Der 12. November: Eine erste Bilanz zu den Demos gegen Antisemitismus

Revolutionäre Juden und Jüdinnen (Frankreich)

Rund um die Demonstration gegen Antisemitismus am 12. November gab es in der Linken zahlreiche Debatten. Sollte man auf die Gefahr hin gehen, an der Seite der Rechtsextremen zu demonstrieren? Sollte man eine Gegenkundgebung organisieren? Sollte man zu Hause bleiben?

Mehrere linke Jugendorganisationen organisierten am selben Morgen eine alternative Kundgebung am Platz der jüdischen Märtyrer des Vélodrome d’Hiver. Wir haben in den sozialen Netzwerken darüber berichtet und einige unserer Genossinnen und Genossen waren dort anwesend. Wir müssen zugeben, dass dieses Zusammentreffen nicht den gewünschten Erfolg hatte: Gegendemonstranten, die der jüdischen Minderheit angehörten und schockiert darüber waren, dass LFI-Abgeordnete (La France insoumise, d.Ü.) an diesem symbolischen Ort anwesend waren, unterbrachen die Versammlung. Eine solche Situation ist zwar katastrophal, war aber leider vorhersehbar, da ein Teil der linken Organisationen, die zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen hatten, seit über einem Monat problematische Erklärungen abgegeben hatten, die die Aufrichtigkeit der Initiative in Frage stellten. Angesichts der geringen Zahl der Demonstranten ist es traurig, dass die Initiative nicht die Linke und schon gar nicht die Juden und Jüdinnen mobilisiert hat. Mit Juden und Jüdinnen zu sprechen und nicht nur unter sich zu bleiben, ist eine Herausforderung für die Linke, wenn sie aus der Sackgasse in diesen Fragen herauskommen will. Das bedeutet, die Frage des Antisemitismus wirklich ernst zu nehmen, und zwar langfristig, und sich nicht damit zu begnügen, sich an dünnen Ästchen festzuklammern.

Nach langen Diskussionen haben wir uns kollektiv dafür entschieden, zu den institutionellen Kundgebungen zu gehen, die in mehreren Städten organisiert wurden. Nicht um friedlich zu marschieren, sondern um das zu tun, was Antifaschisten schon immer getan haben: die Straße nicht den Faschisten zu überlassen. Es ging uns darum, zu verhindern, dass die extreme Rechte, die das Erbe der Nazis und Kollaborateure antritt, ungestraft behaupten kann, auf der Seite der Juden zu stehen. Dies ist umso unerträglicher angesichts der Geschichte der RN (Rassemblement National, ehemals Front National, d.Ü.), der von ehemaligen Nazis gegründet wurde, jahrzehntelang von einem berüchtigten Antisemiten geleitet wurde und Alain Soral zu seinen Führungskadern zählte, aber auch angesichts der aktuellen Machenschaften der RN, da ihre Absprachen mit berüchtigten Antisemiten wie der GUD (Groupe Union Défense, faschistische Studentenorganisation, d.Ü.) in den letzten Jahren durch mehrere Untersuchungen in Erinnerung gerufen wurden und ein Buch der Journalistin Camille Vigogne le Coat, das vor einigen Tagen erschienen ist, den Antisemitismus und Rassismus der RN-Stadtverwaltung von Fréjus als Vorzeigemodell für den RN belegt. Machen wir uns hinsichtlich ihrer rassistischen politischen Agenda nichts vor: Die Rechtsextremen waren gestern nur mit dem Ziel anwesend, die muslimische Minderheit noch weiter an den Rand zu drängen, indem sie unser Leid instrumentalisieren.

Darüber hinaus beschlossen wir auch, uns diesen Demonstrationen gegen Antisemitismus anzuschließen, da wir der Meinung waren, dass eine schwache Mobilisierung eine verheerende Wirkung auf die Moral der jüdischen Minderheit haben würde, die bereits von einem tiefen Gefühl der Isolation durchdrungen ist. Aus einem antifaschistischen Ansatz heraus beteiligten wir uns am Aufbau des Golem-Kollektivs, das zu diesem Anlass in Paris mit Genossinnen und Genossen anderer Organisationen und Einzelpersonen gegründet wurde, und versuchten gemeinsam, die Medienshow der RN zu stören. Mit demselben Ehrgeiz mobilisierten wir in Marseille oder Besançon, wo unsere Genossen gewalttätig angegriffen wurden. Diesmal waren wir zu wenige, um die Rechtsextremen aus den Versammlungen zu vertreiben, aber wir haben gezeigt, dass sie nicht ungestraft auf den Kampf gegen den Antisemitismus setzen können. Die Rechtsextremen konnten nur unter dem Schutz der Polizei (die mehrere unserer Genossen misshandelte) und faschistischer Gruppierungen (darunter die abscheuliche Ligue de Défense Juive, eine Organisation, die vorgibt, unsere Minderheit zu verteidigen, die aber Juden angreift, um Antisemiten zu eskortieren) aufmarschieren.

