Emilio Quadrelli
It’s Only Rock ‘n’ Roll
Betrachtet man die Geschehnisse der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, so wird schnell klar, dass die italienische Gesellschaft mit einem sehr radikalen sozioökonomischen Wandel konfrontiert war, der begann, alles hinter sich zu lassen, was man in gewisser Weise als Erbe des Krieges und seiner Vorläufer betrachten konnte. Ein Bruch, der nicht so sehr politisch ist, in dem Sinne, dass die Rhetorik, die als Hintergrund für die ganze Angelegenheit gedient hatte, weiterhin fest im Sattel sitzt, sondern in der Materialität der wirtschaftlichen und sozialen Formation. Es sind die Jahre, in denen das fordistische Modell beginnt, auch in Italien hegemonial zu werden, mit allem, was dies mit sich bringt, vor allem mit der radikalen Veränderung der Klassenzusammensetzung. Es sind Jahre, in denen die alte professionelle und einheimische Arbeiterklasse durch eine neue Figur untergraben wird: den ungelernten Fließbandarbeiter, einen Arbeiter, der keine industrielle Tradition hinter sich hat und oft nicht einmal ein städtischer Arbeiter ist, da er entweder vom Land und meist aus Süditalien rekrutiert wird. Zweitens tritt eine andere neue Arbeiterfigur massiv in die Produktion ein: die proletarische Frau. Ganz plötzlich erfährt die gesamte oder ein großer Teil der Klassenzusammensetzung eine ex-novo-Konfiguration.
Es handelt sich um eine Arbeiterklasse ohne oder fast ohne Gedächtnis, die in nicht wenigen Fällen noch vor den Bossen mit der alten Klassenzusammensetzung in Konflikt gerät und der andererseits jene “Ideologie der Niederlage” völlig fremd ist, die der alten Arbeiterklasse eigen war, die durch die kapitalistische Restauration ausgelöscht wurde. Der industrielle Norden wurde von “terroni” und/oder “campagnoli” bevölkert, denen die Zeiten, der Rhythmus und die Lebensweise der Fabrikstadt völlig fremd waren, die von den meisten von ihnen nicht mehr und nicht weniger als ein Gefängnis empfunden wurde (1). Eine entpolitisierte und unorganisierte Arbeiterklasse, gegenüber der der Meister eine Herrschaft ausüben zu können scheint, die der des Bauern gegenüber seinem Vieh nicht unähnlich ist. Und wie Vieh werden die neuen Arbeiter behandelt und betrachtet. Es sind Jahre, in denen es dem Chef leicht fällt, die alte kommunistische Garde aus der Fabrik zu vertreiben und die gewerkschaftliche Organisation auf wenige Zeugen zu beschränken (2). Damit der wirtschaftliche Aufschwung weitergehen kann, braucht man eine Arbeiterklasse, die sich völlig unterordnet und bereit ist, die notwendigen Produktionsrhythmen ohne Murren zu ertragen.
Die Veränderung der Produktionsgrundlage brachte andererseits auch eine allgemeine Umgestaltung der Gesellschaft mit sich. In diesen Jahren setzt sich der amerikanische Mythos durch, der jedoch zwei Gesichter hat: einerseits sicherlich den reaktionären und prüden Zug des amerikanischen Traums, dessen Bilder der weißen, rassistischen, patriotischen, patriarchalischen und sexistischen amerikanischen Familie die Synthese schlechthin darstellen, andererseits bringt er aber auch all die Unruhe, die Intoleranz, die Wut und den Nihilismus mit sich, mit denen das andere Amerika schwanger geht (3).
