine explodierende Inflation und eine Währung im freien Fall, aber es ist immer noch von zentraler Bedeutung für Südamerika.

Die wirtschaftliche Polarisierung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften führt auch zu einer politischen Polarisierung, die unliebsame Figuren wie Trump oder Milei ins Rampenlicht rückt. The Economist argumentiert, dass es eine Katastrophe wäre, wenn der Tycoon bei den Präsidentschaftswahlen 2024 erneut gewinnen würde, da die amerikanische Demokratie schon jetzt in Schwierigkeiten steckt (“Donald Trump poses the biggest danger to the world in 2024“). In der Vergangenheit haben wir uns mit der anarchokapitalistischen Strömung befasst, die in ihren verschiedenen Ausprägungen Vertreter wie Tim O’Reilly und Peter Thiel hervorbringt. Diese “Schule” hat im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologie und des Web 2.0 an Stärke gewonnen und sich selbst erneuert, indem sie all jene Technologien favorisiert, die den Status quo stören (man denke an Bitcoin oder den neuesten ChatGPT). Libertäre Theoretiker wollen einen minimierten Staat, die Abschaffung der Wohlfahrt und einen Übergang zu digitalen Währungen sowie die Bildung von 2.0-Regierungen. Ray Kurzweil, transhumanistischer Libertärer, Autor des Essays The Singularity is Near, argumentiert, dass die Entwicklung der künstlichen Intelligenz eine Singularität in den Regierungsformen, aber auch in den Produktionsweisen und den sozialen Beziehungen hervorbringen wird, mit anderen Worten einen Paradigmenwechsel. Marx stellt in der Vorrede zu Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) fest, dass an einem bestimmten Punkt die materiellen Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen in Konflikt geraten und dann eine Epoche der sozialen Revolution beginnt.

Der Beitrag erschien im Original am 21. November 2023 auf Quinterna Lab, diese Übersetzung von Bonustracks hat nur die wichtigsten Verlinkungen übernommen und in zwei Fällen durch die Verlinkung zu deutschsprachigen Quellen ersetzt.

Der Tag, an dem ich als Jüdin aufwachte

Fabienne Messica 

Am 7. Oktober wusste ich von nichts. Am 8. Oktober, konfrontiert mit dem Schrecken eines mörderischen Angriffs in Israel, abscheulicher und grausamer Verbrechen, die in Häusern und auf einer Party von Jugendlichen begangen wurden, fühlte ich mich, vielleicht zum ersten Mal, zutiefst jüdisch. Jüdisch, warum? Weil ich links bin, weil ich von meinen Mitstreitern, von denen ich weiß, dass sie mehrheitlich nicht antisemitisch sind, ein paar Worte erwartet habe und nicht diese Lähmung der Empathie, diese Unfähigkeit, sich mit unschuldigen Opfern solidarisch zu fühlen, als ob die Opfer schuldig wären, weil sie dort geboren wurden und im weiteren Sinne, weil sie mehrheitlich jüdisch sind.

Schuldige Opfer auf israelischer Seite und zwangsläufig gutherzige Opfer auf palästinensischer Seite, da sie die Unterdrückten sind. Nichts zu den Fakten. Keine Solidarität mit den Frauen, die beispielsweise Opfer von Vergewaltigungen wurden. Angeblich gibt es gute oder schlechte Opfer, wobei Opfer zu sein eine Wesensart ist, obwohl es sich einzig um eine bestimmte Konstellation handelt, nämlich die von israelischen Männern, Frauen und Kindern in dieser Situation.

Als ich die Erklärungen der NPA (Neue Antikapitalistische Partei), von Solidaires und der UJFP (Union de juifs Français pour la Paix) las und das Schweigen anderer Vereinigungen und Gruppen, mit denen ich so viel unternommen habe, registrierte, spürte ich diese Übelkeit, von der Jean-Paul Sartre und Camus, jeder auf seine Weise, sprachen. Denjenigen, die die Taten der Hamas unterstützen, weil “sie das Recht haben, ihre Mittel des Widerstands zu wählen”, antworte ich: Sie verachten nicht nur die internationale Solidarität, die ein freier Akt und kein Mitläufertum ist, sondern Sie verachten auch die Palästinenser, indem Sie davon ausgehen, dass sie alle mit diesen Taten einverstanden sind, und den Tätern die Verantwortung für ihre Taten absprechen. Sie nehmen ihnen die Freiheit, die jedem Unterdrückten bleibt, die Freiheit, die jeder Unterdrücker ihnen nehmen will.

Und später dann der Ekel vor der Holocaust-Leugnung, vor der Leugnung der Grausamkeit und der Schuldzuweisung an die israelische Armee für die Tötungen, eine Flut von Lügen, Hass und Antisemitismus. Ganz zu schweigen von der krankhaften Faszination für diese Taten, ganz zu schweigen von der gegenseitigen Nazifizierung der Palästinenser durch die Juden, der Israelis durch die Palästinenser und schließlich all der Kommentatoren und sogar der Humoristen, die sich in dieser abscheulichen Sprache suhlen und sogar die Beschneidung erwähnen, das Zeichen, an dem die Nazis Juden erkennen konnten, wenn diese nicht den gelben Stern trugen.

Am 10. Oktober fühlte ich mich als Palästinenserin. Die Palästinenser in Gaza sind nicht schuldig. Sie sind Zivilisten. Außerdem, aber das ist eine andere Geschichte: Ich träume schon so lange vom Frieden zwischen diesen Völkern, die sich so sehr ähneln und so viel gemeinsam haben, deren Tragödien sie so grausam füreinander machen können und bei denen gleichzeitig ein Lichtblick, eine Hoffnung ausreichen würde, um den Hass in den Herzen auszulöschen, die noch nicht so verhärtet sind wie die Herzen in meinem Land, Frankreich.

Dann folgte ein weiterer Ausbruch des Antisemitismus und der Versuch rassistischer und antisemitischer Parteien, unsere Geschichte – Juden und Jüdinnen unterschiedlicher Herkunft – zu vereinnahmen. Wie kann man es nicht verstehen? Das Exil steht im Zentrum unserer Geschichte in ihrer ganzen Vielfältigkeit, und wenn wir ein Volk sind, dann ist es ein Volk von Flüchtlingen. Das eine Heimat wollte. Auch. Das sich nicht in die Arme der extremen Rechten werfen kann, ohne zum Verräter an sich selbst zu werden.

Aber Sie haben mir meine Worte gestohlen. Ich habe keine mehr. Und ihr habt in Hiroshima mon amour [1] überhaupt nichts gesehen.

Fabienne Messica, Mitglied von Golem, einem Kollektiv linker Juden/Jüdinnen, Autorin von “Les pornographes du malheur” (Die Pornografen des Unglücks). Verlag Rue de Seine. Mai 2023.

[1] Hiroshima mon amour, Film von Alain Resnais aus dem Jahr 1959, Text von Marguerite Duras, veröffentlicht 1960, Gallimard Folio.

Veröffentlicht am 16. November 2023 auf Le Club de Mediapart, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

17. November 2023 – der 50. Jahrestag des Polytechnikums und meine Entlassung aus dem Gefängnis

Pola Roupa

Nach 7 aufeinanderfolgenden Jahren im Gefängnis (seit der Verhaftung am 5. Januar 2017), 8 Jahren und 6 Monaten zusammen mit der Zeit in Untersuchungshaft (der Verhaftung am 10. April 2010) und insgesamt 13 Jahren und 6 Monaten, eine Strafe, die ich für meine Teilnahme am Revolutionären Kampf [Επαναστατικού Αγώνα, Epanastatikòs Agónas, EA] verbüßt habe, wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Die Symbolik des Tages war stark, denn am 17. November dieses Jahres jährt sich der Aufstand am Polytechnikum von 1973 zum 50. An diesem Tag gedenkt man der Toten des Polytechnikums, aber auch all derer, die im Kampf für die Freiheit gefallen sind.

In meinen Gedanken war dieser Tag geprägt vom Gedenken an unseren im revolutionären Kampf verstorbenen Genossen Lambros Fountas. Aber ich denke auch an den Genossen Nikos Maziotis, der, obwohl er 11 Jahre im “geschlossenen” Gefängnis und 14 Jahre in kombinierter Haft verbüßt hat – eine sehr lange Zeit für eine 20-jährige Haftstrafe -, die Justizbehörden von Lamia seine Freilassung verweigern. Es ist offensichtlich, dass Nikos Maziotis ein einzigartiges Ausnahmeregime auferlegt wurde, da kein Gefangener oder Gefangene in einer ähnlichen Situation (mit Anklagen auf der Grundlage der 187A [Anti-Terror-Gesetzgebung, Anm. d. Red.]) und mit ähnlichen Strafen (d. h. nicht lebenslänglich) so lange im Gefängnis gesessen hat. Dieses Ausnahmeregime, das auf politischen Kriterien und Motiven beruht und das in der Praxis die Institution der bedingten Entlassung – die laut Gesetz obligatorisch und nicht “freigestellt” ist, da sie nicht dem persönlichen Willen des jeweiligen Richters überlassen wird – aushebelt, muss beendet werden. Abgesehen von der eklatanten Verletzung der gesetzlichen Bestimmungen erinnert diese spezielle Ausnahmeregelung an eine Junta-ähnliche Behandlung eines politischen Gefangenen.

Nachdem ich so viele Jahre im Gefängnis verbracht habe, wäre es eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht an die vielen Dutzend weiblichen Gefangenen denke, mit denen ich zusammengelebt habe. Im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen, die – ich glaube, irrtümlich – “entdeckt” haben, dass ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, weil ich Mutter eines minderjährigen Kindes bin, muss ich sagen, dass es – abgesehen davon, dass ich die für eine bedingte Entlassung erforderlichen Haftjahre bereits abgesessen habe – in keinem Strafgesetzbuch eine Regelung für die bedingte Entlassung einer Gefangenen gibt, weil sie die Mutter eines minderjährigen Kindes ist. Lediglich Artikel 105 des Strafgesetzbuchs von 2019 sieht den Hausarrest für Mütter mit Kindern unter acht Jahren vor, eine Maßnahme, die nicht besonders häufig angewendet wird.

Da ich viele Jahre mit Frauen zusammengelebt habe, weiß ich, dass die meisten von ihnen eine zentrale Rolle bei der Betreuung von Menschen wie kleineren Kindern, älteren Menschen, Kranken und Behinderten spielen, und dass ihre langjährige Inhaftierung einen schrecklichen Einfluss auf das Leben derjenigen hat, die ohne ihre Hilfe allein gelassen werden. Die bedingte Haftentlassung von Müttern minderjähriger Kinder und von Frauen, die sich um Personengruppen wie die von mir genannten kümmern, ist eine Regelung, deren Fehlen im Strafgesetzbuch beweist, dass der Gesetzgeber die zentrale Stellung von Frauen, die sich um Menschen kümmern, im gesellschaftlichen Leben nicht berücksichtigt. Dieser Missstand kostet oft Menschenleben.

Pola Roupa 

Veröffentlicht am 19. November 2023 auf indymedia Athen, diese Übersetzung von Bonustracks erfolgte aus der italienischen Version, die am 20.11.2023 auf La Nemesi erschien.  

IN DER DYSTOPIE: DAS TRENNENDE TEILEN

Noor Or

Unaufhörliche Angriffe auf Gaza und die Zahl der getöteten Menschen wächst bis zur Unfassbarkeit. Mehr als elftausend Menschen wurden bereits getötet, während die israelischen Truppen sich immer weiter am Boden ausbreiten.

Wir haben den Brechreiz überschritten. Die Gewalt, die sich an der palästinensischen Bevölkerung entlädt, ist unvergleichlich. Die Siedler – Fundamentalisten, die die jüdische Souveränität über das gesamte biblische Gebiet von Judäa und Samaria (das heutige Westjordanland) beanspruchen – nutzen das Chaos aus und nehmen mit Billigung der Armee immer mehr Gebiete in Besitz, greifen an und töten unbehelligt.

Die Eskalation ist so weit fortgeschritten, dass sie sogar auf jüdisch-israelische Aktivisten schießen, die von Siedlern bedrohte palästinensische Dörfer schützen, und deren bloße Anwesenheit bislang eine relativ wirksame Abschreckung darstellte.

Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft werden verhaftet, weil sie einen Beitrag geliked oder Empathie für die Gaza-Bewohner gezeigt haben, sie werden von ihren Arbeitsplätzen oder Universitäten verwiesen, während ein Mob wildgewordener Rechtsextremisten die Wohnheime, in denen palästinensische Studenten in Netanya wohnen, unter dem (wohlwollenden?) Blick der Polizei belagert.