Die Aktion war ein Erfolg. Unsere Botschaft, dass wir die Normalisierung der RN in Frage stellen, wurde massiv gehört und von der Presse aufgegriffen.

Im Anschluss an die Demonstrationen versuchten einige linke Persönlichkeiten, insbesondere aus der LFI, diese Mobilisierung herunterzuspielen oder stellten sie als eine rechtsextreme Versammlung dar. Diese Reaktionen sind natürlich kindisch und vereinfachend: Zwar haben rechtsextreme Elemente an diesen Demonstrationen teilgenommen, wie sie auch an einem Großteil der sozialen Mobilisierungen der letzten Jahre (insbesondere gegen den Impfpass) beteiligt waren, und auch die Regierung und die Organisatoren verfolgten ihre eigene politische und reaktionäre Agenda, doch die Teilnehmer/innen waren vor allem Menschen, die aufrichtig und legitim über die Zunahme antisemitischer Gewalt schockiert waren. Da ein solches Vorgehen grundsätzlich antirassistisch ist, war der Platz der Antirassisten an ihrer Seite, um die Faschisten hinauszudrängen, die von den Organisatoren verfolgte Strategie der Normalisierung der RN zu bekämpfen und gegen jede rassistische Instrumentalisierung des Kampfes gegen den Antisemitismus zu kämpfen, indem sie sich an die Juden und Jüdinnen wenden und nicht in der militanten Isolation verharren.

Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Es gibt zwei Gründe für die ausweglose Situation, in die linke Juden und Jüdinnen geraten sind. Erstens war die Linke, die in dieser Frage weitgehend diskreditiert ist, trotz anfänglicher Überlegungen nicht in der Lage, eine Versammlung zu organisieren, um dem seit über einem Monat anhaltenden Aufflammen des Antisemitismus entgegenzuwirken. Erst auf Initiative von Gérard Larcher und Yaël Braun-Pivet wurde dies ernsthaft in Erwägung gezogen. Dies ist nämlich eigentlich die historische Rolle unseres sozialen Lagers und man kann hier beobachten, in welchem Maße diese verloren gegangen ist. Das zweite Element ist die Banalisierung der extremen Rechten. Diese wurde durch die Reden und die Politik Macrons und seiner aufeinanderfolgenden Regierungen beschleunigt, die immer mehr Ideen von dieser Partei übernehmen, sowie durch ihre Weigerung, die RN daran zu hindern, an den Märschen und Kundgebungen am Sonntag, dem 12. November, teilzunehmen.

Wir werden es so oft wie nötig wiederholen: Egal in welchem Kontext, egal wie trostlos die Abwendung und die Kompromisse großer Teile der Linken auch sein mögen, die extreme Rechte ist der Feind der Juden und aller Minderheiten. Wir werden mit all unserer Kraft dafür kämpfen, dies immer wieder in Erinnerung zu rufen. Wir lehnen es auch ab, diese Regierung als Verbündete zu betrachten, da wir bereits seit sechs Jahren unter ihrer Zerschlagung des Sozialsystems und des öffentlichen Dienstes leiden, die den Aufstieg des allgemeinen Durcheinanders und aller Rassismen begünstigt. Ihre Politik ist in keiner Weise antirassistisch, sondern nimmt insbesondere die muslimische Minderheit ins Visier.

Wir hoffen, dass unsere Aktion der Auftakt für zahlreiche soziale Initiativen sein wird, um den Kampf gegen den Antisemitismus wieder an seinen angestammten Platz zu rücken. Wir rufen daher alle Strömungen der Linken auf, sich dringend wieder im Kampf gegen den Antisemitismus zu engagieren.

Gegen Antisemitismus und alle Rassismen, egal woher sie kommen, organisieren wir die Selbstverteidigung!

Juives et Juifs révolutionnaires

Erschienen im französischen Original am 14. November 2023, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.