Ein leidenschaftliches Leben oder keines

Joël Gayraud

Ich war fünfzehn Jahre alt, der Mai knospte mit fliegenden Pflastersteinen und erstrahlte in Feuerblumen. An einer Straßenecke las ich auf einer grauen Mauer die Aufschrift: “Befreit die Leidenschaften” und ein Stück weiter “Ein leidenschaftliches Leben oder keines”. In diesem Moment glaubte ich, den Sinn dessen zu erfassen, was man noch nicht Revolution zu nennen wagte, was aber etwas ganz anderes war als bloße Geschehnisse. Der Hefeteig der Leidenschaften war bereits die Luft, die wir atmeten, und war es nicht auch das, was wir uns wünschten, und das Mittel, es zu erreichen? So hatte der alte Streit um Zweck und Mittel, an dem die revolutionäre Ethik so oft gescheitert war, vielleicht seine Lösung gefunden: Das Mittel stand in vollkommener Übereinstimmung mit seinem Zweck, da es sich mit diesem identifizierte. Ja, diese Revolution könnten wir mit gutem Gewissen durchführen, wir würden uns nicht die Hände schmutzig machen. 

Nun, wie wir wissen, wurde einen Monat später und trotz des längsten und massivsten wilden Generalstreiks in der Geschichte die Ordnung wiederhergestellt. Aber unser leidenschaftlicher Aufstand hatte sie dennoch in ihren Grundfesten erschüttert. In den darauffolgenden Jahren brachen die alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Moralvorstellungen auf: Die Jugend, aber nicht nur sie, wurde freizügiger, Homosexuelle erhielten Bürgerrechte und Frauen erlangten eine größere Kontrolle über ihren Körper. Auch wenn noch viel zu tun bleibt, wurde damals dennoch der entscheidende Impuls gegeben. Um solche Errungenschaften zu echten Siegen zu machen, hätte sich die Welt jedoch von Grund auf ändern müssen. Und das war nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Die Warengesellschaft wurde immer mächtiger, und ihr Einfluss vollzog einen qualitativen Sprung, indem sie alles, was versucht hatte, den profitablen Konsumzyklus zu durchbrechen, wieder in diesen zurückführte. Aber sollte man deshalb das Feld dem Feind überlassen?

Die Leidenschaften im Ansturm auf die Vernunft

In der Vergangenheit hatten andere als wir ihre Sache auf das Fest der Sinne gegründet. Vor mehr als zwei Jahrhunderten, im Jahr 1809, rief Charles Fourier (1) aus: “Wenn man den Philosophen glaubt, sind die Leidenschaften unsere gefährlichsten Feinde, und die Vernunft muss sie unterdrücken. Es ist wichtig, diese Auffassung anzugreifen, die der Dreh- und Angelpunkt aller wissenschaftlichen Absurditäten ist.” In Ermangelung einer ausführlichen Darstellung seines gesamten Programms wollen wir einen Moment lang untersuchen, was Fourier unter “Leidenschaften” verstand. Für ihn umfassten sie das gesamte Spektrum des Sinnlichen, von der vollen Ausübung der fünf Sinne bis hin zum Ausdruck von Gefühlen und Affekten in all ihrer Raffinesse. An der Spitze steht für ihn die Liebe, “die schönste aller Leidenschaften”, in all ihren körperlichen und emotionalen Variationen, einschließlich der “Manien”, die er nicht anprangerte, sondern als wesentlichen Teil des Lebens in Harmonie betrachtete – zur Verwirrung seiner eigenen Anhänger, die entsetzt waren, dass er homosexuellen Beziehungen, Bisexualität und dem, was man heute Polyamorie nennt, volle Legitimität zugestand.