Friedensaktivisten werden inhaftiert, weil sie Plakate aufgehängt haben, die zu jüdisch-arabischer Solidarität aufrufen, vier Palästinenser und israelische linke Aktivisten werden von einer Gruppe aus Siedlern und Soldaten im Westjordanland festgehalten und misshandelt, der israelische Journalist Israel Frey, der sich für das Ende der Besatzung und das Recht der Palästinenser einsetzt, erlebt, wie sein Haus von Rechtsradikalen angegriffen und sein Leben bedroht wird, während die Regierung neue Maßnahmen vorschlägt, die es der Polizei ermöglichen, mit scharfer Munition auf demonstrierende israelische Bürger zu schießen, und Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit, automatische M5-Sturmgewehre an die Freiwilligen der neuen Einheit der Zivilgarde verteilt – man darf dabei nie vergessen, dass Ben Gvir ein faschistischer Kahanist ist und dass eine Zivilgarde unter seiner Kontrolle mit Schrecken an die Gestapo in Nazi-Deutschland erinnert. In diesem autoritären Klima bahnt sich ein Bürgerkrieg an, der sich bereits im Mai 2021 abzeichnete und in dessen Verlauf es zu beispielloser Gewalt innerhalb der Zivilbevölkerung gekommen war.

Eine Demonstration, die einen Waffenstillstand und Geiselaustausch forderte, fand dennoch in Tel Aviv statt, wie die Fotos von Oren Ziv, Reporter für 972mag, einer unabhängigen israelisch-palästinensischen Zeitung und Fotograf für ActiveStills, belegen, und wurde von dem Anti-Besatzungs-Aktivisten Yahav Erez mit folgender Botschaft weitergeleitet: “Ihr werdet nie wissen, welche Art von Mut es braucht, das [zu demonstrieren] jetzt zu tun.”

In der Tat sind die Zeiten schlimm, die Not der israelischen Linken ist riesig, die Not der palästinensischen Bürger Israels noch größer (doppelt Opfer, von Hamas-Raketenschläge, Gewalt durch den israelischen Staat und diese rechtsextremen Zivilisten), die Not der Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem unbeschreiblich und die Not der Menschen in Gaza unermesslich.

Und als ob diese Aneinanderreihung von Schrecken nicht schon genug wäre, beginnt auch der Rest der Welt in diesem neuen Informationskrieg zu trommeln. In den sozialen Netzwerken erreicht die Propaganda ihren Höhepunkt und jede Information muss mit Vorsicht genossen werden, wenn man die erschreckende Menge an Fake News oder Halbwahrheiten betrachtet, die innerhalb von Minuten in den Netzwerken zirkulieren und sich verbreiten.

Die gleiche Rhetorik wird auf beiden Seiten verwendet und die gleichen Entmenschlichungsprozesse werden in Gang gesetzt. So zirkulieren zahlreiche Posts, die uns auffordern, auf der “guten Seite der Geschichte” zu stehen, wobei die Ironie darin besteht, dass beide Seiten ihre Version der Realität und damit der angeblich “guten” Seite anbieten – eine kognitive Dissonanz für diejenigen, die Palästina am 7. Oktober 2023 entdeckt haben.

Das Video mit der Aussage von Yocheved Lifschitz, einer der von der Hamas festgehaltenen Geiseln, die am 23. Oktober freigelassen wurde, wird seziert. Einige zeigen nur den Teil, in dem sie erzählt, dass sie während ihrer Gefangenschaft gut behandelt wurde, andere nur den Teil, in dem sie erzählt, dass sie mit einem Stock geschlagen wurde, als sie gefesselt auf dem Rücksitz des Motorrollers eines Hamas-Kämpfers saß, der sie nach Gaza transportierte. Alle weigern sich, entweder die Brutalität des Hamas-Angriffs oder die Brutalität der israelischen Besatzung anzuerkennen. Dies zeugt von der Unfähigkeit, die mögliche Güte des Feindes und die mögliche Grausamkeit des Verbündeten zu erkennen, und schafft so nuancenlose Wesen, die zu homogenen Blöcken “alle Siedler” / “alle Terroristen” gehören, die weder Empathie noch Kontextualisierung verdienen und jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen.

Ebenso werden von der pro-palästinensischen und der pro-israelischen Seite in jeder Hinsicht ähnliche Stilmittel verwendet: “Ich habe mir immer gesagt, dass die Naqba verhindert worden wäre, wenn sie im Zeitalter der sozialen Netzwerke stattgefunden hätte, heute weiß ich, dass dem nicht so ist” steht gegenüber “Ich habe mich immer gefragt, wie die Menschen den Holocaust haben geschehen lassen, ohne zu reagieren, nach dem Massaker vom 7. Oktober und den Reaktionen, die es hervorgerufen hat, ist mir das heute klar”. Das unendlich Traurige an diesen beiden Zitaten ist, dass sie beide richtig sind und dass sie, obwohl sie einen gemeinsamen Feind – Rassismus, ethnische Säuberung und Völkermord – anprangern, gegen ihren Bruder im Kampf eingesetzt werden, um ihn zu diskreditieren, anstatt angesichts des Imperialismus und der extremen Rechten, die seit Jahrhunderten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben und begehen, zusammenzuarbeiten.

Es ist ein regelrechter Wettlauf um die Entmenschlichung, der durch die sozialen Netzwerke erleichtert wird, in denen die Unterstützer Israels hemmungslos die Aufnahmen eines Hamas-Kämpfers am Telefon mit seinem Vater verbreiten, der begeistert verkündet, dass er “zehn Juden mit seinen eigenen Händen getötet” hat, sowie Videos von pro-palästinensischen Demonstranten in Australien, die “gas the jews” skandieren, oder die Videos mit den Europäern, die die Poster der Hamas-Geiseln abreißen oder sie durch neue Poster ersetzen, die in jeder Hinsicht identisch sind, außer dass das Wort “kidnapped” durch “occupier” ersetzt wurde. Parallel dazu verbreiten die Palästina-Unterstützer die schändlichen Videos einiger israelischer TikToker, die sich über die bombardierten Gaza-Bewohner lustig machen – ohne Wasser und Strom, über singende und im Chor tanzende IDF-Soldaten oder auch Szenen von abscheulichen Erniedrigungen von Palästinensern, die von israelischen Soldaten festgehalten werden. Schließlich wurden in völliger Konfusion von beiden Seiten Videos vom Flughafen der russischen Region Dagestan verbreitet, der von einem blutrünstigen Mob überrannt wurde, der auf der Suche nach Israelis (oder auch Juden) war, die gelyncht werden sollten, nachdem er von der bevorstehenden Ankunft eines Fluges aus Tel Aviv erfahren hatte.

An dieser Stelle wird es notwendig, zu schreiben, um sich an die Linke zu wenden.

Die Rechte, die den völkermörderischen Angriff auf Gaza durch die israelische Regierung weiterhin als “Verteidigung” bezeichnet, ist ein politischer Feind, mit dem ich nicht mehr zu argumentieren versuche. Die sich gegen einen Waffenstillstand ausspricht, während wir auf das Wort genau miterleben, wie ein Völkermord an der Bevölkerung von Gaza definiert wird, von deren 2,3 Millionen Einwohnern mehr als 11.000 getötet und 1,3 Millionen vertrieben wurden, wobei fast 50% der Häuser zerstört wurden und es kein Wasser, keine Nahrung und keine Elektrizität mehr gibt. Ich lade Sie ein, die Berichte der Journalisten zu lesen, die aus Gaza berichten: Mohammed Zaanoun und Plestia Alaqad. Diejenigen, die immer noch über “Selbstverteidigung” diskutieren, sollen sich vor ihrem Gewissen verantworten.

Ich schreibe also, um mich an die Linke zu wenden, meine objektiven Verbündeten.

Denn wenn die Linke sich auf die Seite ultragewalttätiger, offensichtlich rassistischer Gruppierungen stellt und diese abfeiert, wenn sie Aufrufe zu Hass und enthemmter Gewalt verbreitet, dann packt mich das Entsetzen. Die Instagram-Seite decolonizethisplace veröffentlicht nämlich Videos vom Flughafen in Dagestan mit der Überschrift “No home for genocidal settlers”, der Beitrag wird später wahrscheinlich aus Angst vor dem Backslash der antisemitischen Gewaltverherrlichung gelöscht. Am nächsten Tag veröffentlichte sie jedoch in der Story einen Link zu einer Charta des palästinensischen Widerstands, die viele unbestreitbare Wahrheiten enthält, aber auch erklärt, dass der pro-palästinensische Kampf nicht Gleichheit, sondern die Vertreibung aller Juden aus dem Gebiet anstrebt. Sie fordern daher, ein Unrecht, das das koloniale Europa den Palästinensern zugefügt hat, indem es die Schaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina erlaubte (nicht zu vergessen, um das Unrecht des Holocausts wiedergutzumachen und das “jüdische Problem” in Europa loszuwerden), durch ein neues Unrecht wiedergutzumachen, das Unrecht einer “umgekehrten Naqba”, bei der alle Zionisten (in diesem Fall schwer von Juden zu unterscheiden), die sich in dem Gebiet befinden, gehen müssen – aber wohin?”. No home for genocidal settlers”. 

Wenn man den gerechten Kampf der Palästinenser als ein neues nationalistisches, autoritäres und supremacistisches Projekt begreift, lässt man nur zu, dass sich die Geschichte auf unbestimmte Zeit wiederholt, wobei die Protagonisten immer wieder ausgetauscht werden.

Die Mehrheit der in Israel lebenden Israelis sind Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen aus Europa, Nordafrika oder dem Nahen Osten. Sie wurden in allen Teilen der Welt einer systematischen ethnischen Säuberung unterzogen. Von den 109.000 Juden, die 1948 in Tunesien lebten, sind heute noch 1.200 übrig. Diese Menschen verließen ihr Land nicht spontan, ließen ihre Kultur und Sprache aus Begeisterung für den Zionismus zurück, sondern verließen es aufgrund von Unterdrückung, beispielloser Gewalt als Reaktion auf den Sechs-Tage-Krieg 1967 in Israel. Auch hier wiederholt sich die Geschichte, als im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg die Synagoge von El Hamma in Brand gesteckt wird.

Es wird viel über den algerischen Unabhängigkeitskrieg gesprochen, um Parallelen zum palästinensischen Kampf zu ziehen. Dabei wird wissentlich oder unwissentlich ausgeblendet, dass viele Juden in der FLN waren und dass alle von ihnen mit der Drohung “Koffer oder Messer” aus dem Land vertrieben wurden, die den algerischen Juden noch im Gedächtnis haften geblieben ist. Von 150.000 am Vorabend der Unabhängigkeit sind heute noch null übrig. Dasselbe geschah in Libyen, im Irak, im Jemen, im Iran etc. Die Liste ist lang. Der Fehler, den viele machen, ist, die Tatsache zu ignorieren, dass die jüdische Bevölkerung, die in Israel oder im besetzten Palästina lebt, wie auch immer man es nennen will, keine Heimat hat, in die sie zurückkehren könnte. Die in der Westbank lebenden Siedler sind illegale Besatzer, echte Siedler, und sie praktizieren eine trostlose Apartheid gegenüber der palästinensischen Bevölkerung, die sie gewaltsam vertrieben haben

Die Naqba, die brutale Vertreibung von 800 000 Palästinensern im Jahr 1948, die seitdem andauernde Besatzung, die Landnahme im Westjordanland, die Blockade und Bombardierung des Gazastreifens, die ständige Erniedrigung, Unterdrückung und Entmenschlichung der Palästinenser erfordern Wiedergutmachung. Sie würde in erster Linie durch die Räumung der Siedlungen, die Öffnung des Gazastreifens und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge von ‘48 erfolgen. Die einzige Möglichkeit, die den beiden Völkern bleibt, ist die Schaffung eines binationalen Staates. Viele wissen das, und ich lade Sie ein, das unbestechliche und mehr als bewundernswerte Wort von Rima Hassan zu hören, einer Palästinenserin, die in den syrischen Flüchtlingslagern geboren wurde, französische Staatsbürgerin ist und eine der wenigen vernünftigen Aussagen gemacht hat, die man in den letzten Wochen gehört hat. Dafür wird sie hemmungslos fremdenfeindlichen, rassistischen und sexistischen Belästigungen ausgesetzt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass antijüdischer Rassismus nur das Narrativ der israelischen Regierung bekräftigt – dass die ganze Welt antisemitisch sei. Es ist äußerst wichtig zu verstehen, dass die Forderung, alle Juden aus Palästina zu vertreiben, nur die israelische Hasbara (wörtlich: Erklärung; Propaganda) verstärkt, die besagt, dass die Palästinenser alle die Auslöschung der Israelis wünschen und dass der einzige Weg, sie in Schach zu halten, darin besteht, die eiserne Faust gegenüber der palästinensischen Bevölkerung beizubehalten. Es ist von größter Wichtigkeit zu verstehen, dass man nicht gegen Rassismus kämpfen kann, indem man Rassismus an den Tag legt. Dass man dem Imperialismus nicht mit einem imperialistischen Projekt entgegentreten kann. Man kann sich nicht über den Prozess der Entmenschlichung einer Gruppe empören, indem man ihn auf eine andere Gruppe überträgt. Es ist entscheidend zu verstehen, dass der Supremacism weder eine Nationalität noch Grenzen kennt und dass er in all seinen Formen vernichtet werden muss.

