Exkurs zu den Boomern

Freddy Gomez

Es ist schon einige Zeit her, dass an einem Frühlingsabend auf dem Vorplatz des Theaters La Commune (Aubervilliers) einige Kulturschaffende mit geschärftem Umweltbewusstsein im Rudel über den Zustand der Welt diskutierten. Vage, höflich, moralisch und “wohlwollend” wurde gesprochen, ohne dass jemand jemals die Stimme erhob. Die Gruppe war jung, freundlich, integrativ und wahrscheinlich intersektional. Zusammen mit einer Freundin, die aufgrund ihres Alters und ihrer Aktivitäten hätte dazugehören können, und aus Neugierde gesellte ich mich zu diesem Kreis und hörte einfach nur zu, als mich mit ihren distinguierten 40 Jahren eine griesgrämige Umweltaktivistin, die ich zum ersten Mal in meinem Leben sah, ansprach und sich wie folgt ausdrückte: “Es war Ihre Generation, Monsieur, die Generation der Boomer, die aus dieser Welt, von der Sie profitiert haben, die verbrannte Erde gemacht hat, die wir geerbt haben.” Angesichts meines seit jeher eher distanzierten Verhältnisses zu Produktivismus und Konsum, brachte mich die generalisierende Absicht einer solchen Anschuldigung zum Lächeln, allerdings zu einem zynischen. Meine Erwiderung unterbrach die wohlwollende Stimmung in diesem Bobo-Zirkel: “Ich könnte Ihnen vorschlagen, Frau Staatsanwältin, unsere CO2-Bilanzen zu vergleichen, wobei ich im Voraus weiß, dass, auch wenn Ihre Bilanz hinter meiner zurückbleibt, ich sicher bin, dass Sie sie am Ende übertreffen, und zwar bei weitem. Was die Last der Schuld betrifft, die Sie mir aufbürden, ohne mich zu kennen, so sollten Sie wissen, dass sie nur Ihre arrogante Dummheit beweist!” Ein leises, missbilligendes Stimmengewirr verlieh dieser Versammlung von Gutmenschen endlich ein wenig Leben.

Einige Wochen später, auf einer etwas heißen Demo, bei der es angesichts meines Boomer-Alters notwendig war, sich vor der Gefahr in Sicherheit zu bringen, bis sie vorbei war, riss mich eine mächtige Stimme von hinten aus meiner Starre: “Verurteilen Sie Gewalt, Monsieur?”. Als ich mich umdrehte, erkannte ich sofort Raoul, einen alten Kumpel – Boomer +, könnte ich sagen, ohne die Absicht, seinen Fall zu verschlimmern -, der, wie ich, der seine Grenzen kennt, im Demonstrationstourismus tätig war, nach dem Motto “Wir sind da, aber auch nicht da”. Raoul, der das Viertel La Bastoche wie aus dem Effeff kennt, zog es vor, an einen ruhigeren Ort zu ziehen, da er die Umgebung als zu feindlich für Boomer oder vergleichbare Menschen empfand. Als wir auf einer Bistroterrasse saßen, kam das Gespräch ganz natürlich auf das Thema, das mich beschäftigte. Nachdem ich ihn über die “Stigmatisierung” informiert hatte, der ich zum Opfer gefallen war – was ihn zum Lachen brachte -, und da er durch seine langjährige Tätigkeit bei der INSEE [1] mit statistischen Feinheiten bestens vertraut war, bat ich ihn, mir zu erklären, was genau ein Boomer ist. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: “Demografisch gesehen, Genosse, ist die Definition klar. Sie gilt in den vom Zweiten Weltkrieg am stärksten betroffenen Ländern – und nur in diesen – für Menschen, die zwischen 1946 und 1955 geboren wurden, also für diejenigen, die heute (in einigen Ländern – und nicht auf dem ganzen Planeten) zwischen achtundsechzig und siebenundsiebzig Jahre alt sind. Um es kurz zu machen: Du bist dabei, ich nicht, denn ich bin achtundsiebzig und bewege mich auf die Grauzone des sogenannten hohen Alters zu, das auf achtzig Jahre festgelegt ist. Wenn mich also deine Zicke an deiner Stelle angesprochen hätte, hätte ich ihr antworten können: ‘Tut mir leid, Madame, aber Sie sind auf dem Holzweg, ich bin genauso wenig ein Boomer wie Sie, Sie scheinen hinter dem Mond zu leben.’’ Die Schlussfolgerung lag also auf der Hand: Der Unterschied zwischen meinem Freund Raoul und mir bestand darin, dass er statistisch gesehen ein Kind des Krieges und der Entbehrungen war und ich ein Kind der Nachkriegszeit und des Babybooms. Statistisch gesehen passte das, andererseits war die Sache mitnichten klar wie Kloßbrühe.