Dieser Mythos ergreift schnell die Jugend der Arbeiterklasse und erzwingt eine drastische Veränderung der Lebensstile, der subalternen Kulturen und der Arbeitersolidarität, er führt zu einer Suche nach Freiheit und einem Bruch mit allen normativen Modellen: Blouson noir und Teddyboys werden zu Bildern, die die Jugend der Arbeiterklasse schnell einfangen, eine Jugend, die zunehmend außer Kontrolle gerät, da sie der Rhetorik der offiziellen, ehrbaren und klerikalen Gesellschaft und dem sowjetischen Mythos, der sich um eine Sonne der Zukunft dreht, deren Konturen nie zu erkennen sind, gleichermaßen fern steht und abgeneigt ist. Die Explosion von ’68, die fast die gesamte politische Welt in Erstaunen versetzen wird, hat ihre Vorboten gerade in der materiellen Veränderung, die die gesamte wirtschaftliche und soziale Formation durchzieht. Die Bourgeoisie wird es nicht verstehen, aber auch nicht die offizielle Arbeiterbewegung, die schon lange den Kontakt zu dem verloren hat, was in der Klasse hochkocht. Der so genannte Wirtschaftsboom und der Massenkonsum beschleunigen, wenn möglich, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Die Entfremdung der Ware ist auch das Stöhnen der Unterdrückten. Angesichts des Reichtums und des Überflusses, den die Gesellschaft zur Schau stellt, will die junge Arbeiterklasse nicht ausgeschlossen bleiben. Mehr Geld, weniger Arbeit bedeutet mehr Freizeit, es bedeutet, hier und jetzt einen Teil des Reichtums in Besitz zu nehmen.
Der Lohnkampf wird dann zu einem Kampf der Macht, er wird zu einem Kampf gegen die Gefängnisfabrik, er wird zu einem Kampf für die Freiheit, er wird zu einer nicht länger greifbaren Form der Keimzelle der Arbeitermacht. Während die offizielle Arbeiterbewegung und die verschiedenen Seelen der kommunistischen Orthodoxie in diesen Kämpfen nur einen Ökonomismus ohne politisches Bewusstsein sehen, greift die Arbeiterautonomie den unmittelbar politischen Aspekt auf, der sich stattdessen in diesen Kämpfen abzeichnet. Mehr Geld und weniger Arbeit, Arbeitsverweigerung, Sabotage der Produktion haben wenig ökonomischen Charakter, sondern zeigen sich unmittelbar als Machtkampf, als ein durchaus politisches Terrain, was für die offizielle Arbeiterbewegung und ihre orthodoxen Kritiker ein Symptom für Rückständigkeit und fehlendes politisches Bewusstsein ist, für die Arbeiterautonomie ist das Urteil genau das Gegenteil: Diese Verhaltensweisen, diese Unzufriedenheit mit der Arbeit und der Fabrikdisziplin, diese Wahrnehmung des Produktionskäfigs als Gefängnis, diese unkonventionelle Rebellion gegen die Fabrikzeiten und die Rhythmen der Stadtfabrik, kurz gesagt, diese Subjektivität, verkörpern nicht die Rückständigkeit einer Arbeiterklasse ohne politische Geschichte, sondern stellen im Gegenteil die höchste Synthese des politischen Standpunkts der Arbeiterklasse dar. Wenn sich die strukturelle Grundlage einer Gesellschaft radikal verändert hat, kann auch der politische Rahmen nicht anders als umgestürzt werden, man kann in der Gegenwart nicht nach der politischen Rhetorik der Vergangenheit suchen, sondern muss die politische Dimension, die von einer neuen Subjektivität ins Spiel gebracht wird, durch gezieltes Nachfragen erfassen.