Eine Ungerechtigkeit kann nicht durch eine andere wiedergutgemacht werden. Genau das wurde 1948 getan, und wir sehen die traurigen Schäden, die dadurch entstanden sind. Wiedergutmachung, Rückkehr, Gleichberechtigung und Koexistenz.

Freedom for all, from the river to the sea.

Dieser Text wurde am 30.10.2023 verfasst, die Zahlen wurden aktualisiert, dennoch deckt der Artikel nicht die Ereignisse nach dem 30. Oktober ab.

Erschienen am 20.11.2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. Von Noor Or wurde bereits “Die Übelkeit” auf deutsch auf Bonustracks veröffentlicht. 

Hybride Kriegsführung, Defätismus und Revolte

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Die Telefonkonferenz am Dienstagabend, an der 21 Genossinnen und Genossen teilnahmen, begann mit einem auf der Website Defesa Online veröffentlichten Artikel mit dem Titel “Hamas, Huthi und der modernisierte Guerillakrieg aus der Ferne“.

Laut dem Magazin, das Informationen über die italienischen und ausländischen Streitkräfte veröffentlicht, ist der Angriff der Hamas vom 7. Oktober auf israelisches Territorium als “modernisierter Guerillakrieg aus der Ferne” einzustufen. In der hybriden Kriegsführung “gibt es keine klaren und definierten Fronten mehr”, da die auf die Kontrolle des gegnerischen Territoriums ausgerichtete Logik aufgegeben wurde. Der Guerillakrieg der Vergangenheit fand auf einem umgrenzten Territorium statt, während die irregulären Kräfte heute in der Lage sind, Dutzende oder sogar Hunderte von Kilometern entfernt anzugreifen (wie im Fall der Huthi-Rebellen). Im Nahen Osten gibt es mehrere nichtstaatliche bewaffnete Organisationen: die Hamas, die Huthi, die Hisbollah und all die anderen, weniger bekannten Gruppen, die mit Staaten wie Israel und den USA im Konflikt stehen. Die nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen sind sowohl wirtschaftlich als auch militärisch mit staatlichen Kräften verflochten (im Falle der Hamas mit dem Iran, aber auch mit Katar) und verwenden nicht nur leichte Waffen oder selbstgebaute Vorrichtungen, sondern setzen auch fortschrittliche technologische Waffen von einiger Schlagkraft ein. Die vertikale Eskalation der hybriden Kriegsführung aufgrund der Feuerkraft nichtstaatlicher Akteure (die Hamas hat innerhalb weniger Stunden über dreitausend Raketen auf Israel abgefeuert) wird von der Möglichkeit einer horizontalen Eskalation begleitet, an der immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt sind.

Im Leitartikel der Ausgabe 51 unserer Zeitschrift (“Der zukünftige Krieg“) haben wir das Thema der hybriden Kriegsführung angesprochen. Hamas und Hisbollah sind politisch-religiös-militärische Organisationen, stellen aber gleichzeitig Wohlfahrtsnetzwerke für die Bevölkerung dar, d.h. eine Art parallele staatliche Infrastruktur (Hamas im Gazastreifen und Hisbollah im Libanon, wo sie Minister, Bürgermeister und andere Verwaltungsstrukturen stellen. Diese Gruppen sind nicht autonom und folgen den kapitalistischen Interessen, sei es eines Staates oder religiöser Netzwerke. Sie sind Scheingemeinschaften, Surrogate von Zusammenschlüssen, die auf einem Zugehörigkeitsgefühl beruhen, das der entfremdenden Dynamik dieser Gesellschaft nicht entkommt (wie wir in dem Artikel “Ein Leben ohne Sinn” geschrieben haben), von hybriden Organisationen, die durch die Auflösung von Staaten entstehen.

Lenin zitiert in Staat und Revolution (Kap. IV) Engels und sagt, dass die Pariser Kommune kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war, weil sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) unterdrücken sollte. Wäre die Kommune konsolidiert worden, hätten sich die Spuren des Staates selbst “ausgelöscht”: Die Kommune hätte es nicht nötig gehabt, ihre Institutionen “abzuschaffen”, diese hätten aufgehört zu funktionieren, da sie nichts mehr zu tun gehabt hätten. In anderen Texten stellt er fest, dass sich die Bourgeoisie in Russland im Jahr 1917 noch nicht entfaltet hatte, während das Proletariat, auch wenn es eine Minderheit war, schon weit fortgeschritten war und die Aufgaben der Bourgeoisie übernehmen konnte: daher das Konzept der doppelten Revolution. Heute hat sich die Welt verändert, der Kapitalismus hat sich globalisiert, und nach den mutiplen Revolutionen (“’rassischer’ Druck der Bauernschaft, Klassendruck der farbigen Völker”, 1953) ist die Losung der kommunistischen Unterstützung der demokratischen – und Unabhängigkeitsaufstände nicht mehr zutreffend. Das Resultat ist eindeutig, es ist ein völliger Defätismus. Dieses Thema wurde in “Die Täuschung und Lüge der ‘Defensivität'” (1951) behandelt.

Angesichts des Phänomens des Auseinanderbrechens von Staaten ist es zwangsläufig, dass sich zukunftsorientierte Gemeinschaften der gegenseitigen Hilfe bilden werden. Occupy Wall Street (OWS) hat gezeigt, dass es möglich ist, über den gewerkschaftlichen und “politischen” Aspekt hinauszugehen, indem Einrichtungen wie Gemeinschaftskantinen, Bibliotheken, Medienzentren und der Wille, sichere und geschützte Orte zu schaffen, an denen wir alle gemeinsam essen, schlafen und leben können, bereitgestellt werden. Während des Hurrikans Sandy hat OWS eine großartige organisatorische Leistung erbracht. In Oakland griff die Occupy-Bewegung auf die Kommune zurück. Für uns gewinnt der Aspekt der menschlichen Gemeinschaft an Aktualität. Wie die Sozialistische Jugend 1913 feststellte (“Ein Programm: die Umwelt”):

“Die ganze bürgerliche Umwelt führt also zum Individualismus. Unser sozialistischer, antibürgerlicher Kampf, unsere revolutionäre Vorbereitung muss darauf gerichtet sein, die Grundlagen der neuen Umwelt zu schaffen.”

Im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt ist der “Marsch für die Geiseln” zu erwähnen, ein Zug von Tausenden von Menschen, die von Tel Aviv nach Jerusalem marschierten, um die Freilassung der Entführten zu fordern und gegen die Regierung zu protestieren. Das Land hat mit einer sehr heiklen inneren Situation zu kämpfen: In der Hauptstadt kam es in letzter Zeit zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung. Israel hat drei offene Fronten: den Gazastreifen, einen Konflikt niedriger Intensität mit der Hisbollah und einen Guerillakrieg im Westjordanland (RID, “Gaza, Israelis ziehen den Kreis enger, aber das Worst-Case-Szenario mit der dreifachen Front droht”). Und dann ist da noch die Wirtschaft: Der Tourismus und der High-Tech-Sektor sind zum Erliegen gekommen. Selbst die USA, Israels wichtigster Unterstützer, haben interne Probleme: Etwa 400 Leiter von 40 Regierungsbehörden haben in einem Schreiben an Präsident Joe Biden einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Der amerikanische Präsident steht vor drei großen Herausforderungen: die mögliche Ausweitung des Konflikts im Nahen Osten, das Halten der ukrainischen Front und das Halten seiner Wählerschaft, die von der Unterstützung für Netanjahu ohne Wenn und Aber enttäuscht ist.

In einem Interview mit der Zeitschrift ‘Economist’ (“Ukraine’s commander-in-chief on the breakthrough he needs to beat Russia”) sagte der Chef der ukrainischen Streitkräfte, General Valery Zaluzhny, dass die Gegenoffensive gescheitert sei und der Konflikt in einer Pattsituation stecke, die an die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs erinnere; nur ein weiterer technologischer Sprung könne seinem Land neue Chancen eröffnen. In den letzten Tagen haben Ehefrauen, Mütter und Freunde von ukrainischen Soldaten, die an die Front geschickt wurden, in Kiew und anderen Städten demonstriert. Ob man nun von Israel, den Vereinigten Staaten oder der Ukraine spricht, man muss die Heimatfront im Auge behalten, d.h. die Möglichkeit eines Aufstands der Bevölkerung. Es ist eine Sache, Pazifist zu sein, wenn kein Krieg herrscht, es ist eine ganz andere, Pazifist zu sein, wenn der eigene Staat, die eigene Bourgeoisie, im Krieg ist und Kanonenfutter braucht, um es an die Front zu schicken.

Neben dem Problem der Wehrpflicht haben die Staaten auch Probleme, wenn es um die Versorgung mit Waffen und Munition geht, von denen heute ein enormer Bedarf besteht. Der ‘Economist’ schreibt (“From Gaza to Ukraine, wars and crises are piling up”):

“Auch ohne Krieg wird die militärische Kapazität des Westens in den kommenden Jahren unter enormen Druck geraten. Der Krieg in der Ukraine hat uns nicht nur vor Augen geführt, wie viel Munition in großen Kriegen verbraucht wird, sondern auch, wie begrenzt die westlichen Arsenale und ihre Versorgungsmöglichkeiten sind. Amerika steigert seine Produktion von 155-mm-Artilleriegranaten drastisch. Auch hier wird die Produktion im Jahr 2025 wahrscheinlich geringer sein als die Russlands im Jahr 2024”.

Im Leitartikel der Ausgabe “Guerra Grande in Terrasanta” argumentiert ‘Limes’, dass die auf der amerikanischen Hegemonie basierende Ordnung zerbröckelt und dass China nicht die Kraft hat, die Zügel an der Spitze der Welt zu übernehmen. Aber anscheinend “gibt es ein Licht jenseits des Krieges”: Aus dieser Unordnung, so der Kolumnist, könnte eine neue Ordnung, natürlich eine bürgerliche, entstehen. Diese These ist nicht glaubwürdig: Diese Unordnung entspricht dem Niedergang der bürgerlichen Epoche und ist die Voraussetzung für die Bildung einer neuen Ordnung, die sich von allem bisher Dagewesenen völlig unterscheidet. Wir kommen zu diesem Schluss, weil wir uns nicht auf eine Momentaufnahme des Bestehenden beschränken, sondern eine dynamischere Sicht auf den Kapitalismus einnehmen (Entwicklungsschritte mit abnehmenden Wachstumsraten: Kinder wachsen, alte Menschen nicht).

In “Teoria e prassi della nuova politiguerra americana” (2003) schrieben wir, dass sich die USA aufgrund ihrer auf dem internationalen Abfluss des Mehrwerts basierenden Wirtschaftsstruktur im Krieg mit dem Rest der Welt befänden und dass sich daher der Rest der Welt gegen sie wenden würde, sobald es einen Hinweis darauf gäbe, dass sie nicht mehr das seien, was sie einmal waren (Blowback, Chalmers Johnson).

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurde der von der CGIL und der UIL für Freitag, den 17. November, ausgerufene Verkehrsstreik und der “Konflikt” mit der Regierung über die Frage der Entlassung der Beschäftigten erwähnt. Anstatt nach der Anerkennung des “Streikrechts” zu winseln, so wie die Linke, müssen sich die Arbeiter dieses Recht mit Gewalt zurückholen. Marx stellt fest: “Zwischen zwei gleichen Rechten, wer entscheidet? Die Gewalt”. Seit Jahren verzeichnen wir einen Anstieg der sozialen Spannungen, massive Aufstände in der ganzen Welt, Massenbewegungen und “einen allgemeinen Rückzug”. Die Proletarier haben nichts zu verteidigen, da ihnen alles weggenommen wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch Riot.Strike.Riot: The New Era of Uprisings von Joshua Clover, in dem es im Wesentlichen heißt, dass in der heutigen Zeit die Auseinandersetzung direkt mit dem Staat und auf der Straße stattfindet.