Raoul, ein emeritierter Statistiker, aber nicht nur das, erkannte meine Verwirrung und fasste die Situation folgendermaßen zusammen: “Kurz gesagt, Genosse, wenn man fünfundfünfzig Jahre alt ist, ist man ein Kind eines Boomers und wenn man fünfundachtzig Jahre alt ist, ist man ein Elternteil eines Boomers. Die Statistik ist keine unfehlbare Wissenschaft, aber wenn der Staat sich ihrer bemächtigt, wird sie zur offensichtlichen Wahrheit. Es bleibt zu verstehen, was sie verbirgt, wenn im Mund einer 40-Jährigen und erst recht in dem ihrer Nachkommen die grauen Haare des Gesprächspartners ein absoluter Beweis für seine objektive Schuld an der laufenden Umweltkatastrophe wären.”

Wenn es eine epochale Tatsache gibt, mit der man rechnen muss”, fuhr der nonkonformistische Statistiker fort, “dann ist es das argumentative Elend, das die Grundlage für die vermeintlich aufgeklärten Reden einer scheinbar gebildeten Generation bildet, die den Reflex anstelle der Reflexion, die guten Gefühle anstelle der Sozialkritik, das Stückwerk anstelle des Grundsätzlichen und die Wirkung anstelle der Ursache gesetzt hat, indem sie, ohne sich dessen bewusst zu sein und zu jedem beliebigen Thema, eine Art Krieg aller gegen alle nährt. Denn die Annäherungen an die ‘Intersektionalität’ sind Teil einer Essentialisierung jeder Person einer statistisch erfassten Altersgruppe, um sie unabhängig von ihrem Milieu, ihrer sozialen Klasse und ihren Praktiken zu einem Sinnbild für alle Umweltschäden zu machen, unter denen unser Planet leidet und an denen er stirbt. Mit anderen Worten“, so Raoul, “durch diese Verschiebung hin zur argumentum ad personam, die in der nicht klassenspezifischen politischen Ökologie, wie sie von der schneidigen Tondelier und ihren quadratischen Kollegen verkörpert wird, üblich ist, kannst du – als statistisch erfasster Boomer und weil du angeblich davon profitiert hast – als genauso verantwortlich für den Zustand der Welt angesehen werden wie die Boomer Bernard Arnault oder Vincent Bolloré. So weit sind wir also gekommen, und ohne jeden elementaren Klassenbezug gibt es auf diesem Gebiet wie auch beim Antirassismus, Feminismus und den Rechten von Minderheiten keinen Grund, warum der moralische Post-Aktivismus etwas anderes als eine Predigt hervorbringen sollte. Allerdings muss man zugeben, dass er gegenüber uns, Boomer oder Boomer+, den Vorteil der Zeit hat. In dieser Hinsicht bläst uns der Wind nicht gerade günstig ins Gesicht. Komm schon, Genosse, noch eine Runde, um zu vergessen?”