In seinen Augen sind die Leidenschaften, sofern sie sich ungehindert entfalten können, eine Quelle des Glücks und der unentdeckte Motor einer harmonischen Gesellschaft; ihre Unterdrückung ist es, die sie “aufstaut”, sie in ihr Gegenteil verkehrt und sie zu Quellen von Chaos, Unglück und Tod werden lässt. Das Leben der Leidenschaft ist keineswegs unvereinbar mit dem gesellschaftlichen Leben, sondern muss im Gegenteil die produktive und kreative Tätigkeit bestimmen, um die Makel der “zivilisierten” Industrie zu beseitigen: die verstümmelnde Arbeitsteilung, die langweilige Monotonie, die der Spezialisierung innewohnt, und die ruinöse Konkurrenz.

Man könnte meinen, dass man mit der Unterstützung der Psychoanalyse nicht mehr so taub für die Rufe des Körpers ist wie in den vergangenen Jahrhunderten: Man spricht ständig und ohne Zwang von Sexualität, man räumt dem Ausdruck der Affekte unendlich viel mehr Platz ein als zu Zeiten Fouriers, der in der Ära des triumphierenden bürgerlichen Puritanismus schrieb. Aber, wenn man einen Moment darüber nachdenkt, werden die Leidenschaften nicht immer noch wie arme Verwandte behandelt, sind sie nicht immer noch vielfältigen wirtschaftlichen, politischen und sogar gesundheitlichen Erwägungen unterworfen, die sie instrumentalisieren und heimtückisch unter ihre Gesetze zwingen? Sie werden umso weniger unterdrückt, je mehr sie ausgebeutet werden. Man braucht sich nur das Schicksal anzusehen, das der Liebe in den kommerziellen Darstellungen der Pornografie angetan wird. 

Die zweite große Transformation

Zuallererst waren es die Sinne und unsere empfindsame Beziehung zur Umwelt, die besonders unter Druck gerieten. Während die erste Große Transformation (2) zu einer allgemeinen Verdinglichung (3) des Raums – Triumph der funktionalistischen Architektur in den Städten, Flurbereinigung auf dem Land – und einer gleichzeitigen Verdinglichung der Zeit – von der fordistischen Taylorisierung bis zum Freizeitmanagement – geführt hatte, geht die zweite Große Transformation, die sich vor unseren Augen vollzieht, mit der Etablierung der kybernetischen Dystopie, mit einer massiven Veränderung des Sinnes- und Gefühlslebens einher. Die Technologien, die so aussehen, als würden sie uns einander näher bringen, führen in Wirklichkeit ein völlig neues Regime der Vereinzelung ein.

Man nimmt den Telefonhörer nicht mehr ab und schickt lieber eine SMS, trotz aller Missverständnisse, die mit einer zeitversetzten Kommunikation einhergehen. Vor allem aber wird die Dimension der Präsenz heimlich aus dem Gesicht eines anderen Menschen verbannt, der zunehmend aus der Distanz einer Repräsentation wahrgenommen wird. Mit dem Einfluss der Bildschirme auf das tägliche Leben ersetzt die Virtualität des Bildes die Materialität des Objekts. Nun sollte jeder wissen, dass die digitale Reproduktion eines Rembrandt-Gemäldes nichts mit der direkten Wahrnehmung dieses Bildes in einem Museumssaal zu tun hat. Dennoch ist die Verwirrung heute so groß, dass sich manche Menschen fragen, was echter ist. 

Die Normierung des Geschmacks, die durch die weltweite Verbreitung von Fast-Food-Fressnäpfen begünstigt wird, oder die weltweite Ausbreitung architektonischer Hässlichkeit, die von allen herrschenden Klassen geteilt wird und mit ihren austauschbaren Skylines aus Beton und Glas historische Stadtzentren und Naturlandschaften, die einst noch von wilder Schönheit bevölkert waren, verunstaltet, müssen nicht näher erläutert werden. Auch die jüngste Kontaktphobie, die sich während der kürzlichen Pandemie in einem unvergleichlichen Ausmaß entwickelt hat, kann nicht genug beklagt werden. Es ist zu befürchten, dass diese neuartige Erfahrung des Entzugs des sinnlichsten und archaischsten aller Sinne, des Tastsinns, bei einigen unserer Zeitgenossen, die zu einem aseptischen Delirium verleitet werden, bleibende Spuren hinterlassen wird. 