Erschienen am 14. November 2023 auf n+1, QuinternaLab. Ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Für die Übersetzung wurden nur die wesentlichen Links aus dem Originalartikel übernommen, das im letzten Absatz erwähnte Buch Riot.Strike.Riot von J. Clover ist mittlerweile auch auf deutsch erschienen

MILITANZ MACHT KEINEN URLAUB. VON DEN ACHTZIGERN, NEUNZIGERN UND NULLERJAHREN BIS HEUTE UND DARÜBER HINAUS. [PART 2]

Gigi Roggero 

Wir veröffentlichen den zweiten und letzten Teil (hier der vorherige) des Gesprächs mit Gigi Roggero, mit dem der MILITANTI-Zyklus abgeschlossen wurde.

Damit kommen wir zum Abschluss eines Weges der Überlegungen, der eingehenden Analyse und der Debatte, mit dem wir sehr zufrieden waren (wir hoffen, dass dies auch für diejenigen gilt, die daran teilgenommen haben). Der Reichtum der angestellten Überlegungen lässt sich in diesen wenigen abschließenden Worten kaum zusammenfassen: die Abschriften (zu Ehren unseres verrückten ‘Transkripter’) aller vorangegangenen Reden sind der Beweis dafür. Die Absicht, die uns bei der Konzeption und Planung dieses Zyklus bewegte, war es, einen strukturierten und kontinuierlichen Moment der Schulung anzubieten, der nicht nur Selbstschulung, sondern Co-Schulung zu einem ebenso baryzentrischen wie inaktuellen – wagen wir zu sagen anthropologischen – Thema des politischen Handelns ist. Allzu oft wird es als selbstverständlich hingenommen oder unkritisch erlebt, wenn es nicht aus der subjektiven Sichtweise beschrieben wird. 

“Wer ist ein Militanter? Was bedeutet Militanz – und hat sie bedeutet – und was unterscheidet sie von anderen Formen des politischen Handelns? Welche Grenzen und Reichtümer der revolutionären Erfahrungen der Vergangenheit bleiben heute (un)aktuell? Gefangen zwischen Konformismus und Ohnmacht, zwischen Identitätsbekundung und individualistischer Befriedigung, zwischen gewerkschaftlicher Organisierung und idealistischem Aktivismus, hat die militante Wahl wirklich ihr Potenzial zum Bruch erschöpft?” 

Mit diesen Fragen haben wir die Tagung eröffnet, ein Versuch – auf unsere eigene Art und Weise, sehr begrenzt und sicherlich unvollständig – uns selbst zu hinterfragen und neu zu befragen (kein fertiges Rezept: alles muss konstruiert werden), aber auch die Fäden einer politischen Tradition neu zu knüpfen, Werkzeuge zu erarbeiten, um heute zu denken und zu handeln, gegen das Heute. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob uns das vollständig gelungen ist. Wir hoffen, dass es gelungen ist, etwas zu sedimentieren, oder besser gesagt zum Gären zu bringen, das jungen Banditen oder fernen Genossen, die wir noch nicht kennen, nützen kann. Was wir jedoch wissen, ist, dass wir, nachdem wir so weit gekommen sind, nicht umhin können, diese Zeilen mit einer Erinnerung an Mario (Tronti, d.Ü.) zu schließen. Unserem Mario. Einem Lehrer, einem Genossen, einem Freund, dessen Stimme, auch wenn er es nicht wusste, während dieser Reise sehr präsent war.

Bevor wir ihn vor ein paar Jahren wirklich kennenlernten, Mario, hatten wir ihn bereits getroffen: in den Büchern, die uns geprägt haben, als wir jünger waren, und die unser Leben verändert haben – zum Guten oder zum Schlechten, das wissen wir nicht: Wir wissen nur, dass wir dieses Leben gegen kein anderes eintauschen würden. Das ist es, was echte Lehrer tun, besonders die schwierigen, die wir mögen. Aber Mario hatten wir schon kennengelernt, bevor wir ihn gelesen hatten. In der unumstößlichen Wahl des Lagers, im Hass gegen diese barbarische Zivilisation, im mit dem Kampf verbundenen Wissen. In den freien Geistern, die Schulter an Schulter gegen ein Schicksal ankämpfen, das sie gerne für uns hätten, sie, die schon für uns geschrieben haben. Arbeiter und Kapital, wieder und für immer. 

“Die Wahl des Lagers kommt zuerst. Die politische Entscheidung kommt vor dem Festhalten an der politischen Theorie. Ich habe schon oft gesagt, dass ich Kommunist wurde, bevor ich Marxist wurde. Das ist der einzig richtige Weg. Der Militante an der Basis bekennt sich nicht zu einer Doktrin, sondern zu einer Praxis. Der Intellektuelle geht den umgekehrten Weg”.

Das sind die Worte von Mario. Es sind die Worte eines Kämpfers. Das ist alles. 

Viel Spaß beim Lesen.

(Vorwort der Veranstalter)

Frage:

Ich möchte Dich bitten, ein Detail der Genealogie, die Du gerade gemacht hast, näher zu erläutern, um sie auf einen entscheidenden Aspekt der Gegenwärtigkeit zu beziehen. Ich möchte Dich bitten, uns mehr über die Bewegung als Antwort auf den “Krieg gegen den Terror” zu erzählen, die wir zwischen 2001 und 2003 erlebt haben, ausgehend von der Überlegung, dass in einem relativ kurzen Zeitraum eine extrem breite Mobilisierung entstanden ist. Derartige so breite Antikriegsdemonstrationen hatte es im Westen noch nie gegeben, vielleicht sogar im gesamten 20. Jahrhundert nicht; die politische Tatsache, die wir heute feststellen können, ist jedoch, dass diese Mobilisierungen trotz der Millionen von Menschen, die überall auf der Welt gleichzeitig auf die Straße gingen, für die Fortführung des Krieges selbst irrelevant waren. Der Krieg war da und dauerte jahrelang an. Ich glaube also, dass wir durch die Reflexion dieser Ereignisse einige Schwerpunkte der heutigen Militanz finden können – denn egal, was man sagt, der Krieg steht immer am Horizont der Politik.

Die zweite Frage ist ein weiterer Ausblick auf die Subjektivitäten, die Begrenzungen und das Potenzial der letzten Bewegung, die wir erlebt haben, nämlich die von L’Onda (Die Welle, d.Ü.). Zwischen 2008 und, grob gesagt, dem 15. Oktober 2011 wurde die letzte “echte” Bewegung mit neuen antagonistischen Subjektivitäten präsentiert. Nach der Welle habe ich nichts Vergleichbares mehr gesehen, außer in gewisser Hinsicht mit den “Forconi” am 9. Dezember 2013. Gibt es deiner Meinung nach einen roten Faden zwischen der ‘Welle’ und der neuen Explosion der populistischen Plätze, die vielleicht nur kurzlebig ist, aber in der nachfolgenden Phase einen deutlichen Bodensatz hinterlassen hat? Siehst Du trotz der offensichtlichen Unterschiede in der Zusammensetzung Ähnlichkeiten im Verhalten und in den Formen des politischen Ausdrucks? Denn es könnte ein Weg sein, die Fehler in unserem Ansatz zu erkennen, da (meiner Meinung nach) die Erkenntnisse aus der militanten Welt der Bühne nicht gewachsen waren, da sie nicht in der Lage waren, sich auf die angemessenste Weise auf ihr zu bewegen und von den verschiedenen “politischen Unternehmern” weggefegt wurden.

Frage:

Ich möchte Dich hingegen um eine allgemeinere Untersuchung der Methode bitten, indem ich eine Frage, die Du am Ende aufgeworfen hast – nämlich die Frage, “was in Momenten des Stillstands zu tun ist”, d.h. wie ein Gedanke geschaffen werden kann, der in der Lage ist, die neue Zusammensetzung auszudrücken und widerzuspiegeln, und der die Möglichkeiten des Konflikts in den Ambivalenzen auffängt -, mit einer Frage verbinde, die zu Beginn Deiner Rede auftauchte, nämlich dem ungelösten Knoten der Ausarbeitung einer breiten Organisationsform, nachdem die Parteiform des 20. Jahrhunderts kritisiert worden ist. In der Tat haben wir eine Vielzahl von kleinen Organisationen mit unterschiedlichen Modellen gesehen, die aber immer darum gekämpft haben, sich auszudehnen, bis sie erschöpft waren. Nun, für mich hängen diese beiden Probleme zusammen. Wenn es keine Kämpfe gibt, ist es dann möglich, etwas anderes als bloße Kritik zu produzieren?

Dies bringt uns jedoch zu einem zweiten Problem: Um effektiv zu sein und mehr als eine Handvoll “kritischer Intellektueller” auf der Suche nach Reputation auf dem intellektuellen Markt hervorzubringen, bedarf es einer Form der Koordination und eines Netzwerks, in dessen Mittelpunkt das gemeinsame Ziel steht, ein Projekt aufzubauen. Doch wie soll dieses Projekt gefunden werden, wenn es keine Kämpfe gibt? Es ist kein Zufall, dass es in den letzten Jahren viele intellektuelle Bestrebungen gab (ich denke an den so genannten “Post-Operaismus”), aber es fehlte ihnen ein unverzichtbares Element, um zu einem politischen Instrument zu werden, d.h. es fehlte ihnen ein Gegner. Wir wussten, wer die potenziellen “Freunde” sein könnten (die “geistigen Arbeiter”, die “Lastenträger” usw.), aber der Feind fehlte, oder wenn er da war, wurde er auf den Neoliberalismus reduziert – als ob wir den Wohlfahrtskapitalismus lieben würden. Ich würde Dich also bitten, auf diese beiden Punkte methodisch einzugehen.

Frage:

Ich beziehe mich auf das, was gerade gesagt wurde: Im jüngsten militanten Denken fehlt nicht nur die Beschreibung des Feindes, es fehlt der Feind als Konzept, das heißt, es fehlt die Idee des Konflikts selbst. Wenn ich als absoluter Laie darüber nachdenke, was in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren an Gedankengut produziert wurde, dann finde ich entweder utopisches sozialistisches Gedankengut des “dritten Jahrtausends” – ich denke da an den Akzelerationismus, wonach man nur konfliktfrei beschleunigen muss und bumm! oder Analysen, die zwar faszinierend, aber nur beschreibend sind – um noch einmal im selben Bereich zu bleiben: Fishers Kapitalistischer Realismus fand viele Leser, aber es war ein Stoff, der darin unterging und sich wenig überraschend auf die Behauptung beschränkte, dass es “keine Alternative gibt”. Meine Frage an Dich lautet also: Warum ist selbst in der Nische der militanten Intellektualität der Konflikt verschwunden?

Frage:

Ich stimme voll und ganz mit deinen Überlegungen über die Notwendigkeit überein, die soziale Zusammensetzung, mit der wir heute konfrontiert sind, zu ergründen und zu analysieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns in der Zusammensetzung, die wir haben, bewegen, denn nur dort können wir echte Ansätze zur Veränderung der Machtverhältnisse finden. Die Schwierigkeit, die ich sehe, ergibt sich vor allem aus den Rhythmen der sozialen Veränderungen. Um uns zurechtzufinden, haben wir uns an eine bestimmte Art der Analyse gewöhnt, die in aller Ruhe durchgeführt wird, indem man Texte liest und verschiedene historische Momente vergleicht; andererseits lässt die heutige Geschwindigkeit nicht den Raum, um ernsthaft in die Analyse einzusteigen. Man muss auf dem, was man sieht, ‘surfen’ und hoffen, dass man es erwischt hat, und auf jeden Fall weiß man nicht, wie man damit umgehen soll. Auch weil die Kompositionen von heute oft wirklich “global” sind: Selbst wenn man sich nur Modena ansieht, muss man mindestens Urdu und einen tunesischen Dialekt beherrschen, um Zwanzigjährige zu treffen. Ich denke, dass dies ein Problem ist, das alle organisierten Gruppen betrifft. Bevor wir also Hypothesen darüber aufstellen, was ein kollektives Thema sein könnte, auf das wir wetten können, sollten wir vielleicht verstehen, wie wir innerhalb der Geschwindigkeit bleiben können. Ich möchte Dich daher fragen, ob du jemals darüber nachgedacht hast und ob du irgendwelche Hinweise hast.

Gigi Roggero:

Also reiche ich euch gleich die Hand. Eine auch nur annähernde Einführung in diese Themen würde mindestens fünf Sitzungen erfordern; daher werde ich mich darauf beschränken, einige Andeutungen zu machen, die dann von Euch zu Ende geführt werden müssen.

Ich beginne mit der Frage des Krieges, indem ich sie aus der Perspektive der Bewegungen und nicht aus der üblichen geopolitischen Perspektive des Aufeinandertreffens von Mächten dekliniere. Um einen vorläufigen Rahmen zu schaffen, bevor wir fortfahren, sollten wir wissen, dass es gerade in den Jahren 2001 und 2003 eine enorme Mobilisierung gab, die sich als eine Art Fortsetzung der No-Global-Bewegung mit denselben Mitteln erwies – die wiederum im Wesentlichen zwischen dem G8-Gipfel in Genua und den Anschlägen auf die Zwillingstürme endete.

