UND HINTER DER DÜNE TAUCHT EIN IRREGULÄRER AUF

Cesare Battisti (ein Brief)

Cesare schrieb mir einen langen Brief als Antwort auf eine Reihe von Fragen, die ich ihm gestellt hatte. Die Antworten bilden allein einen dichten Text über die Welt aus der Sicht des Gefängnisses in Massa, über das heutige Italien und über eine Vergangenheit, die wir nicht vorübergehen lassen werden, ohne sie zuvor von den beherrschenden Darstellungen befreit zu haben. Die Kämpfe und Hoffnungen der 1970er Jahre freizulegen, ist eine wichtige Aufgabe in Frankreich, wo die einen wie die anderen durch die Belanglosigkeiten und den Verrat einiger linker Führer übertüncht wurden. Aber in Italien, wo sie unter dem Blei der Lüge und Jahrhunderten des Gefängnisses begraben wurden, ist es eine umso bedeutsamere Aufgabe, da die Macht nun von einem Postfaschismus ausgeübt wird, der ein direkter Erbe der Massenmörder der Strategie der Spannung ist. Im letzten Absatz seines auf Italienisch verfassten Textes wechselt Cesare ins Französische: “Voilà, Serge, vielleicht zu viel und auch zu verwirrend, du wirst schon sehen, was du daraus machen kannst, nach deinem Belieben von Anfang bis Ende. Was die Adresse betrifft, Via Pietro Pellegrino 17, 54100 Massa, kein Problem, du kannst sie an die Leser weitergeben, es wäre interessant, mit jungen und alten Aufsässigen Meinungen auszutauschen.”

Der Titel und die Zwischenüberschriften sind von mir, das ist alles, was ich mir an Interventionen zu einem Text erlaubt habe, den ich weder zu lang noch zu verwirrend finde – auch wenn ich hoffe, eines Tages mit ihm in der Diskussion über seine französische Periode bis zum Ende vordringen zu können, aber auf die einzige Art, wie man bis zum Ende diskutieren kann: an der frischen Luft.

Das soll interessierte Aufsässige nicht davon abhalten, sie jetzt schon zu beginnen, die Diskussion.

Serge Quadruppani

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MEINE DERZEITIGE SITUATION

Nach dreizehn Monaten im Gefängnis von Parma, wo ich einer Überwachung ausgesetzt war, die auch von einigen Insassen ausging, jenen, die sich mit den Machtverhältnissen gut arrangieren, indem sie alle anderen verachten, für die jemand wie ich, der anfängt, Rechte einzufordern, ein Ärgernis für ihre Geschäfte mit dem System ist.

Ich kam schließlich in Massa an, einem sogenannten Gefängnis für ‘fortgeschrittene Behandlung’, das neben Bolletta (Provinz Mailand) und Padua eines von drei in Italien ist. Es war nicht leicht, aus dem Gefängnis in Parma wegzukommen, das in Gefängniskreisen auch “Elefantenfriedhof” genannt wird, weil man dort zum hoffnungslosen Sterben geschickt wird. Niemand glaubte, dass es mir gelingen würde, eine Verlegung von diesem Ort der Verlassenheit zu erreichen, geschweige denn, dass ich in Massa an Land gehen würde. Aber wie man weiß, ist man selbst in der Wüste nie ganz allein, und wenn du es am wenigsten erwartest, taucht hinter der Düne ein Irregulärer auf und dann noch einer. Es sind Freunde und Genossen, sie kommen, um uns daran zu erinnern, dass man allein nicht viel zählt und dass man ein Streichholz reiben muss, um das Feuer zu entfachen. Und hier bin ich nun, ein wenig gebeutelt von den üblichen reaktionären Medien, beleidigt von einigen Politikern, denen es an Themen mangelt. Aber ich bin trotzdem in Massa angekommen, wo ich hoffe, nach einer Zeit des vorsichtigen Sich-Einlassens den Weg beginnen zu können, der mich dazu bringen wird, die Strafmilderung zu erhalten, die allen damaligen Militanten weitgehend gewährt wurde (es waren nur fünf, die diese ablehnten, aber ihre Entscheidung ist nicht nur strittig, sondern auch sehr persönlich). Alles in allem und im Sinne einer legitimen Gleichbehandlung hätte ich vor fünf Jahren, direkt nach meiner Ankunft, die Möglichkeit erhalten sollen, außerhalb des Gefängnisses zu arbeiten. Aber es geht immer noch um Battisti, ein Monster, das immer noch geeignet ist, um den Gefahrenindex nach oben zu schrauben.