Was ganze Klassensektoren durch die Praxis spontan auf die Tagesordnung setzen, ist die Negation ihrer selbst als Lohnarbeit, oder vielmehr die Abschaffung der proletarischen Bedingung, die den Zustand der Entfremdung, der dem kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis eigen ist, am besten zusammenfasst. Aber liegt darin nicht das ganze Werk von Marx? Ist diese Praxis nicht viel fortschrittlicher und radikaler als das, was in den mythischen roten zwei Jahren mit der Besetzung der Fabriken und dem unglücklichen Ziel der Arbeiterkontrolle inszeniert wurde? Macht sich die neue Klassenzusammensetzung nicht die Marxsche Kritik des Gothaer Programms (4), die die ganze produktivistische Rhetorik der offiziellen Arbeiterbewegung schnell in die Schranken gewiesen hatte, ganz zu eigen? Der Kampf der Arbeiter ist unmittelbar ein Kampf um die Macht, ein Kampf gegen das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis, und deshalb wird der Chef schnell erkennen müssen, dass man mit dieser Arbeiterklasse nicht verhandeln kann, sondern sie besiegen oder von ihr vernichtet werden wird.
Wir haben keine Zeit mehr, auf die Zukunft zu warten, und die Sonne muss jetzt schon scheinen. Genau hier beginnt das “Wir wollen alles” (5) Gestalt anzunehmen, gar nicht so weit entfernt von dem “Wir wollen die Welt und wir wollen sie jetzt” (6), das die Bosse, Parteien und Gewerkschaften empören wird. All dies musste jedoch verstanden und konzeptualisiert werden. Es musste eine diskursive Ordnung geben, die die Kämpfe der Arbeiter und ihre zentrale Stellung im Zentrum der Debatte politisch durchsetzte. Es musste eine politische Theorie geben, die in der Lage war, die Kämpfe nicht in der Revolte gefangen zu halten, sondern sie in Richtung Revolution zu lenken.
Ist es Revolte oder Revolution? Das ist die Frage, die sich die herrschenden Klassen jedes Mal stellen, wenn ein Massenaufstand an ihre Türen klopft. Erwarten wir eine Reihe von “Jacquerie” oder etwas anderes? Die Geschichte der subalternen Klassen ist eine endlose Reihe von “Jacquerien”, die, um zu einem revolutionären Gespenst zu werden, neben den Gewehren auch eine solide theoretische Waffe haben muss, wie Schmitt es bei Lenin so gut verstanden hat (7).
Die revolutionäre Theorie ist nicht eine Reihe von Psalmen, wie die Orthodoxen denken, sondern die ständige ketzerische Überarbeitung einer politischen Hypothese, die in der Lage ist, das Verhalten und die Tendenzen der Massen zu lesen. Die Theorie erfindet nichts, sondern sammelt und synthetisiert, was auf der Tagesordnung des Massenkampfes steht, und sei es auch nur als Tendenz. Ohne dies ist die revolutionäre Theorie nur ein Spielball von mehr oder weniger unbekümmerten Intellektuellen.
Zu Beginn der 1960er Jahre wurde die Tendenz immer größerer Teile der Arbeiterklasse immer deutlicher, und dort nahm, im Guten wie im Schlechten, eine politische Theorie Gestalt an, die für etwa zwanzig Jahre hegemonial werden sollte. Sicherlich geht alles von den Massen und ihren Kämpfen aus, es sind die Massen, die den Bruch der Piazza Statuto hervorbringen, um nur die wichtigste Tatsache jener Zeit in Erinnerung zu rufen, aber wenn diese Praktiken nicht einen politisch-intellektuellen Kern gefunden hätten, wären sie kaum in der Lage gewesen, die Hydra der Revolution zur Konstante der sechziger und siebziger Jahre dieses Landes werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund dürfen wir nicht den Fehler machen, den heute viele begehen, wenn sie die Ereignisse der Arbeiterautonomie auf diese oder jene Zeitschrift, auf diesen oder jenen Text, auf diesen oder jenen Intellektuellen und nicht auf einen anderen zuschreiben. Wenn es stimmt, dass es nicht die Zeitschriften waren, die die Arbeiterautonomie hervorgebracht haben, dann müssen wir uns auch fragen, was sie ohne ihren theoretischen und analytischen Beitrag gewesen wäre, und wie sie sich ohne den Beitrag einer ganzen Reihe von Militanten entwickelt hätte, die die Kämpfe der Arbeiter zum Zentrum ihrer Existenz machten.