Wenn ich nun von Genua spreche, dann spreche ich vor allem von den Beschränkungen, aber ich möchte klarstellen, dass ich das nicht tue, weil es dort keine Reichtümer gab. Ganz im Gegenteil! Es ließe sich so vieles über die Bedeutung jener Tage sagen, und zwar aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln; aber ich denke, es ist sinnvoller zu fragen, warum eine so starke Bewegung, die zu wichtigen Entwicklungen bestimmt schien, zu einem bestimmten Zeitpunkt untergeht. Auch hier glaube ich nicht, dass die Repression als Erklärung ausreicht: Ja, diese Typen schießen, aber wir haben ihnen viel eingeschenkt und sie sind weggelaufen. Bestimmte Theorien haben mich nie überzeugt, das Argument, sie hätten “das Gemetzel vorbereitet”, klingt für mich wie ein Haufen Unsinn. Ohne irgendjemandem verzeihen zu wollen, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass der Verrückte, der geschossen hat, sich von Leuten umringt sah, die mit Feuerlöschern und Holzbalken ankamen, und Angst bekam… und geschossen hat. Es gab einen Moment, in dem sie einfach nicht mehr wussten, was sie tun sollten. Dann, nun ja, diejenigen, die in die Diaz gingen, waren Polizisten, die vierzehn Tage lang wie Tiere in Containern unter der Sonne Genuas schliefen, bis auf die Knochen abgemagert, und irgendwann, nachdem sie sie drei Tage lang festgehalten hatten, brachten die Polizisten die Tiere auf die Weide, um sich auszutoben. Und sie taten, was sie taten.

Kurz gesagt, es handelte sich um einen Konflikt auf hohem Niveau, der jedoch von einer erheblichen Unfähigkeit der militanten politischen Klasse Italiens begleitet wurde, den – auch internationalen – Charakter dieser Momente zu verstehen. Danach wurde ein völlig defensives Moment ausgelöst: und wenn man sich verteidigt, greifen die anderen an; und wenn sie einen angreifen, vernichten sie einen. Aber schließen wir die Klammer zu Genua und kehren wir zur Frage des Krieges zurück.

Wie der Genosse sagte, war die “No War”-Bewegung eine sehr breite Bewegung, die in ihrer Zusammensetzung dem, was wir in Genua gesehen haben, sehr ähnlich ist, aber vor allem war sie die letzte große Antikriegsbewegung, die es gab. Der Krieg in Afghanistan brach, wie Sie sich vielleicht erinnern, wenige Monate nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme aus, und weniger als anderthalb Jahre später brach der zweite Golfkrieg im Irak aus. In dieser Zeit kam es zu Mobilisierungen, die am 15. Februar 2003 ihren Höhepunkt fanden, als 110 Millionen Menschen auf alle Plätze der Welt strömten. Allein in Rom waren es etwa drei Millionen. Es war für alle sehr beeindruckend, in den Nachrichten die mit Demonstrationen übersäte Weltkarte zu sehen; oder denken Sie auch daran, als die “New York Times” am 17. Februar, zwei Tage nach dem Beginn, einen Artikel veröffentlichte, in dem alle voller Hoffnung verkündeten, dass “es noch zwei Supermächte auf dem Planeten gibt: die Vereinigten Staaten und die Weltöffentlichkeit” [1]. Alles sehr bewegend. Nun, ein paar Wochen später bricht der Krieg aus und die Bewegung löst sich auf. Auch wenn die Bewegung in Bezug auf ihr mediales Gewicht zweifellos eine Macht war, erwies sie sich als völlig unfähig, jene quantitative Ausdehnung der Bündelung und Beteiligung (ich wiederhole: von außerordentlicher Bedeutung) zu erreichen, um sie in der Materialität der Produktionsprozesse und sozialen Beziehungen zu verankern.

Das gilt auch für die No-Global-Bewegung: Es gab große Mobilisierungen auf der Straße, aber keine an den Universitäten oder in den Betrieben. Und bei näherer Betrachtung ist es seltsam: Während in den 1970er Jahren auf der Straße und am Arbeitsplatz ein Durcheinander herrschte, finden wir im Jahr 2000 eine radikale Diskrepanz zwischen der einen und der anderen Sache. Auch die No-Global-Bewegung ist in erster Linie eine Meinungsbewegung – was nicht heißt, dass man sie abwerten soll, indem man sagt: “So war es, und so musste es sein”; aber es erfordert eine ernüchternde Betrachtung ihrer Entwicklungen. Deshalb glaube ich, dass der erste Schritt bei der Analyse der Antikriegsbewegung darin besteht, sie mit der Frage der Mittelschicht in Verbindung zu bringen.

Was sich in den pazifistischen Bewegungen, auch historisch, ausdrückt, ist die Mittelschicht, eine Mittelschicht, die ihre Mobilisierungsressourcen in die großen internationalen oder ideellen Fragen (wie eben Frieden und Krieg) steckt. Einige Jahre später, 2007-2008, beginnt jedoch die Weltwirtschaftskrise, in der wir uns immer noch befinden, und mit ihr beginnt der Prozess der Krise-Zersetzung-Polarisierung-Fragmentierung der Mittelschicht, den wir in den letzten Jahren ausführlich analysiert haben. Die Ruhe, die es der Mittelschicht ermöglichte, sich in den großen ideellen Fragen zu mobilisieren, verschwindet im Lichte einer anderen Art von Notlage. In dem Moment, in dem die Mittelschicht von der Materialität der Krise betroffen und zersplittert ist, hört sie auf, sich in diese Richtung zu äußern. Kurz gesagt, es gibt seither keine Antikriegsbewegungen mehr, nicht weil es keine Kriege mehr gibt, sondern weil sich die Bedingungen ihres Hauptgegenstands grundlegend geändert haben. Und das Gleiche gilt auch heute. 

Frage:

Ich möchte eine Provokation starten. Alles, was Du sagst, ist richtig; aber es ist gerade die Mittelschicht, die von diesem Krieg betroffen ist, wegen der direkten Auswirkungen, die der Gaspreis, die Sanktionen gegen Russland und so weiter auf ihren Lebensstandard haben – viel mehr als der Krieg gegen den Irak…

Gigi Roggero:

Ganz genau. Aber was ist der Punkt? Diese Bewegung hatte als Grundlage die Aussage “Krieg ist schlecht, wir wollen Frieden”. Ich meine, im Jahr 1917 war das Thema nicht Frieden als ideales Ziel, sondern Brot! Auf diesem Aspekt baut der Konflikt auf und der imperialistische Krieg wird in einen revolutionären Krieg verwandelt. Was wir heute versäumen, ist, die Opposition gegen den Krieg genau in dem zu begründen, was Du sagst, d.h. in der Materialität der sozialen Bedingungen. Die Mittelschicht, die sich 2003 mobilisierte, war von dem Krieg überhaupt nicht betroffen. Es war ein entfernter Krieg, ein Krieg, der im Fernsehen übertragen wurde; es war “hässlich”, Menschen sterben zu sehen, aber es gab keine Angst vor einer sozialen Deklassierung. Das ist etwas, das heute direkter auftritt, das aber gerade wegen der Erschütterung, von der wir gesprochen haben, im Moment keinen politischen Ausdruck gefunden hat.

Kommen wir nun zum zweiten Punkt, der Beziehung zwischen Krise und L’Onda. Die Onda-Bewegung ist wichtig, weil sie die erste Bewegung auf internationaler Ebene zur Krise ist, so sehr, dass der charakteristischste Slogan nicht etwas mit der Universität zu tun hatte, sondern “Wir zahlen nicht für die Krise” lautete. Sie hat sofort auf dieser Ebene gehandelt. Es war übrigens noch 2008, also noch in den Anfängen der Krise, als die Folgen des Crashs noch nicht in vollem Umfang zu spüren waren. Hier könnte man vielleicht sagen, dass dieselben Mittelschichtler, die zuvor mit Sorge auf den Krieg geblickt hatten, nun am eigenen Leib zu spüren begannen, was sich konkret am Horizont abzeichnete, weil sie spürten, dass sie es sein würden, die zahlen würden. In der Tat wurde diese Krise nicht auf globaler Ebene angegangen, sondern in Bezug auf den italienischen Kontext; und das Schockierendste war, dass gerade dort die für uns “stacheligen” Parolen des “Verdienstes” und der “Korruption” auftauchten.

Ich erinnere mich, dass ich zu diesem Zeitpunkt in der Universität Nachrichten von meinen Genossen erhielt. Sie sagen mir: “Schau, viele Leute kommen mit Tonbandgeräten hierher. Sie nehmen die Vorlesungen auf, denn so können sie das, was die Professoren sagen, gegen sie verwenden, sich sogar an die verschiedenen Behörden wenden und sie anprangern”. Wohlgemerkt, das sind nicht die Scheißkerle, gegen die du kämpfst, sondern diejenigen, die die Versammlungen bevölkern. Ihr versteht also, dass es sich nicht um eine einfache und geradlinige Subjektivität handelte, und schon gar nicht um eine, die mit unseren Positionen übereinstimmt. Es war eine verwirrende Subjektivität, selbst im Vergleich zu dem, was wir von den “Panther” gewohnt waren.

Während Pantera sprachen wir in unseren eigenen Worten, wir sagten ‘Nein zur Kommerzialisierung des Wissens’ – ein Thema, zu dem vor kurzem ein Buch von Alquati, Cultura, formazione e ricerca (Derive Approdi), erschienen ist, in dem er über einen Dialog berichtet, den er in jenen Tagen mit Studenten führte. Es ist ein erstaunlicher Dialog, denn er ist äußerst klar (wer das Pech hatte, auf seinen anderen Text, Sulla riproduzione della capacità umana vivente, zu stoßen, weiß, wie schwer es ist, sich mit seiner Schrift vertraut zu machen) und in dem sich bereits zu Beginn der 1990er Jahre eine Reihe von Tendenzen abzeichneten, die sich erst später voll entfalten sollten.

Die “Welle” hingegen ist von Anfang an eine verwirrende Bewegung. Einige von Euch waren damals dabei und wissen sehr gut, zu welchen Ebenen der Ambiguität sie gelangte. In der Tat finden wir sie in der 5-Sterne-Bewegung in vollem Umfang wieder: dieselben Studenten, die die Schulen besetzten, sah man sechs Monate später mit dem “Fatto Quotidiano” unter dem Arm wieder. Es war nicht leicht, damit zu arbeiten, aber es war dennoch klar, dass diese Studenten einen Widerspruch erkannt hatten. Im Grunde genommen ist die “Welle” die Mobilisierung eines Teils der “geistigen Arbeiterschaft”, die einen Platz in der italienischen Gesellschaft beansprucht, den sie nicht anerkannt sieht, und die die Auswirkungen der Krise vorausahnt und weiß, dass es immer schlimmer werden wird.

Das ist es, was wir nicht verstanden haben: Wir hätten ihnen sicherlich nicht in der Frage der Leistungsorientierung nachgeben sollen, sondern verstehen müssen, dass hinter diesem Signifikanten eine tiefgreifendere und fundiertere Bedeutung in den Transformationen der Mittelschicht steckt. Nun, im Nachhinein kann man weder Geschichte noch Politik machen, aber es könnte nützlich sein, darüber nachzudenken, wie die Dinge hätten anders laufen können. Dies geschieht nicht, um uns selbst zu martern oder unsere eigene Dummheit zu beweinen, sondern um uns daran zu erinnern, dass die Gegenwart immer offen ist. Die Gegenwart ist immer offen für andere Möglichkeiten: In diesem Fall bedeutet die Erkenntnis im Vorfeld, die 5 Sterne zu übernehmen und sie auf die andere Seite zu befördern.

Es stimmt jedoch, dass zwischen 2011 und 2013 mit der Forconi-Bewegung etwas Ähnliches wiederkehrt. Die “Forconi” wurden 2011 in Sizilien geboren und versammelten landwirtschaftliche Kleinunternehmer, die die ganze Insel für ein paar Wochen in Schach hielten. Wie im Drehbuch vorgesehen, verschwendete die institutionelle Linke keine Zeit und beschuldigte sie sofort, Faschisten zu sein, mit der Mafia zusammenzuarbeiten, Reaktionäre zu sein usw. Während die Genossen, die bereits damit begonnen hatten, ungeheuerliche Analysen über sie zu veröffentlichen (wie die von Giorgio Martinico in UniNomade), erklärten, dass sie sozusagen nur Unternehmer seien, da es sich um Betriebe mit einem oder zwei Angestellten handele (oft nur sie und einige Familienmitglieder, also alles andere als Grundbesitzer).