Als damaliger Militanter der CGT-Gewerkschaft der INSEE hatte ich Raoul Ende Dezember 1981 zum ersten Mal getroffen, während einer Protestdemo gegen den Staatsstreich in Polen von Jaruzelski. Die Gewerkschaft der Correcteur CGT hatte gerade mit Oppositionellen gegen die Gewerkschaftsführung eine Gewerkschaftskoordination für Solidarność [2] gebildet. Sie umfasste die INSEE, die ONIC [3], die Handelsmarine und verstreute Sektionen. Eine von der Koordination ausgehende Protestpetition hatte in Rekordzeit 10.000 Unterschriften von Cégétisten gesammelt, was damals nicht wenig war. Darüber sprachen wir in dieser brüderlichen Stunde nach Sonnenuntergang, wenn zwischen Hund und Wolf das Licht durch Erinnerungen an die alte Zeit gedämpft wird. Meine war präzise: die eines Raoul in den Dreißigern, der, eine große, schlanke Figur, den Zug mit ordentlicher Geschwindigkeit anführte und in sein Megaphon brüllte: “CGT für Solidarność!”. Anderthalb Jahre zuvor, an Pfingsten 1980, hätten wir uns am Strand der Bucht Baie des Trépassés der Gemeinde Plogoff begegnen können, wo wir beide, ohne uns zu kennen, standen, um gegen die absurde Idee zu protestieren, an dieser von den Wellen des Atlantiks zerklüfteten Küste ein Atomkraftwerk errichten zu wollen. Bereits am 31. Juli 1977 hatte Raoul in Creys-Malville hilflos mit ansehen müssen, wie sein Lehrerfreund Vital Michalon bei einer Massendemonstration gegen das geplante Superphénix-Kraftwerk durch den Beschuss mit einer Offensivgranate getötet wurde. Und noch davor hatte der hartnäckige Widerstand der Bauern von Larzac gegen die Ausweitung eines Militärgeländes, das ihre Enteignung bestätigen sollte, ihn und mich nach dem Mai 1968 aktiv mobilisiert.

– Es heißt, dass unsere Generation, die Generation der Boomer und älter, weniger empfänglich für Umweltthemen gewesen sei als die heutige. Das ist zumindest das, was die Experten der Gazette ständig wiederholen.

– Es scheint so, ja… Und es ist möglich, dass es in gewisser Weise wahr ist. Aber wahr wie und bis zu welchem Grad? Auf depressive Weise – Öko-Angst – oder offensiv – entschlossener, bewusster und umfassender Widerstand gegen den Kapitalismus und seine Übel? Hier klemmt es, Genosse, und zwar aus einem Grund, den du und ich genau verstehen: In den besorgten Köpfen hat sich ein Schnitt vollzogen zwischen dem Politischen im edlen Sinne des Wortes und dem Gefühlten, dem Sensiblen. Was die Jugend mobilisiert, wenn sie sich mobilisiert, ist vielmehr die Aussicht auf eine Endlichkeit – daher die vorherrschende Besorgnis, die allein mit der Klimakrise und ihren bekanntermaßen verheerenden Auswirkungen verbunden ist. Der Katastrophismus ist eine Sackgasse, wenn er die Auswirkungen nicht mit den Ursachen verbindet, eine Sackgasse, die nur zu einem mehr oder weniger survivalistischen Rückzug führt, zum schwachsinnigen Kult eines Hyper-Individualismus: ich gegen die anderen. Und überhaupt: Was ist eine Generation? In ihrer Allerweltsdefinition ist sie eine Teilpopulation, deren Mitglieder ungefähr das gleiche Alter haben und durch dieselbe Epoche gehen, indem sie deren Praktiken und Vorstellungen übernehmen, ein ziemlich enger Kreis von Individuen also, die mit einem vermeintlich homogenen Ganzen verbunden sind: dem kurzen Bruchteil der Geschichte, die sie gemeinsam erlebt haben. Sobald man jedoch etwas Komplexes, also etwas Soziales, einführt, explodiert das Konzept, denn was haben Jugendliche aus der Arbeiterklasse und Jugendliche aus dem Bürgertum im Grunde gemeinsam? Die Mode vielleicht, und was noch? ein bestimmtes Sprechen, und was noch? die Musik, und was noch?