Darüber hinaus stürzt uns die Entwicklung sozialer Netzwerke mit der Parzellierung von Informationen und der damit einhergehenden Flut von Bildern und Tönen in ein Wahrnehmungschaos, das unweigerlich zu einer Beeinträchtigung der sensorischen Beziehung zur Realität führt. Doch das Defizit an Leidenschaft ist nicht weniger offensichtlich als die sensorische Degradierung. Der Facebook-Begriff “Freund” hat die Freundschaft zu einer vagen Beziehung degradiert, die trivialerweise dazu bestimmt ist, eine große Anzahl zu erzeugen; die Idee der Zufriedenheit und des Vergnügens, die vom unmittelbaren Eindruck abhängt und auf den Klick des “Likes” reduziert ist, ist nur noch eine Laune, die sich nicht mehr begründen läßt. Was die Liebe betrifft, so bleibt sie allzu oft in der Zange zwischen sexueller Leistung und Anpassung an das ominöse eheliche Modell gefangen, unabhängig vom Geschlecht der Partner, versteht sich.

Diese relationale Veränderung der Subjektivität wirkt sich jedoch auf die Wahrnehmung der objektiven Welt selbst aus: Die Realität wird virtualisiert und tendiert immer mehr dazu, den Stellenwert einer Episode einer Fernsehserie anzunehmen. Daher die so leichte Ausbreitung von Fake News und Verschwörungswahn und anderen Basar-Verschwörungstheorien. Glücklicherweise gibt es gegen diese todbringenden Tendenzen noch zahlreiche Widerstandslinien und Schlupflöcher. Auf diese Leidenschaften müssen wir uns verlassen. 

Jene Leidenschaften, die die Wesen erweitern

In dieser Welt, die den von Netflix kolonisierten Blick zu einem sensorischen und existenziellen Gemeinplatz gemacht hat, ist es dringend notwendig, den Vorrang des Begehrens, die Transzendenz der Revolte und die zersetzende Kraft des Lachens erneut zu bekräftigen. Wie Albert Cossery (4) in seinen Romanen unverfroren vorstellte, kann dort, wo die Routine des Militanten machtlos ist, der kluge Einsatz von Humor und Spott ein Regime zu Fall bringen. Auch wenn man die besten Gründe hat, ein gesellschaftliches System zu missbilligen, das den Bereich der Katastrophe immer weiter ausdehnt, kann es nur durch die eruptive Kraft der Affekte und Leidenschaften erschüttert werden.

Und unter diesen sind natürlich diejenigen zu bevorzugen, die eine Erweiterung des Seins markieren, d. h. die glücklichen Leidenschaften, gegen die sich die vorherrschenden Einstellungen richten und die wir als erste gegenüber den traurigen Leidenschaften, die von der Warengesellschaft unermüdlich gefördert werden, zu begreifen wagen sollten. So wurde zum Beispiel die Leidenschaft, Geld auszugeben, die doch der gesamten Menschheit gemein ist, wie die Potlatch-Rituale (Link d.Ü.) der ältesten Gesellschaften zeigen, in der Phase der Kapitalakkumulation systematisch durch ihre bürgerliche Umkehrung, das Sparen, untergraben, auf das nun die katastrophistische Verwaltung des Mangels folgt. 

Heute ist die alte surrealistische Parole “Lass alles fallen, raus auf die Straße” aktueller denn je. Lassen wir die Gesten los, die uns verraten und enteignen, begeben wir uns auf die Seitenwege, wo wir andere Deserteure treffen werden, Wege, die wir in das Raster der Zeit einzeichnen und dabei gleichzeitig Lichtungen der Utopie roden, auf denen wir die Grundlagen für ein neues Leben errichten können. Denn, wie Gustav Landauer (5) meinte, geht es bei einer sozialen Revolution “nicht darum, die Institutionen zu ändern, sondern das menschliche Leben, die Beziehungen der Menschen untereinander, umzugestalten”. Die Utopie der glücklichen Leidenschaften wird zwangsläufig sowohl als Mittel als auch als Ziel des globalen Projekts der Emanzipation, Gleichheit und Gerechtigkeit gelten, das für das Überleben unserer Spezies so notwendig ist.

