Syrien: Die Wiedergeburt der Revolution

Leila Al Shami

Gestern, am 25. August, wehte die Revolutionsflagge in Dörfern, Städten und Gemeinden in ganz Syrien. In Sweida, Dera’a, Aleppo, Idlib, Raqqa, Hasakeh und Deir Al Zour waren Tausende auf der Straße und ließen die Gesänge der Revolution wieder aufleben.

Vor einigen Tagen brachen im Süden des Landes, in den vom Regime kontrollierten Städten Sweida und Dera’a, Proteste aus. Auslöser war die Krise bei den Lebenshaltungskosten, insbesondere der jüngste Anstieg der Treibstoffpreise, da die Subventionen gekürzt wurden. Die Menschen haben Mühe, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen – einer der Gründe, warum viele immer noch aus dem Land fliehen. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, und die Hälfte der Bevölkerung ist von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Ein syrischer Staatsbediensteter verdient derzeit etwa 10 Dollar im Monat, was bei weitem nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren, da die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen. Es ist das Regime, das das Land in den Ruin getrieben hat. Die durch sozioökonomische Forderungen ausgelösten Proteste weiteten sich bald zu erneuten Forderungen nach dem Sturz Assads aus.

Im mehrheitlich drusischen Sweida hat das klerikale Establishment seine Unterstützung für die Proteste geäußert und damit einen Wandel in einer Region signalisiert, die bisher während der Revolution eine neutrale Haltung eingenommen hat. Die drusischen Demonstranten sangen revolutionäre Lieder: “Syrien ist unser Land, nicht das von Assad”, skandierten sie. Sie skandierten auch die antisektiererische Parole “Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins”, und beduinische sunnitische Stammesangehörige schlossen sich ihnen an und sendeten eine klare Botschaft der Einheit, trotz des anhaltenden Versuchs des Regimes, die konfessionelle Spaltung zu schüren. Bei einer symbolischen Demonstration wurde am Grab von Sultan Prasha Al Atrash, einem drusischen Helden des antikolonialen Kampfes gegen die Franzosen, eine Revolutionsfahne gehisst. Die Syrer kämpfen wieder einmal für ihre nationale Befreiung – von einem verbrecherischen Regime, das keine Legitimität in der Bevölkerung besitzt.

Seit dem 16. August kam es in mehr als 52 Orten im Süden des Landes zu Protesten und anderen Aktionen des zivilen Ungehorsams. Am 20. August fand ein Generalstreik der Fahrer öffentlicher Verkehrsmittel statt, bei dem auch Geschäfte und Betriebe geschlossen wurden. Eine Reihe von Regimegebäuden wurde angegriffen. Am Mittwoch plünderten wütende Demonstranten die örtlichen Büros der Baath-Partei in Sweida. Neben der Verschlechterung der Lebensbedingungen brachten die Demonstranten auch ihre Wut über die grassierende Korruption zum Ausdruck und forderten ein hartes Durchgreifen gegen den Drogenhandel. Kriegsherren und Regimekumpane haben sich durch den Schmuggel des amphetaminähnlichen Captagon bereichert und Macht erlangt, was zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage im Süden geführt hat.

Am Freitag kam es im ganzen Land zu Protesten, bei denen die Menschen unter dem Motto “Freitag der Rechenschaft für Assad” auf die Straße gingen. In Szenen, die an die frühen Tage der Revolution erinnerten, forderten Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten den Sturz des Regimes. In vielen Sprechchören und auf Transparenten wurde auch der Abzug von Assads imperialen Unterstützern – Russland und Iran – gefordert. Die Demonstranten im Norden skandierten in Solidarität mit ihren Landsleuten im Süden. In Idlib und Atarib im Umland von Aleppo wurden neben der Revolutionsflagge auch die Fahnen der drusischen und kurdischen Gemeinschaften gehisst. Und es gab zahlreiche Solidaritätsbekundungen mit dem ukrainischen Widerstand. Im Lager Mashhad Ruhin in Idlib, in dem die durch Assads Terror vertriebenen Menschen leben, versammelte sich die Menge und skandierte “das Volk will den Sturz des Regimes”. Kinder, die noch nicht einmal geboren waren, als die Revolution in Syrien begann, kannten den Text jedes Revolutionsliedes. Selbst Angehörige der alawitischen Gemeinschaft, der treuesten Basis von Assad, haben in den letzten Tagen in den sozialen Medien ihre Wut auf das Regime, das das Land zerstört hat, zum Ausdruck gebracht.

In Sweida führten Frauen die Demonstrationen an und forderten die Freilassung politischer Gefangener – eine zentrale Forderung aller freien Syrer. Seit 2011 wurden mehr als 130.000 Menschen vom Regime inhaftiert oder sind gewaltsam verschleppt worden. Auf Plakaten wurde die Freilassung von Ayman Fares, einem Sohn aus Lattakia, gefordert, der vor einigen Tagen ein regimekritisches Video veröffentlicht hatte und bei dem Versuch, nach Sweida zu fliehen, festgenommen wurde. Das Regime begegnet Andersdenkenden auf die einzige Art und Weise, die es kennt – mit harter Repression. Sowohl aus Aleppo als auch aus Dera’a wurde berichtet, dass Sicherheitskräfte auf Demonstranten geschossen haben, wobei zwei Zivilisten im Stadtteil Al-Fardous in Aleppo getötet worden sein sollen. Das Syrian Network for Human Rights berichtet, dass in den letzten Tagen 57 Zivilisten im Zusammenhang mit den Protesten verhaftet wurden. Und die Bombardierungen haben nicht aufgehört. Erst heute Morgen haben Kriegsflugzeuge des Regimes und Russlands zwei Schulen in der Provinz Idlib bombardiert und damit ihren unerbittlichen Feldzug gegen die Zivilbevölkerung fortgesetzt, wohl wissend, dass die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage sein wird, auf die anhaltenden Kriegsverbrechen angemessen zu reagieren.

In den letzten Tagen sind in den sozialen Medien koordinierte Kampagnen mit einer Liste von Forderungen und Aufrufen zum Protest erschienen. Eine davon ist die Bewegung des 10. August, die unter anderem die Einsetzung einer Übergangsregierung im Einklang mit der Resolution 2254 (2015) des UN-Sicherheitsrats, ein Ende der konfessionellen Spaltung, ein Ende der ausländischen Besatzung und der Intervention von außen, die Freilassung aller Inhaftierten und die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern fordert.

Diese mutigen Frauen und Männer im ganzen Land haben gezeigt, dass das Regime das syrische Volk nicht mit Bomben, Hunger, Folter, Gas und Vergewaltigung in die Knie zwingen kann. Trotz allem, was sie durchgemacht haben, und trotz des Fehlens einer nennenswerten Solidarität mit ihrem Kampf lebt der Traum von einem freien Syrien weiter. Die Welt mag sich dafür entscheiden, die Beziehungen zu Assad zu normalisieren, aber die freien Syrer haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie seine Herrschaft niemals akzeptieren werden.

Veröffentlicht auf Englisch am 25.8.2023, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.