DIE SITUATION IN ITALIEN

Sicherheit, ein öffentliches Überzeugungsargument, das oft erfunden und konstruiert wird, um weiterhin die Vogelscheuche zu schwingen, mit der Absicht, Milliarden von Finanzmitteln in einem Land abzufangen, in dem die einzigen, fast alltäglichen Terrorakte tatsächlich auf Kosten von Frauen gehen und Feminizid genannt werden. In Italien gibt es einen kolossalen Polizeiapparat, ich glaube, er ist doppelt so groß wie der europäische Durchschnitt und in einigen Ländern, wie Deutschland, ist er sogar dreimal so groß. Dann gibt es die Sondereinheiten, die im Dauereinsatz sind, um jede kriminelle Kategorie zu unterdrücken. Sie sind so zahlreich, dass selbst Talkshowbesucher in der Masse der immer unaussprechlicheren Akronyme Verwirrung stiften können.  In den 1970er- bis 1990er-Jahren, als die Mafia mit dem Staat kollusiv zusammenarbeitete, faschistische Bomben explodierten und blutige anarcho-kommunistische Guerillakämpfe stattfanden, hatte die Schaffung von Sondereinheiten und spezialisierten Staatsanwaltschaften durchaus einen Sinn. Aber es waren auch Jahre, in denen Hunderte von Menschen starben und der Staat abwesend schien. Welchen Sinn hat es heute noch, diese teure Armee zu unterhalten? Dreißig Jahre später, während die Mafia ihre Stellvertreterkriege auf anderen Kontinenten führt. Während im Bel Paese weiterhin gestorben wird, aber am Arbeitsplatz, über tausend Todesfälle pro Jahr, die durch die Extraprofite der Unternehmer getötet werden.

Man stirbt auch nur aufgrund dessen, weil man eine Frau ist, ermordet von einem stumpfen und patriarchalischen Geist. Man stirbt, weil man ein Migrant ist, der mit Tausenden anderen auf dem Meeresgrund verschwindet. Für diese kriminellen Handlungen gibt es keine Sondereinheiten und kein Geld, das in die Prävention investiert werden könnte. Es gibt nur eine Menge TV-Gelaber, um die von der Politik hinterlassene Lücke zu füllen und uns einen neuen Feind des Vaterlandes zu präsentieren. 

Mit seinem obszönen Entwicklungsrückstand bei Bürgerrechten und sozialer Gerechtigkeit steht Italien jedoch an der Spitze der globalen Antipolitik: Mit Berlusconi hat das Bel Paese den Populismus im “demokratischen Westen” inauguriert, der später von Trump und einigen seiner oligarchischen Handlanger glänzend übernommen wurde. 

Jetzt haben wir die Koalition Gott Vaterland und Familie an der Regierung, die mutig auf dem autoritären Trend in Europa reitet. Eben jenen, den – mit unterschiedlichen Nuancen – selbst Macron nicht verschmäht. Der Populismus hat das Ende der Politik verkündet und damit den Weg für den Autoritarismus schlechthin geebnet, der sich nicht mehr um das Parlament schert. Wir sind nun in das Zeitalter der Allmacht der Exekutive eingetreten, in dem die verfassungsmäßigen Spielregeln erschöpft sind.

Wir wissen nur zu gut, wie sehr die Gewaltenteilung schon immer von den Machtverhältnissen, von der ewigen Staatsraison verhöhnt wurde. Aber zumindest bis vor kurzem versuchte man noch, den Schein zu wahren; jetzt besteht dafür kein Bedarf mehr. Keine frühere Regierung war jemals so weit gegangen.

In nur achtzehn Monaten an der Macht hat die Exekutive repressive Gesetze verkündet und anschließend verabschieden lassen, die tief in die individuellen und kollektiven Freiheiten eingreifen. Das erste Gesetz, das verabschiedet wurde, war das Anti-Rave-Gesetz – ein Schwindel, um ein faschistisches Gesetz zur Kriminalisierung und Unterdrückung von Versammlungen an öffentlichen Orten wieder einzuführen. Das Streikrecht ist nun auf einen auf die Kaffeepause beschränkten Spaziergang reduziert; das Recht, seine Ideen öffentlich zu bekunden, wurde in eine Straftat umgewandelt, und im Wiederholungsfall kommt man ins Gefängnis – das nennt sich “Daspo” [1] subversiv. Und da es zu viele “Unfalltote” in den Gefängnissen, auf Polizeirevieren und auf öffentlichen Straßen gibt, gibt es bereits einen Vorschlag für die Außerkraftsetzung des Anti-Foltergesetzes, das erst seit wenigen Jahren in Italien verankert ist. Es gibt keine Geste, kein Wort, kein Thema eines Vertreters der “Chose Publique”, das sich nicht im Augenblick seiner Äußerung selbst erledigt.