Was in Turin explodieren wird, ist wieder etwas anderes. Kurz gesagt, am 9. Dezember 2013 fand ein Zusammentreffen zwischen einigen Selbstständigen der ersten Generation mit der proletarischen und subproletarischen Zusammensetzung aus den Vorstädten statt. Eine absolut einzigartige und in der Tat kurzlebige Angelegenheit; ein flüchtiges Bündnis, das von der institutionellen Linken schon damals als reaktionär und faschistisch gebrandmarkt wurde. Ich glaube jedoch, dass die “Welle” und die “Forconi” in ihrer Unterschiedlichkeit zwei Bewegungen sind, die in eine allgemeinere Betrachtung darüber eingeordnet werden sollten, was in den Prozessen der Destabilisierung der Mittelschicht wirklich passiert.

Während die Krise im Jahr 2008 noch am Anfang stand, hatte sie zwischen 2011 und 2013 bereits ihre Auswirkungen entfaltet. Heute wissen wir, dass das Konzept der Mittelklasse, noch bevor es eine soziologische Kategorie ist, in erster Linie ein politisches Konzept ist: Die Mittelklasse ist mehr als nur ein Zwischenbereich in der Einkommenspyramide, sie ist eine soziale Funktion. Sie ist eine Art Vermittler, ein Damm, der die Entwicklung und Explosion von Klassenkämpfen verhindert; sie ist das Subjekt, das nicht nur in der Mitte steht, sondern auch zwischen den beiden Klassen vermittelt. Die Entlohnung, die es erhält (die in Form von Einkommen, Status, Berufsbedingungen, sozialer Anerkennung usw. ausfällt), ergibt sich genau aus dieser Vermittlerrolle. In dem Moment, in dem dieses Subjekt destabilisiert wird, passiert etwas, weil sich die Gesellschaft entweder auf der einen oder auf der anderen Seite polarisiert. Die Mittelschicht ist also strukturell zweideutig: Es kann keine Mittelschicht ohne Ambivalenz geben, eben weil sie selbst zweideutig zwischen der einen und der anderen Seite steht. Im normalen Funktionieren des Kapitalismus vermittelt sie zugunsten der Bourgeoisie; in Momenten der Destabilisierung, wenn sie zusammenbricht, könnte sie sich in Richtung der Arbeiterklasse polarisieren. Man stelle sich eine Schlägerei vor, mit Türstehern in der Mitte: Wenn man sich mit den Türstehern verbündet, ist das ein Schlamassel für die anderen… Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mittelklasse mehr oder weniger so funktioniert.

Was also im Gegensatz zu den Schlagwörtern zur “Welle” und im Fall von “Forconi” nicht begriffen wurde, war genau der laufende Prozess der Destabilisierung. In gewisser Weise hatte in den 1970er Jahren eine analoge Dynamik stattgefunden (die nicht zufällig von Alquati in einem Buch mit dem Titel “Universitäten der Mittelklasse” analysiert wurde), jedoch mit einem entscheidenden Unterschied an der Basis: Während in den 1970er Jahren die Destabilisierung von der Stoßrichtung der Kämpfe um die Autonomie der Arbeiter ausging, geht die Stoßrichtung in der Krise 2008-2009 von der entgegengesetzten Seite aus, d. h. es ist das Kapital, das die Mittelklasse dekonstruiert. Doch wenn man die Mittelschicht dekonstruiert, passiert immer etwas.

Am Ende des Tages stellt sich wieder das leninistische Problem der Wette auf das Subjekt: Lenin mochte die Bauern gewiss nicht und setzte alles auf die strategische Bedeutung der Arbeiterminderheit; aber er glaubte auch, dass die Revolution in Russland ein taktisches Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern erforderte, wobei letztere eine Rolle spielten, die der der Mittelklasse nahe kam. Doch darauf werde ich später zurückkommen. Für den Moment genügt es zu sagen, dass immer dann, wenn Prozesse der Destrukturierung der Mittelklasse wahrgenommen werden, das Problem der taktischen Allianzen wieder auftaucht.

Bevor man jedoch ein taktisches Bündnis eingeht, muss man sich darüber im Klaren sein, wer das strategische Subjekt ist, und diesbezüglich verweise ich auf die vorhin gestellte Frage. Ich glaube nicht, dass die Begrenzung des Post-Operaismus vor allem in der Identifizierung des Feindes lagen, sondern vielmehr in der Logik, mit der das politische Bezugssubjekt identifiziert wurde – mit anderen Worten, das Subjekt, das die Kämpfe führen würde. Das heißt, man glaubte, dass sich letztere direkt aus der Untersuchung der Veränderungen der Arbeit und der Produktion ableiten ließen. Um es mit den Worten des traditionellen Operaismus auszudrücken, dachte man, dass die “technische Komposition” unmittelbar zur “politischen Komposition” führen würde: Da die kognitive Arbeit für die technische Komposition in den Produktions- und Verwertungsprozessen von zentraler Bedeutung ist, wäre die kognitive Arbeit automatisch auch von zentraler politischer Bedeutung.

Das war ein Kurzschluss, der ins Leere führte, weil er die Dimension der Subjektivität umging. Subjektivität wird produziert, sie bildet sich in Machtverhältnissen und Organisationsversuchen; sie ist nicht etwas, das sich in zwei Worten zusammenfassen lässt. Gleichzeitig ist es auch offensichtlich (oder zumindest für mich offensichtlich), dass die negrianische Hypothese  (Toni Negris Multitide ist gemeint, d.Ü.) einer nun völlig autonomen sozialen und produktiven Kooperation, für die das Kapital nur eine parasitäre Hülle ist, gescheitert ist. Dahinter steckt derselbe Fehler, den ich bereits erwähnt habe: Wenn man die Art der Subjektivität dieser Kooperation nicht in Frage stellt, kann man sich auch nicht vorstellen, dass das, was da ist, einen sofort zur Frage des Kommunismus zurückbringt.

In der Untersuchung dieses politischen Knotens entdecken wir die Wege, auf denen wir das Problem (ein gigantisches Problem, das nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gelöst werden kann) der Parteifunktion stellen können. Wie Du richtig sagtest, sagt die Erklärung des Endes eines neueren Organisationsmodells (z.B. der centri sociali) nichts darüber aus, was zu tun ist, und wir können sicherlich nicht zu einem früheren Modell (der klassischen Partei) zurückkehren.

Auch da bleibe ich sehr leninistisch. Natürlich ist es schwierig zu reflektieren, wenn es keine Kämpfe gibt, aber es muss trotzdem getan werden. Und ich glaube auch, wenn man mit dem Denken wartet, bis die Kämpfe da sind, ist man schon zu spät dran. Wenn man erst einmal dort angekommen ist, wo die Probleme bereits ausgebrochen sind, kann man ihnen folgen, aber man kann sie nicht lenken. Doch noch ein paar Worte zu diesem Punkt. Es ist ein schlechter Leninismus, ein paranoider Leninismus, derjenige, der meint, dass Bewegungen durch bloßen Willen organisiert werden können. Bewegungen werden in ihrer Spontaneität geboren, das ist wahr; aber ich denke, das ist ein bisschen wie die Katze mit der Maus: Die Katze schubst die Maus nicht dorthin, wo sie sich entscheidet, sondern sie überlegt sich, wo sie herauskommen kann und setzt sich dort hin, schlägt geduldig Wurzeln und ist im richtigen Moment bereit, sich auf sie zu stürzen. Genau das müssen wir tun, uns dort verwurzeln, wo die Untersuchung uns gezeigt hat, dass unsere Themen auftauchen könnten, und dafür sorgen, dass wir bereit sind, ihren Schwung zu verstärken.

Ich bleibe auch in einem anderen Punkt absolut leninistisch: Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Bewegung. Es wird immer Bewegungen geben, spontan oder nicht, die sogar in der Lage sind, die Dinge durcheinander zu bringen; aber ohne ihre revolutionäre Theorie werden sie richtungslose Bewegungen bleiben, die, welche Richtung sie auch immer einschlagen, wieder in die kapitalistische Maschinerie eingesaugt werden. Und dies gilt umso mehr bei der derzeitigen Beschleunigung. Wie können diese Bewegungen zum Tragen kommen? Hier erweist sich die Erforschung der Parteifunktion als grundlegend. Wo können wir sie heute verorten? Vollständig außerhalb oder vollständig innerhalb der Zusammensetzung? Die Hypothese, dass das Klassenbewusstsein ausschließlich von außen kommt, hat sich aus verschiedenen Gründen erschöpft: nicht weil sie von Anfang an falsch war, sondern weil es wichtige gesellschaftliche Veränderungen gab, die zu ihrer Erschöpfung geführt haben (nicht zufällig sagte Lenin zehn Jahre später ganz andere Dinge). Gleichzeitig ist, wie gesagt, die Hypothese gescheitert, dass das Problem der Organisation sofort in der Klassenzusammensetzung aufgeht, d.h. dass sie automatisch ihre eigenen Organisationsmechanismen finden würde. Vielleicht muss die Parteifunktion heute weder völlig innerhalb noch völlig außerhalb angesiedelt werden, in dem Sinne, dass wir innerhalb der Zusammensetzung sein müssen, ohne jedoch völlig von ihr absorbiert zu werden (oder wie Paulus von Tarsus sagte: Wir müssen Menschen in dieser Welt sein, aber nicht Menschen dieser Welt).

Um den Diskurs zu konkretisieren, versucht, ihn auf Formen der politischen Zusammenarbeit zu beziehen und auch auf konkrete Erfahrungen, die ihr gemacht habt oder mit denen ihr vertraut seid. Ein Beispiel: eine Zeitschrift. Stellt euch vor, jemand beschließt, eine Zeitschrift zu gründen, baut eine Infrastruktur auf und wartet dann darauf, dass die Leute spontan ihre Beiträge einschicken. Das wird nie funktionieren. Oder andersherum: man beschließt die Beiträge und überlässt sie der einen und der anderen Fraktion. Auch das funktioniert nicht. Die Fähigkeit muss sein, eine Spontaneität zu organisieren, einen Prozess in Gang zu setzen, der dann von selbst weitergeht. Man bedenke, dass man, wenn man ideologische Rekonstruktionen und propagandistische Selbstdarstellungen abträgt, historisch viele Beispiele für diesen Organisationsstil finden kann.

Wenn man so will, liegt hierin auch die Größe Lenins. Der total organisierte Lenin, der alles von außen betreibt, ist eine durchschlagende Lüge. Wenn man über das Verhältnis zwischen der Partei und den Sowjets nachdenkt, wird man sofort daran erinnert, wie Lenin zu wiederholen pflegte, dass es Momente gibt, in denen die Spontaneität weiter fortgeschritten ist als die Organisation: 1905 ist die Spontaneität jeder sozialistischen Realität deutlich voraus, und wenn die Arbeiter die Sowjets bilden, hat niemand sie geplant. Aber was muss die Organisation an diesem Punkt tun? Sie muss sich auf die Ebene der Spontaneität begeben. Es gibt aber auch andere Phasen, in denen die Spontaneität zurückweicht: Der typische Fall ist die von Lenin beschriebene Klammer zwischen April und Anfang Juli 18, in der die Sowjets die provisorische Regierung beseitigen können, ohne einen Schuss abzugeben; aber ab Juli ändert sich das Szenario, weil wir erkennen, dass die Sowjets zu einem Parlament werden. Das ist der Punkt, an dem die Organisation sich selbst zerbrechen und die Spontaneität wiederherstellen muss.

Das ist dasselbe, worüber wir vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Debatte im Jahr ’21 über die Rolle der Gewerkschaften in der Sowjetunion gesprochen haben: Auf der einen Seite stehen Bucharin und Trotzki (der sich als Libertärer ausgibt, aber abgesehen davon, dass er der Vater der Roten Armee war, war er immer ein Ultra-’Staatist’), für die es notwendig war, die Gewerkschaften zu militarisieren, indem man die Armee an ihre Spitze stellte (der Staat ist der Staat der Arbeiter, Punkt, und die Gewerkschaften dürfen ihnen nicht auf den Sack gehen), eine Position, die Lenin als bürokratisch brandmarkt; auf der anderen Seite stehen die Vertreter der Arbeiteropposition, der Rabotschaja oppozitsija, die stattdessen glauben, dass alle Macht der Selbstorganisation anvertraut werden sollte, eine These, die für Lenin völlig unbestimmt ist. Und so versucht er, die Parteifunktion weder ganz nach innen noch ganz nach außen zu verlagern. Anders ausgedrückt: Was können die Gewerkschaften in diesem Stadium (und nur in diesem Stadium) tun? In einer solchen Phase können die Gewerkschaften zu Schulen des Kommunismus werden, zu Zentren, in denen sich die Arbeiter für den Klassenkampf organisieren, auch gegen den Staat, und sich darin üben, einen Prozess zu führen, der zur Zerstörung des Staates führen muss. Dieses Aussterben wird also nicht spontan sein, aber auch nicht das Ergebnis eines einfachen organisierten Willens. Parenthese abgeschlossen.