Alle sind sich einig, dass die Zentralität der Arbeiter das hegemoniale politische Element der 1960er und 1970er Jahre war. Diese Hegemonie ist weder vom Himmel gefallen, noch war sie das spontane Ergebnis von Kämpfen. Damit eine diskursive Ordnung hegemonial und dominant werden kann, ist es notwendig, dass eine theoretische Produktion sie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt, dass eine politische Klasse ständig an ihrer Ausgestaltung arbeitet und die Arbeiterzentrierung als Diskurs durchsetzt, um den sich alle politischen Debatten drehen. Das heißt, es ist notwendig, dass das, was die Praxis der Klasse auf die Tagesordnung setzt, eine theoretische Systematisierung findet, politisch und anderweitig, es ist notwendig, dass die Stärke dieses Diskurses so ist, dass er zum Diskurs wird, um den herum alles andere in den Hintergrund tritt.
Darin liegt das große Verdienst der intellektuellen Patrouille, die dafür gesorgt hat, dass die Kämpfe der Arbeiter und die Klassensubjektivität zum zentralen Element der politischen Agenda des Landes wurden. In diesem Sinne müssen wir also, ohne zu übertreiben, die Beziehung zwischen Politik, Intellektuellen und Arbeiterklasse in die obligatorische und notwendige Dialektik zwischen Praxis und Theorie zurückbringen. Wenn wir heute objektiv mit einer giftigen Erzählung der Geschichte der Arbeiterautonomie konfrontiert sind, müssen wir uns, anstatt die Rolle der politisch-intellektuellen Klasse zu verleugnen, von der Fülle der Epigonen distanzieren, die die wahren Architekten der historischen Mystifizierung sind. Mit dieser Feststellung hoffen wir, den Sinn dieser Arbeit, die sich von Anfang an bemüht hat, sich nicht in einer Stadienlogik zu verfangen, weiter verdeutlicht zu haben. Im Folgenden wird versucht, das eben Gesagte zu bekräftigen, indem gezeigt wird, wie nur innerhalb der Dialektik von Praxis und Theorie die spontane Stärke der Arbeitermacht zu einem kommunistischen Programm werden kann. Kehren wir also zurück zur Klasse, zu ihrer Subjektivität und zu dem, was um sie herum als theoretisch-politischer Diskurs strukturiert ist.
Die Piazza del Statuto von 1962 war ein mehr als beredtes Beispiel dafür, wie sehr der Plan des Kapitals auf Hindernisse stieß und wie wenig formbar das neue Arbeitersubjekt war, auch wenn es im Juni 1960 in Genua und in den von dort ausgehenden nationalen Aufständen nicht unbedeutende Vorboten dessen gab, was innerhalb der Klasse brodelte. Genua ’60 und Turin ’62 stellen sicherlich zwei Meilensteine in der Geschichte der anderen Arbeiterbewegung dar, zwei Momente, die jedoch nicht miteinander verwechselt werden dürfen und die nicht zufällig unterschiedliche Erzählungen und Rezeptionen hervorriefen. Die Ereignisse vom Juni/Juli in Genua sind zu Recht in die italienische Geschichte eingegangen, auch wenn sie zugegebenermaßen noch in den Rahmen der Rhetorik sich wiederfanden, die der Resistenza zugrunde lag. Diese Ereignisse wurden, wenn auch mit deutlich anderen Nuancen, zum Erbe der gesamten antifaschistischen Front. Genua steht gleichzeitig für den Untergang der alten Klassenzusammensetzung und den Beginn einer neuen, in der jedoch die alte die zentrale Erzählung sein wird. Genua ist der militante und radikale Antifaschismus, vor dessen Hintergrund die Mythologie des verratenen Widerstands auftritt, um es kurz zu machen: Secchia gegen Togliatti (8). Eine Erzählung, die sich bis Anfang der 1970er Jahre fortsetzen sollte, die sich nur wenig für die Veränderungen der Klassenzusammensetzung interessierte und die in diesem Zusammenhang eine rein ideologische Ausrichtung hatte. Die neue Klassenzusammensetzung war bei den Ereignissen in Genua nicht nur präsent und spielte eine zentrale Rolle, leider gelang es ihr nicht, eine eigene politische Sprache zu finden. In Genua gab es zwar eine autonome Stimme, aber keine Sprache.