– Aber eine Generation kann auch eine gespaltene Gemeinschaft bilden, vor allem in politischen Fragen…

– Das bezweifle ich … Das hat die 68er-Generation, unsere Generation, von sich selbst gedacht, deren einziger Vorteil darin bestand, kollektiv ein großes politisches Ereignis zu erleben, das nur möglich war, weil mehrere Generationen es aufgriffen, um es mit ihren verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Kulturen zu nähren. “Wir sind nicht gegen die Alten”, sagten wir damals, “sondern gegen das, was sie alt werden lässt”, worauf die Alten ebenso trocken hätten entgegnen können: “Wir sind nicht gegen die Jungen, sondern gegen ihren Anspruch, jung zu bleiben.” Außerdem muss man nur die Zeit der Verleugnungen und des Verrats erlebt haben, die auf das Ereignis folgte, um zu verstehen, dass die Jugend keine Garantie für nichts ist, da sie sich im Sumpf ihrer Intuitionen verlieren kann, wenn sie die Geschichte und ihre Tricks ignoriert. Aber gut, Genosse, ich werde großspurig, und das liegt nicht in meiner Natur, wie du weißt.

Als es Zeit wurde, sich zu verabschieden, gab mir Raoul als Sahnehäubchen noch einige neue Enthüllungen mit auf den Weg. Es ist nicht leicht, sie zusammenzufassen, da der Mann so viel über sein Thema weiß. Zum Glück habe ich mir ein paar Notizen gemacht. Am Anfang stand ein Lied des alten Léo (Ferré, für die Jüngeren), Le Temps du plastique, aus den späten 1950er Jahren. Raoul summte die Melodie und hörte dann abrupt auf. “Weißt du, Genosse, dass die jährliche Produktion von Plastik, die eine globale Katastrophe ist, von 25 Millionen Tonnen im Jahr 1968 auf 150 Millionen Tonnen im Jahr 1998, also während des Erwachsenenalters der Boomer, gestiegen ist, von 200 Millionen im Jahr 2002 auf 360 Millionen im Jahr 2020. Die Produktion und Verschmutzung ist also in der Zeit, in der die im Jahr 2000 geborenen Menschen 20 Jahre alt sind, fünfzehnmal höher als in der Zeit, in der die 1948 geborenen Menschen das gleiche Alter hatten. Selbst wenn man dieses Verhältnis auf das Bevölkerungswachstum bezieht, beweist es, dass die Menschen heute im Durchschnitt viel mehr Kunststoff verbrauchen als vor sechzig Jahren. Wenn wir uns nur auf Europa beschränken, ist der Zuwachs ebenfalls dramatisch. Im Durchschnitt verbraucht ein dreiundzwanzigjähriger Millennial viel mehr Plastik als ein gleichaltriger Boomer im Jahr 1968. Das beweist letztlich, dass eine Analyse, die eine ganze statistisch erfasste Generation über einen Kamm scheren würde, absurd ist. Ebenso hat sich der Textilverbrauch zwischen 2005 und 2020 verdoppelt. In Europa kauft man durchschnittlich 25 kg Kleidung pro Jahr und Person! Man kann argumentieren, dass der Anteil des Textilkonsums am Haushaltsbudget seit 1960 gesunken ist, aber angesichts der fallenden Preise ändert das nichts an der gestiegenen Menge an Kleidung. Das Problem ist, dass Textilien ein großer Umweltverschmutzer sind und viel Wasser verbrauchen. Die Zunahme von Second-Hand-Ware und Lieferungen, die über das Internet bestellt werden und somit zusätzliche Transporte mit sich bringen, verlagert die Umweltprobleme nur. Der übermäßige Konsum von neuen und gebrauchten Textilien ist, kurz gesagt, eine kulturelle Herausforderung. Wir müssen es so machen wie ich: die Werte umkehren und das Alte, Unmoderne oder Geflickte höher bewerten als das Neue. Nicht schwer, siehst du, wie gut ich für achtundsiebzig Besen aussehe?”

Und das ist fürwahr zutreffend!

Anmerkungen

[1] Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien.

[2] Freie Polnische Gewerkschaft, die gerade für illegal erklärt worden war.

[3] Office national interprofessionnel des céréales.

Erschienen im französischen Original am 23. Oktober 2023 auf A contretemps, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.