Um auf uns zurückzukommen: Wo können wir die Parteifunktion heute ansiedeln? Wenn wir sie ganz außerhalb der Komposition ansiedeln, funktioniert das aus den genannten Gründen nicht; aber wir sollten uns davor hüten, zu denken, sie ganz innerhalb anzusiedeln, hieße, an die unmittelbare Entwicklung der politischen Komposition aus der “technischen” Komposition zu glauben, was genau die Hypothese ist, die sofort zusammenbrach. Ich glaube aber auch, dass bei aller Kritik an Tonis Theorien über die immaterielle und postfordistische Arbeit die Liquidierung dieser Perspektive in den letzten zehn Jahren alles siebzig Jahre zurückgeworfen hat, anstatt produktiv zu sein – das heißt, Grenzen aufzuzeigen und gleichzeitig Reichtum zu ernten. Die Verherrlichung des GKN (? d.Ü.) ist die Verherrlichung des Arbeiters mit schwieligen Händen und schmierigen Latzhosen, der endlich wieder zu einem “Arbeitersubjekt” im eigentlichen, kretinösen Sinne wird. Das heißt, nicht im Sinne von Marx: Marx hat sich nicht darum gekümmert, dass der Arbeiter Schwielen hat, er hat sich darum gekümmert, dass er ein Avantgarde-Subjekt im Klassenkampf ist. Stattdessen gibt es diejenigen, die, wenn sie “Arbeiter” hören, an Schrauben denken, und wenn sie “Fabrik” hören, an die Maschinenhalle. Ich wiederhole also: Die Aufmerksamkeit für Phänomene wie den 9. Dezember sollte der Suche nach taktischen Verbündeten gelten, aber ein taktisches Bündnis wird von einem strategischen Subjekt aus geschlossen.

In Bezug auf das, was die Genossen sagten, gehe ich einen Schritt zurück. Die Thatcher-Parole “There is no alternative” wurde ab den 1980er Jahren von der Mittelschicht sofort übernommen, aber das galt auch für die Reste der Sozialdemokratie. Man kann so viel Kritik üben, wie man will, und sich über die schlimmsten Ungerechtigkeiten beschweren, aber für einen großen Teil der kämpferischen Klasse “gibt es keine Alternative”. In der Tat, je weniger wir sind, je mehr wir an den Rand gedrängt werden, desto mehr stehen wir zusammen, “weil es keine Alternative gibt”. Ihr legt Zeugnis ab, mit eurem Fähnchen, ihr wälzt euch wütend im Schlamm, aber ihr seid trotzdem immer da. Wir müssen also damit beginnen, mit diesem Fatalismus zu brechen und über Alternativen nachzudenken, die uns eine offenere Perspektive für Experimente bieten.

Nun, ich halte keine bordigistische Rede oder wie diejenigen, die Lotta Comunista verkaufen (obwohl ich immer fünf Euro gebe, wenn sie bei mir klingeln, weil ich vor echt empfundener Religiosität immer die Arme hebe). Kurzum, ich halte keine abwartende Rede. Ich sage nicht: ‘Die Aufgabe besteht jetzt darin, Führungskader auszubilden, die, wenn die unvermeidliche Revolution ausbricht, bereit sind’. Nein, das ist überhaupt nicht der Punkt. Ich sage, dass die Herausbildung von Subjektivität mit der Identifizierung von Räumen, Orten und Subjekten einhergeht, mit denen unmittelbar mit einer Reihe von neuen Praktiken experimentiert werden kann. Das ist der grundlegende Punkt. Ich wiederhole: Man kann sich Trendlinien vorstellen, aber zu verstehen, wann eine Bewegung entsteht, entzieht sich der Vorhersehbarkeit – es ist, um einen von Marx entlehnten Begriff von Epikur zu verwenden, ein Clinamen, eine unmerkliche Abweichung vom Lauf der Dinge, die dann eine neue Realität schafft. Das Problem besteht nicht nur darin, sich bereit zu machen, sondern sich dort bereit zu machen, wo die Dinge sein können, und organisiert zu arbeiten, damit sie entstehen können. Darin liegt die Ebene des Experimentierens, die heute auf der Tagesordnung steht. Die Produktion eines neuen Diskurses ist ein Experiment, das uns in die Lage versetzen kann, Konfliktlinien zu antizipieren, zu erahnen.

Es ist vielleicht eine undankbarere Aufgabe als sonst, das muss man klar sagen. Ich verstehe sehr gut, was viele junge Militante denken: “Wenn ich alle Reste nehme, die es heute in Italien gibt, zehn hier, zwanzig dort usw., dann komme ich auf, ich weiß nicht, 3600 Menschen; und wenn ich mich unter 3600 Menschen befinde, habe ich das Gefühl, nicht allein zu sein”. Aber genau das ist Einsamkeit! Einsamkeit ist die Erkenntnis, dass man sich inmitten einer Summe von absoluter Marginalität befindet. Und obendrein verliert man das Bedürfnis nach Diskontinuität, von dem wir vorhin sprachen, denn um diese 3600 Menschen, die mich wahrnehmen, nicht zu verlieren, ertappe ich mich früher oder später dabei, nur für die Selbstreproduktion meiner Gruppe zu arbeiten.

Warum überleben viele Organisationen (auch bürokratische oder institutionelle) ihre historische Funktion? Weil sie Einkommen bieten (die Rifondazione Comunista gibt es noch) oder weil sie Anerkennung bieten. Es gibt Leute, die stehen morgens auf, sehen, dass es keine centro sociale oder so etwas mehr gibt, aber sie haben diese 18-20 Leute um sich herum, und sie sind beruhigt; dann merken sie eines Tages, dass sie nicht mehr so weitermachen können wie vorher, aber sie haben nicht einmal mehr diese Leute um sich, und plötzlich wissen sie nicht mehr, wer sie sind. Es ist normal, einen Teil seiner persönlichen Identität in einem Projekt oder einer Gruppe zu verwurzeln, aber wenn alles davon abhängt, gibt es Probleme. Der Militante darf nicht zu viel Angst vor der Einsamkeit haben. Der Militante ist in gewisser Weise immer ein wenig einsam – gerade weil er in dieser Welt ist, aber nicht von dieser Welt. Er ist ein Mensch, der, wie man dort zu sagen pflegte, in partibus infidelium, im Land der Ungläubigen lebt. Wenn es mir im Kapitalismus gut geht, welchen Grund habe ich dann, mich mit politischer Militanz abzugeben?

Es stimmt also, dass es eine unglaubliche Beschleunigung gab. Aber ich glaube nicht, dass wir das nachmachen sollten, denn dann wären wir aufgeschmissen. Auf die gleiche Weise versuchen wir, uns weder völlig in den sozialen Wandel einzubringen noch uns völlig aus ihm herauszuhalten. Einer der großen Kämpfe der Militanten besteht darin, sich die Vergänglichkeit wieder anzueignen. Schauen Sie sich zum Beispiel die sozialen Netzwerke an. Jeder von uns befindet sich, gewollt oder ungewollt, in einer Blase von Gleichgesinnten, also einer Blase von Genossen in der Nähe oder in der Ferne, die jeden Tag eine andere Meinung äußern. Wenn man Zeit hätte und 365 Tage lang die Themen sammeln würde, die in den sozialen Netzwerken diskutiert werden – Krieg, Impfstoffe, Covid, Kolonialismus auf Nudelpackungen… – würde man eine Beschleunigung feststellen, ja, aber in Verbindung mit Themen, die sich schnell entwickeln, weil sie dazu bestimmt sind, in kurzer Zeit zu verschwinden. Wenige Dinge sind so schnell wie das Vergängliche. Deshalb finde ich, dass wir uns heute unter anderem bemühen sollten, den Nachrichten den Rücken zuzukehren. Nicht, um uns von der Realität zu entfremden, sondern um unseren Blick für einen Moment von ihr abzuwenden, um sie besser angreifen zu können. Wenn wir der Berichterstattung folgen, werden wir immer in einer hektischen Verfolgungsjagd sein, und die Berichterstattung wird immer gewinnen. Vielmehr sollten wir uns distanzieren und in dieser Realität verstehen, was hinter der Aufzeichnung liegt, denn dort stoßen wir auf die grundlegenden Widersprüche. Entweder wir gewinnen eine eigene Zeitlichkeit zurück, die dem Rhythmus der Organisationsprozesse und der Konstruktion der Subjektivität folgt, oder wir wären immer auf der Suche nach dem Vergänglichen.

Aber wohlgemerkt: Die Rekonstruktion einer Geschichte, wie Ihr es in diesem Zyklus getan haben, erlaubt es uns nicht nur, uns von der gängigen Geschichtsschreibung zu distanzieren, sondern auch, geduldig die entscheidenden Punkte zu identifizieren und so den Eindruck, dass es keine Alternative gibt, präzise zu widerlegen. In der Tat, bei allen Unterschieden, die man sich vorstellen kann, zeigt uns die Wiederaufnahme eines entspannteren Rhythmus bei der Rekonstruktion der Ereignisse die ganze potentielle Fruchtbarkeit in den Phasen, die den Höhepunkten der Kämpfe vorausgehen.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. In den 1960er Jahren brach das Chaos aus, richtig? Nun, wenn man es im Nachhinein betrachtet, denkt man, es war alles zu einfach: Es gibt Fabriken, es gibt Arbeiter, es ist unvermeidlich, dass etwas beginnt. Aber in den 1950er Jahren war das nicht so! Es gab vier Katzen, die dachten, dass dort ein Kampf aufkeimt. Die KPI, die Gewerkschaften und ein großer Teil der damaligen Militanten glaubten, dass sich nichts mehr bewegte: Es waren die Jahre, in denen die KPI den Mittelschichten hinterherlief und in denen die Theoretiker der Frankfurter Schule behaupteten, dass über die westliche Arbeiterklasse nicht mehr gesprochen wurde, weil sie völlig in die Mechanismen der kapitalistischen Produktion und des Konsums verwickelt war. Kurzum, alle schienen davon überzeugt zu sein, dass es kein Spiel mehr gibt, dass es keine Geschichte mehr gibt. Und dann, einige Jahre später, wurde das Spiel wieder eröffnet.

Wortmeldung:

Abschließend möchte ich nur noch eines hinzufügen, und zwar im Hinblick auf die Lehre, die aus dieser historischen Erfahrung gezogen werden kann. Die um die Jahrtausendwende identifizierte Subjektivität war wichtig, weil sie verlangte, dass das Versprechen des Systems erfüllt wird. Die Krise kam, und es hieß: “Scheiß drauf”. Sie aber hatte einen Drang nach der versprochenen Stabilität und forderte sie ein. Sie war also jemand, der zählen wollte, die im Zentrum des politischen Lebens stehen wollte. Wenn ich also aus dem, was wir heute gesagt haben, einen Schluss ziehen müsste, würde ich sagen, dass dies genau die Merkmale des Subjekts sein müssen, auf das wir setzen: Es muss ein Subjekt sein, das ein Protagonist ist, das im Zentrum der Transformation stehen will. Wir müssen also eine Minderheit sein, keine marginale Minderheit, und aus diesem Grund dürfen wir nicht nur nicht der Zeitschiene folgen, sondern auch nicht den Katastrophen hinterherlaufen. Denn nur selten bringt eine Katastrophe Subjekte mit Ambitionen zum Aufbruch zusammen, meistens wollen sie nur den Schaden ein wenig beheben. Deshalb erweisen sich Mobilisierungen zum Thema Wohnungsbau oder außergewöhnliche Ereignisse wie Überschwemmungen als kurzatmig, weil sie auf Subjekte treffen, die diesen Antrieb nicht haben. Natürlich wird es ein zweideutiger Ehrgeiz sein, ein Ehrgeiz, der teilweise vom System erzeugt wird; aber er kann forciert werden, er kann transformiert werden. Und wenn wir das können, müssen wir es tun.

[1] https://www.nytimes.com/2003/02/17/world/threats-and-responses-news-analysis-a-new-power-in-the-streets.html

Veröffentlicht am 9. November 2023 auf Kamo Modena, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Der 12. November: Eine erste Bilanz zu den Demos gegen Antisemitismus

Revolutionäre Juden und Jüdinnen (Frankreich)

Rund um die Demonstration gegen Antisemitismus am 12. November gab es in der Linken zahlreiche Debatten. Sollte man auf die Gefahr hin gehen, an der Seite der Rechtsextremen zu demonstrieren? Sollte man eine Gegenkundgebung organisieren? Sollte man zu Hause bleiben?