Das Erbe von Genua blieb in der Rhetorik des militanten und radikalen Antifaschismus verhaftet, ohne dass der Antikapitalismus überhaupt oder nur in sehr abgeschwächter Form betont wurde. Noch heute fühlen sich die Erben der offiziellen Arbeiterbewegung verpflichtet, jene Tage zu heiligen, was sie andererseits mit den radikaleren Kreisen verbindet, die den ersteren nicht so sehr vorwerfen, keine Antikapitalisten zu sein, sondern zu weiche Antifaschisten. Das Szenario auf der Piazza Statuto ist eindeutig anders, hier stehen diametral entgegengesetzte Dinge auf dem Spiel: Es geht direkt um den Kampf gegen die kapitalistische Organisation der Arbeit, die Rolle der Gewerkschaften und der Betriebsleitungen, eine Kritik, die unweigerlich zu einem unmittelbaren Zusammenstoß mit dem Staat und dem Reformismus führen muss. Von dort aus nimmt etwas mehr als nur ein Vorschlag Gestalt an. In der Tat ist es schwierig, nicht zu erkennen, dass die italienische Anomalie bis Ende der 1970er Jahre gerade durch die Materialität der Fakten, die Piazza Statuto in sich trägt, Leben, Form und Substanz erhielt: “Staat und Bosse aufgepasst, die Partei des Aufstands ist geboren”.
Der Ausbruch dieser Kämpfe ist eine Tatsache, die nicht bestritten werden kann, und die Autonomie der Arbeiter kann nicht im Geringsten in Frage gestellt werden. Es stellt sich jedoch die Frage: Hätten diese Kämpfe die gleiche Wirkung gehabt, wenn sie nicht innerhalb der politischen Klasse, die sich hauptsächlich aus kämpferischen Intellektuellen zusammensetzte, die begannen, sich auf diese Kämpfe zu beziehen und sie als den Kern des Politischen zu betrachten, mehr als nur Fuß gefasst hätten? Hätten diese Kämpfe ohne eine vorherige diskursive Ordnung, die sich auf die Zentralität der Arbeiter konzentrierte, die gleiche Kraft entfalten können? Hier geht es nicht darum, sich vor der Hierarchie zwischen Intellektuellen und Arbeitern zu verneigen, sondern festzustellen, wie eine politische und intellektuelle Klasse in diesem Kontext in der Lage war, die Frage “Was tun?” innerhalb der durch die Materialität des Konflikts vorgegebenen Grenzen neu zu lesen. In vielerlei Hinsicht kann auch behauptet werden, dass wir Anfang der 1960er Jahre Zeugen einer Reihe von Vorgängen sind, die – bei allen Fehlern – nicht wenig mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland (9) gemeinsam haben, einem Werk, mit dem Lenin sich von der Welt von gestern verabschiedet und die Arbeiter- und kommunistische Avantgarde in die Gegenwart überführt. Eine Übertreibung? Nicht wirklich.