Der größte Sieg des Kapitalismus, schrieb Marck Fisher in Der kapitalistische Realismus, “ist die Vernichtung der Zukunft als einer politischen Tatsache, die sich an sozialer Gerechtigkeit orientiert. Nämlich die Vorstellung, dass morgen nicht anders oder besser sein kann als heute; dass eine ‘gerechtere Zukunft’ nicht nur unmöglich, sondern auch gefährlich ist.” Diese Regierung hat ihre Lektion gelernt und weiß, was sie tut. 

ZWANZIG JAHRE VERFOLGUNG

Was mich betrifft, so ist es genau zwanzig Jahre her, dass ich im Februar 2004 im Rahmen eines zweiten Auslieferungsverfahrens verhaftet wurde, das von derselben gerichtlichen Instanz wie beim ersten Mal eingeleitet worden war, ohne dass in der Zwischenzeit irgendwelche neuen Tatsachen eingetreten wären. Es war nicht schwer zu verstehen, auch aufgrund meiner eigenen Unvorsichtigkeit – wie einige provokative öffentliche Äußerungen -, dass dieses Mal die französisch-italienischen Abkommen nun wichtiger waren als das Gesetz und die Verfassung. Was die beiden Boutiquen-Regierungen meiner Meinung nach nicht vorhergesehen hatten, war die unmittelbare Reaktion der politisch-intellektuellen Welt oder zumindest eines Teils von ihr in der Anfangsphase. Sie hielten es für unmöglich, dass ein “Terrorist” (sic) ein soziales und gemeinschaftliches Leben führen könnte, das ein – manchmal unerwartetes – Gewissen bewegen könnte. Das war der Beweis für meine Eingliederung in die französische Gesellschaft. Ein echter politisch-intellektueller Wandel, der nicht nur eine vorhersehbare Solidarität seitens spärlicher militanter Gruppen voraussetzte, die es auch gab, sondern auf einer reichen und großzügigen Erfahrung beruhte, auf einer Interaktion, die schwer zu verschleiern war, und sei es durch all die Kräfte, die von den faschistoiden italienisch-französischen Achsen jener Zeit mobilisiert wurden.

Die Reaktion weltbekannter Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft traf die Verantwortlichen der Auslieferungsfarce völlig unvorbereitet. Sie würden sich zwar schnell neu organisieren, aber in der Zwischenzeit zwang sie der Protest dazu, mich vorläufig wieder auf freien Fuß zu setzen, wodurch ich in Brasilien Unterschlupf finden konnte. Aber mit einem Staat gegen mich, oder vielmehr zwei Staaten seit der Flucht aus Frankreich, gab es keine Illusionen. Sie würden neue Kräfte aufbieten. Sie hatten verstanden, dass sie mein öffentliches Image angreifen und zerstören mussten, das mir immer noch die Möglichkeit bot, Sympathien der Solidarität zu wecken. Sie mussten mir den Sauerstoff entziehen und mich mit allen Mitteln psychologisch zermürben. Il Sole 24 Ore enthüllte, dass von der Flucht aus Frankreich bis zu meiner Entführung in Bolivien fünfzig Millionen Euro ausgegeben worden sein sollen; Handelsabkommen und diplomatische Unterstützung nicht mitgerechnet. Es dauerte 15 Jahre, bis diese Operation abgeschlossen war, und ich frage mich noch heute, wie ich es geschafft habe, nicht dem Wahnsinn zu verfallen oder so gravierenden Provokationen wie denen, die ich erlitten hatte, zu erliegen.

Als ich in Italien landete, war ich mir der Tragweite dieser Hetzkampagne natürlich nicht voll bewusst, und so beharrte ich auf meinem Glauben, dass die Menschen, die sich großzügig für meine Freiheit eingesetzt hatten, das Bild des Monsters, das man während des brasilianischen Exils aufgebaut und aufgeblasen hatte, von vornherein ablehnen würden.

Ich dachte, ich könnte es allen erklären, und Freunde und Kollegen würden mich verstehen. Aber wie soll man ein Bild auseinandernehmen, das über Jahre hinweg mit enormen, oft illegalen Mitteln aufgebaut wurde, wenn selbst diejenigen, die die Intelligenz des Landes repräsentieren sollten, in den Chor einstimmen, urteilen und verkünden, ohne zu wissen, wovon sie reden. Schlimmer noch, zum Zeitpunkt der Ereignisse waren viele dieser Stegreifkritiker noch nicht einmal geboren und hatten sich nie aufgemacht, die Gerichtsakten zu lesen.