Die Verwirklichung eines solchen Projekts erfordert Affekte, die über die bestehenden Verhältnisse hinausgehen: Selbstverausgabung gegen die Ökonomie der Zurückhaltung, fleischliche Präsenz gegen virtuelle Repräsentation, unentgeltliches Geben gegen quantifizierten Tausch, allgemeine Gehorsamsverweigerung gegen die freiwillige Knechtschaft, die jede Herrschaft verewigt, und so weiter ad libitum. Beginnen wir jetzt damit, unsere verlorenen Kräfte wiederzuerlangen, denn nur unter dieser Bedingung können wir hoffen, das, was sich unseren Wünschen entgegenstellt, in die Schranken zu weisen. 

Anmerkungen

1- Charles Fourier (1772-1837), utopischer Sozialist und Theoretiker der leidenschaftlichen Anziehung. Seiner Meinung nach sollte auf die Zivilisation, die von Ausbeutung, Elend und Despotismus geprägt war, eine Ära der Harmonie folgen, in der die Menschheit Glück, Frieden und Überfluss erfahren und die Individuen die größte Freiheit genießen würden. Verfasser zahlreicher Werke, darunter die Theorie der vier Bewegungen und Die neue Welt der Liebe, die von seinen Anhängern als anstößig empfunden und erst 1967 veröffentlicht wurde. Marx brachte seinen Theorien stets die größte Ehrfurcht entgegen, und für Engels “ist Fourier der erste, der feststellt, dass in einer gegebenen Gesellschaft der Grad der Emanzipation der Frau der natürliche Maßstab für die allgemeine Emanzipation ist. Er weist nach, dass sich die Zivilisation in einem ‘Teufelskreis’ bewegt, in Widersprüchen, die sie ständig reproduziert, ohne sie überwinden zu können, so dass sie immer das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen will oder vorgibt erreichen zu wollen; so dass zum Beispiel ‘die Armut in der Zivilisation aus dem Überfluss selbst entsteht’.” 

2 – Der Begriff wurde dem ungarischen Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi entlehnt, der in seinem Werk Die große Transformation (1944) die wesentliche Rolle staatlicher Eingriffe bei der Regulierung der Marktwirtschaft aufzeigt. 

3- Verdinglichung ist die Umwandlung einer Idee oder eines Prozesses in etwas Messbares, Quantifizierbares und manchmal auch Handelbares.

4 – Albert Cossery (1913-2008), ägyptischer Schriftsteller, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich im Exil lebte. In seinen Romanen (Les Fainéants dans la vallée fertile, La Violence et la Dérision, Un Complot de saltimbanques usw.) stellt er Figuren dar, die sich dem Fluch der Arbeit widersetzen und die Arroganz und Dummheit der Autoritäten lächerlich machen.

5 – Gustav Landauer (1870-1919), deutscher anarchistischer Philosoph, Autor von Werken zur politischen Theorie und Gesellschaftskritik (Die Revolution, Aufruf zum Sozialismus), wurde in München während der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik von Freikorps ermordet.

Joël Gayraud ist ein im deutschsprachigen Raum fast unbekannter Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Einer der ganz wenigen Texte, der auf deutsch erschien, ist “Der Tag danach liegt hinter uns”, ursprünglich auf Lundi Matin erschienen und dann für die Sunzi Bingfa im April 2022 ins Deutsche übersetzt. “Ein leidenschaftliches Leben oder keines” erschien wiederum im August 2022 auf Socialter und wurde von Bonustracks in Deutsche übertragen.