Heute sind sich alle einig, dass die 1960er Jahre ein Moment des radikalen Wandels in der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Struktur des italienischen Systems waren. Kurz gesagt, was sich abzeichnet, ist ein echter historischer Bruch, so sehr, dass es ohne Übertreibung Sinn macht zu behaupten, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. Dieser Bruch bedeutet für die Arbeiterbewegung, die unteren Klassen und die kommunistische Bewegung eine Zäsur mit den theoretischen, politischen und organisatorischen Modellen, die ihm vorausgingen. Genau dort, auch in Italien, stirbt alles, was in irgendeiner Weise mit dem dritten Internationalismus zu tun hat, einen natürlichen Tod. Es gäbe, trotz zahlreicher Versuche, keine Restauration des orthodoxen Marxismus, keine Rückkehr zu den Ursprüngen der Dritten Internationale, sondern eine kontinuierliche theoretische, politische und organisatorische Erneuerung, die aus dem erwächst, was die materiellen Transformationen erzwingen. Nichts ist jedoch als spontanes Produkt gegeben, wobei spontan einfach evolutionäre Transformation bedeutet. Sicherlich sind die Brüche das Ergebnis materieller Prozesse, sie sind sicherlich objektiv, aber sie müssen verstanden, konzeptualisiert und sich eine Sprache angeeignet werden. In diesem Sinne ist der Vergleich mit ‘Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland’ weniger unlogisch und gezwungen, als er zunächst erscheinen mag.
Angesichts der Umwälzungen, die sich in Russland vollzogen haben, lenkt Lenin die Aufmerksamkeit darauf, wie diese die Klassen verändert haben, wie eine ganze Welt aus den Fugen gerät und erfasst die Tendenz, die nur hegemonial werden kann. Russland hat den Weg der kapitalistischen Entwicklung eingeschlagen, die alle gesellschaftlichen Bereiche untergräbt, die Herausbildung der industriellen Arbeiterklasse zusammen mit der Proletarisierung der Bauernmassen sind das Hier und Jetzt Russlands. Von den Kämpfen, den Spannungen, der Subjektivität dieser neuen Figuren hängt das Schicksal der Revolution in Russland ab.
Es gibt viel Soziologisches in der Arbeit von Lenin, einem Soziologen, der sich innerhalb der Marxschen Theorie einiger nicht unbedeutender Vorläufer rühmen kann: sicherlich das bekannte The Situation of the Working Class in England (10), aber auch die Teile, die sich auf die Bildung der Arbeiterklasse beziehen und vor allem im ersten Buch des Kapitals enthalten sind. Angesichts der epochalen Umwälzungen beschränkt sich Lenin nicht darauf, den objektiven Standpunkt des Kapitals zu erfassen, sondern richtet, nachdem die materiellen Koordinaten festgelegt sind, seinen Blick und sein Interesse auf die Klassensubjektivität. Gerade das zeichnet ihn aus und macht ihn unvereinbar mit dem legalen Marxismus. Während letzterer die Geschichte lediglich als Bewegung des Kapitals beobachtet und beschreibt, die Subjektivität der Massen aber völlig ignoriert, kehrt Lenin genau die Reihenfolge des Diskurses um. Was innerhalb der Transformation und über die Transformation hinaus erfasst werden muss, sind die Verhaltensweisen der Massen, was verstanden und auf die Tagesordnung gesetzt werden muss, ist nicht die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte allein, sondern die Gesamtheit der Widersprüche, die diese Entwicklung mit sich bringt.
Während der legale Marxismus die Entwicklung der Produktivkräfte als das einzig Wesentliche ansieht, lenkt Lenin seine Aufmerksamkeit auf die Formen, die die Kämpfe im Rahmen der Entwicklung der Produktivkräfte annehmen werden, und darauf, wie diese die wenn auch glorreiche Geschichte der alten revolutionären Bewegung, die in den verschiedenen Seelen des Populismus verkörpert ist, in die Archive verbannen können. Die Kämpfe also, nicht die Entwicklung der Produktivkräfte, die Geschichte der Subjektivitäten der Arbeiter und der Subalternen und nicht die objektive Geschichte der kapitalistischen Entwicklung – das ist der Kern der politischen Theorie des Leninismus. In der Rezeption Lenins im Westen wird von all dem, mit Ausnahme einiger weniger Häretiker, nur sehr wenig übrig bleiben, so dass der gesamte Objektivismus der Zweiten Internationale, der zur Tür hinausgeworfen wurde, durch die einladenden Fenster, die die offizielle Arbeiterbewegung ohne zu zögern für ihn öffnen wird, wieder eintreten wird. Infolgedessen wird die offizielle Arbeiterbewegung mehr und mehr Ähnlichkeit mit dem legalen Marxismus als mit dem Bolschewismus haben.
Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, in der dieser Marxismus in all seinen Erscheinungsformen, wie oben erwähnt, den Populismus und das Verhältnis Lenins und der Bolschewiki zu ihm wie in Trance abtut, während er die Ereignisse im Zusammenhang mit der Phase des legalen Marxismus bis zum Äußersten betont. Aber kehren wir zu dem zurück, was wir gesagt haben. Wir haben Lenin, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland und die Frage, was zu tun ist, erwähnt, weil zu Beginn der 1960er Jahre eine ganze Reihe von Indikatoren darauf hinweisen. In erster Linie geht es darum, Was tun? vor dem Hintergrund des neuen Szenarios neu zu lesen oder besser noch neu zu übersetzen. Es geht darum, zu verstehen, was die Partei des Aufstands ist oder, andererseits und genauer, was die Form und das Verhältnis zwischen der historischen Partei und der formalen Partei sein sollte. Die historische Partei ist die Klassensubjektivität, die formale Partei ist die politische Form, in der die Subjektivität verkörpert ist. Dieses Verhältnis kann nur das Ergebnis eines historisch bestimmten Szenarios sein und nicht das Ergebnis des individuellen Willens. Dies, und nur dies, ist der leninistische Determinismus, und dieser Determinismus zwingt die formale Partei zu einer ständigen Veränderung. Es ist also sicher kein Zufall, dass die Frage der Organisation die Seiten der Zeitung “La Classe” ständig belebt, und zwar nicht aus irgendeiner organisatorischen Angst heraus, sondern weil das, was angesichts der drängenden Kämpfe aufgelöst werden muss, die Strukturierung der formalen Partei ist. Hier geht es darum, Lenin vollständig neu zu übersetzen, den Standpunkt der Arbeiter umfassend zu verstehen und ihm eine solide Grundlage zu geben. Doch kommen wir nun zum Kern der Sache.
Ende Teil 5, wird fortgesetzt….
Anmerkungen
- Eine der besten Beschreibungen hierzu ist nach wie vor die Arbeit von F. Alasia, D. Montaldi, Mailand, Korea. Inchiesta sugli immigrati negli anni del miracolo, Donzelli, Rom 2010.
- Dazu das schöne Werk von A. Accornero, Fiat confino, Edizioni Avanti, Mailand 1959.
- Vgl. A. Portelli, Il testo e la voce. Die Oralität, die Literatur und die Demokratie in Amerika, Manifesto libri, Rom 1992.
- K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, Editori Riuniti, Rom 2021.
- N. Balestrini, Vogliamo tutto!, Feltrinelli, Mailand 1971.
- Doors, When the music’s over (Oktober 1967 – ungewollte Feier einer Revolution fünfzig Jahre zuvor).
- C. Schmitt, Theorie des Partisanen, cit.
- Siehe P. Secchia, La resistenza accusa 1945-1973, Mazzotta, Mailand 1973.
- V. I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Editori Riuniti, Rom 1972.
- F. Engels, Die Lage der Arbeiterklasse in England, Feltrinelli, Mailand 2021.
Dies ist die Übersetzung des fünften Teil des Artikels “É la lotta che crea l’organizzazione. Il giornale ‘La classe’, alle origini dell’altro movimento operaio”, der im Original auf Carmilla Online erschienen ist.