Mehrere linke Jugendorganisationen organisierten am selben Morgen eine alternative Kundgebung am Platz der jüdischen Märtyrer des Vélodrome d’Hiver. Wir haben in den sozialen Netzwerken darüber berichtet und einige unserer Genossinnen und Genossen waren dort anwesend. Wir müssen zugeben, dass dieses Zusammentreffen nicht den gewünschten Erfolg hatte: Gegendemonstranten, die der jüdischen Minderheit angehörten und schockiert darüber waren, dass LFI-Abgeordnete (La France insoumise, d.Ü.) an diesem symbolischen Ort anwesend waren, unterbrachen die Versammlung. Eine solche Situation ist zwar katastrophal, war aber leider vorhersehbar, da ein Teil der linken Organisationen, die zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen hatten, seit über einem Monat problematische Erklärungen abgegeben hatten, die die Aufrichtigkeit der Initiative in Frage stellten. Angesichts der geringen Zahl der Demonstranten ist es traurig, dass die Initiative nicht die Linke und schon gar nicht die Juden und Jüdinnen mobilisiert hat. Mit Juden und Jüdinnen zu sprechen und nicht nur unter sich zu bleiben, ist eine Herausforderung für die Linke, wenn sie aus der Sackgasse in diesen Fragen herauskommen will. Das bedeutet, die Frage des Antisemitismus wirklich ernst zu nehmen, und zwar langfristig, und sich nicht damit zu begnügen, sich an dünnen Ästchen festzuklammern.

Nach langen Diskussionen haben wir uns kollektiv dafür entschieden, zu den institutionellen Kundgebungen zu gehen, die in mehreren Städten organisiert wurden. Nicht um friedlich zu marschieren, sondern um das zu tun, was Antifaschisten schon immer getan haben: die Straße nicht den Faschisten zu überlassen. Es ging uns darum, zu verhindern, dass die extreme Rechte, die das Erbe der Nazis und Kollaborateure antritt, ungestraft behaupten kann, auf der Seite der Juden zu stehen. Dies ist umso unerträglicher angesichts der Geschichte der RN (Rassemblement National, ehemals Front National, d.Ü.), der von ehemaligen Nazis gegründet wurde, jahrzehntelang von einem berüchtigten Antisemiten geleitet wurde und Alain Soral zu seinen Führungskadern zählte, aber auch angesichts der aktuellen Machenschaften der RN, da ihre Absprachen mit berüchtigten Antisemiten wie der GUD (Groupe Union Défense, faschistische Studentenorganisation, d.Ü.) in den letzten Jahren durch mehrere Untersuchungen in Erinnerung gerufen wurden und ein Buch der Journalistin Camille Vigogne le Coat, das vor einigen Tagen erschienen ist, den Antisemitismus und Rassismus der RN-Stadtverwaltung von Fréjus als Vorzeigemodell für den RN belegt. Machen wir uns hinsichtlich ihrer rassistischen politischen Agenda nichts vor: Die Rechtsextremen waren gestern nur mit dem Ziel anwesend, die muslimische Minderheit noch weiter an den Rand zu drängen, indem sie unser Leid instrumentalisieren.

Darüber hinaus beschlossen wir auch, uns diesen Demonstrationen gegen Antisemitismus anzuschließen, da wir der Meinung waren, dass eine schwache Mobilisierung eine verheerende Wirkung auf die Moral der jüdischen Minderheit haben würde, die bereits von einem tiefen Gefühl der Isolation durchdrungen ist. Aus einem antifaschistischen Ansatz heraus beteiligten wir uns am Aufbau des Golem-Kollektivs, das zu diesem Anlass in Paris mit Genossinnen und Genossen anderer Organisationen und Einzelpersonen gegründet wurde, und versuchten gemeinsam, die Medienshow der RN zu stören. Mit demselben Ehrgeiz mobilisierten wir in Marseille oder Besançon, wo unsere Genossen gewalttätig angegriffen wurden. Diesmal waren wir zu wenige, um die Rechtsextremen aus den Versammlungen zu vertreiben, aber wir haben gezeigt, dass sie nicht ungestraft auf den Kampf gegen den Antisemitismus setzen können. Die Rechtsextremen konnten nur unter dem Schutz der Polizei (die mehrere unserer Genossen misshandelte) und faschistischer Gruppierungen (darunter die abscheuliche Ligue de Défense Juive, eine Organisation, die vorgibt, unsere Minderheit zu verteidigen, die aber Juden angreift, um Antisemiten zu eskortieren) aufmarschieren.

Die Aktion war ein Erfolg. Unsere Botschaft, dass wir die Normalisierung der RN in Frage stellen, wurde massiv gehört und von der Presse aufgegriffen.

Im Anschluss an die Demonstrationen versuchten einige linke Persönlichkeiten, insbesondere aus der LFI, diese Mobilisierung herunterzuspielen oder stellten sie als eine rechtsextreme Versammlung dar. Diese Reaktionen sind natürlich kindisch und vereinfachend: Zwar haben rechtsextreme Elemente an diesen Demonstrationen teilgenommen, wie sie auch an einem Großteil der sozialen Mobilisierungen der letzten Jahre (insbesondere gegen den Impfpass) beteiligt waren, und auch die Regierung und die Organisatoren verfolgten ihre eigene politische und reaktionäre Agenda, doch die Teilnehmer/innen waren vor allem Menschen, die aufrichtig und legitim über die Zunahme antisemitischer Gewalt schockiert waren. Da ein solches Vorgehen grundsätzlich antirassistisch ist, war der Platz der Antirassisten an ihrer Seite, um die Faschisten hinauszudrängen, die von den Organisatoren verfolgte Strategie der Normalisierung der RN zu bekämpfen und gegen jede rassistische Instrumentalisierung des Kampfes gegen den Antisemitismus zu kämpfen, indem sie sich an die Juden und Jüdinnen wenden und nicht in der militanten Isolation verharren.

Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Es gibt zwei Gründe für die ausweglose Situation, in die linke Juden und Jüdinnen geraten sind. Erstens war die Linke, die in dieser Frage weitgehend diskreditiert ist, trotz anfänglicher Überlegungen nicht in der Lage, eine Versammlung zu organisieren, um dem seit über einem Monat anhaltenden Aufflammen des Antisemitismus entgegenzuwirken. Erst auf Initiative von Gérard Larcher und Yaël Braun-Pivet wurde dies ernsthaft in Erwägung gezogen. Dies ist nämlich eigentlich die historische Rolle unseres sozialen Lagers und man kann hier beobachten, in welchem Maße diese verloren gegangen ist. Das zweite Element ist die Banalisierung der extremen Rechten. Diese wurde durch die Reden und die Politik Macrons und seiner aufeinanderfolgenden Regierungen beschleunigt, die immer mehr Ideen von dieser Partei übernehmen, sowie durch ihre Weigerung, die RN daran zu hindern, an den Märschen und Kundgebungen am Sonntag, dem 12. November, teilzunehmen.

Wir werden es so oft wie nötig wiederholen: Egal in welchem Kontext, egal wie trostlos die Abwendung und die Kompromisse großer Teile der Linken auch sein mögen, die extreme Rechte ist der Feind der Juden und aller Minderheiten. Wir werden mit all unserer Kraft dafür kämpfen, dies immer wieder in Erinnerung zu rufen. Wir lehnen es auch ab, diese Regierung als Verbündete zu betrachten, da wir bereits seit sechs Jahren unter ihrer Zerschlagung des Sozialsystems und des öffentlichen Dienstes leiden, die den Aufstieg des allgemeinen Durcheinanders und aller Rassismen begünstigt. Ihre Politik ist in keiner Weise antirassistisch, sondern nimmt insbesondere die muslimische Minderheit ins Visier.

Wir hoffen, dass unsere Aktion der Auftakt für zahlreiche soziale Initiativen sein wird, um den Kampf gegen den Antisemitismus wieder an seinen angestammten Platz zu rücken. Wir rufen daher alle Strömungen der Linken auf, sich dringend wieder im Kampf gegen den Antisemitismus zu engagieren.

Gegen Antisemitismus und alle Rassismen, egal woher sie kommen, organisieren wir die Selbstverteidigung!

Juives et Juifs révolutionnaires

Erschienen im französischen Original am 14. November 2023, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.  

Demo oder nicht Demo!

J Caballero 

Ich bin jüdischer Abstammung. Na ja, vielleicht!

Meine Mutter wurde in einer jüdischen Familie in Algerien geboren, sie hatte keine religiöse Kultur mehr, aber wir haben immer Youm Kippur und Pessach gefeiert, um ihrer älteren Schwester, unserer zweiten Mutter, zur Seite zu stehen. Mein Vater war spanischer Abstammung.

Unsere Familie hatte am algerischen Befreiungskampf teilgenommen, weshalb wir extrem sensibel auf Kolonialpolitik reagierten. Wir haben die koloniale Gewalt am eigenen Leib erfahren.

Es ist daher sehr natürlich, dass wir den Kampf des palästinensischen Volkes unterstützt haben (Demo, Petition, Treffen…).

Wir dachten nie, dass Israel die Heimat der Juden sei. Einer meiner Onkel sagte immer: “Frankreich ist unser Land, nicht Israel”. Nur wenige Mitglieder meiner Familie leben dort. Dennoch war ich am 7. Oktober fassungslos. Palästinenser, die gegen die Kolonialmacht und für ihre Unabhängigkeit kämpften, töteten kaltblütig Menschen, die auf den ersten Blick nicht direkt an der israelischen Kolonialmaschinerie beteiligt waren. Ich weiß, dass es im Befreiungskampf zu schrecklichen Taten kommt, aber das habe ich nicht begriffen. Oder doch, von einer nationalistischen, faschistisch-religiösen Bewegung kann man nicht viel erwarten.

Und dann kam der rächende Gegenschlag des Kolonialstaates. Tausende Tonnen Bomben wurden wahllos auf Gaza geworfen, und es war egal, wer starb, denn die israelischen Regierenden hielten die Araber für ein Nichts und schon gar nicht für Menschen, wie es sich für gute Kolonialisten gehört. Das gleiche Lied wie in Algerien vor 68 Jahren.

Und dann kommt diese Demo gegen Antisemitismus, an der ich nicht teilnehmen werde, denn mit dem RN, Zemmour und Marion Le Pen ist das nicht möglich. Ich vergesse nicht die Abstammung dieser Partei, die aus der antisemitischen und rassistischen Herrschaft von Vichy hervorgegangen ist. Ich vergesse nicht die OAS, den Para Le Pen, Argoud, das Quartett der Generäle. Ich trete nicht einmal im Entferntesten mit ihren Erben in Kontakt. Wenn ich nur daran denke, wird mir übel.

Ich weiß, dass antisemitische Übergriffe zunehmen, aber es ist eine Illusion zu glauben, dass RN, LR, LREM die Verteidiger der Juden sind, das liegt einfach an der Epoche, die das gerade abverlangt. Man sagt mir, dass man sich die Teilnehmer einer Demonstration nicht aussuchen kann, na klar! Als wir gegen den Anschlag auf die Moschee in Bayonne marschiert sind, wurden wir beleidigt, weil Islamisten dabei waren. In diesem Fall musste man also die Teilnehmer auswählen.

Es ist immer die gleiche Geschichte. Wenn es in Frankreich um Araber geht, ist absolut nichts erlaubt.

Ich bin empört darüber, dass Juden in Frankreich beleidigt, angegriffen, vergewaltigt und ermordet werden, wie ich auch empört bin über die rassistischen Morde der französischen Polizei, die nie bestraft werden, und über die rassistische Gewalt gegen unsere arabischen und schwarzen Landsleute.

Ich bin nicht sehr optimistisch für die Zukunft, denn niemand scheint die derzeitigen oder zukünftigen Regierenden Israels zwingen zu wollen, sich mit Palästinensern wie Marwam Barghouti, der es verdient hat, aus dem Gefängnis entlassen zu werden, an einen Tisch zu setzen.

Und in unserem Land bereiten die Medien und Politiker die Ankunft von Marine vor und beleidigen die radikale Linke, die Grünen und sogar Faure wird verunglimpft.

Erschienen am 9. November 2023 auf Le Club de Mediapart, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Anmerkung Bonustracks: An den landesweiten Demos in Frankreich “Gegen Antisemitimus” am 12.111.2023  beteiligten sich alleine in Paris um die 100.000 Menschen, prominente Vertreter der diversen Parteien, auch der extremen Rechten/ Faschisten nahmen teil. Linke jüdische Gruppen protestieren in mehreren Städten gegen die Anwesenheit der Rechten, in Paris versuchten sie den Block des RN (ehemals Front National) zu blockieren, am Ende gingen die Bullen gegen die linken jüdischen Demonstranten vor, um dem Block des RN den Weg frei zu machen (siehe eingebettetes Twitter Video).