AN FREUNDE, KOLLEGEN UND GENOSSEN

Ich habe einige Fehleinschätzungen getroffen, für die ich teuer bezahlen muss. Ich spreche nicht über meine militante Geschichte im bewaffneten Kampf der 1970er Jahre, von der ich mich bereits in den 1980er Jahren abgewendet hatte, auch wenn es niemandem hilft, dies zu sagen. Ich würde es jedenfalls nicht akzeptieren, darüber zu diskutieren, wenn die Absicht oft darin besteht, singuläre Fakten, die mir und den ‘Proletari Armati per il Comunismo (PAC)’ (Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus) zugeschrieben werden, aus dem historischen und politischen Kontext, der sie hervorgebracht hat, herauszulösen. Die Funktion der Geschichte besteht darin, den allgemeinen Kontext wiederzugeben, in dem ein Ereignis stattgefunden hat. Wenn man sich auf eine reine Begebenheit beschränkt, kann das Ereignis nach Erfordernissen transformiert und benutzt werden, die der Wahrheitsfindung fremd sind. (Wie es durch die öffentliche Zurschaustellung ausgewählter Auszüge aus meinem Verhör auf Sardinien geschehen ist). Und so kommt es, dass man sich, anstatt die Bedeutung zu vermitteln und die Tragweite zu verstehen, schäbigen Interpretationen hingibt, die von den Herren der Wahrheit zu einem niedrigen Preis verhökert werden.

Die Fehleinschätzungen, auf die ich mich bezog, betrafen stattdessen die Zeit meines Exils in Frankreich und die Rolle, die ich mir unklugerweise anheftete, ohne die Fähigkeit zu besitzen, mit ihr richtig umzugehen. Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage, dass ich in den letzten Jahren in Frankreich aufgrund einiger verlegerischer Erfolge der Eitelkeit, der übertriebenen persönlichen Bedeutsamkeit, gefrönt habe.

Dadurch konzentrierten sich die Verfolgungsabsichten des italienischen Staates auf mich, und gleichzeitig wurden bei den mir nahestehenden Personen Erwartungen geweckt, die ich keinesfalls enttäuschen wollte. Ich möchte die Verantwortung, die ich trage, nicht abwälzen, aber es ist keineswegs wahr, dass ich persönlich versucht habe, jemanden von meiner Unschuld zu überzeugen, und zwar unter denjenigen, die mich unterstützt haben. Das hätte ich in Frankreich weniger denn je tun können, ebenso wie in den anderen Ländern, in denen ich politische Zuflucht fand, wo mich Genossen, Freunde und Schriftstellerkollegen nie gefragt haben, ob ich an den Taten, die mir zur Last gelegt wurden, eine Schuld trage oder nicht. Für alle war ich ein Militanter, der den bewaffneten Kampf praktiziert hatte und Anspruch auf politische Zuflucht hatte, Punkt. Tatsächlich hatte ich vor August 2004 bei jeder Gelegenheit meine Mitgliedschaft in der PAC und die moralische Verantwortung für alle von der Gruppe beanspruchten Aktionen geltend gemacht.

Ich erklärte mich zum ersten Mal in einem Interview mit dem Journal du Dimanche im August 2004 für “unschuldig”: Es sollte klar sein, dass es nicht um die Mitgliedschaft in der PAC ging, sondern um die besonderen Verbrechen, für die ich in Abwesenheit verurteilt worden war. Und das war die Position, die ich seither beibehalten musste, und zwar nicht nur, um eine Auslieferung zu verhindern, sondern auch, um den Forderungen der politischen Instanzen nachzukommen, die zur Gewährung von Asyl beitragen sollten – siehe die Regierung Lula – , die der Ansicht waren, dass eine Unschuldsbekundung der von der Auslieferung betroffenen Person gegenüber den Medien die diplomatischen Beziehungen zu Italien erleichtern würde.

Da ich also sowohl die historische Wahrheit als auch meine Position als De-facto-Flüchtling, für die wir so hart gekämpft hatten, verteidigen musste und auch die verfügbaren Kräfte in Betracht zog, glaube ich nicht, dass ich im Nachhinein sagen kann, dass ich anders hätte handeln können. Ich habe getan, was möglich war, um in Würde am Leben und präsent zu bleiben.

Abgesehen davon möchte ich allen Genossen, Freunden und Schriftstellerkollegen, die mich unterstützt haben, sagen, dass ich ihre Solidarität und ihr Vertrauen nie enttäuscht habe. 

Und sei es nur, weil sie alle immer den Anstand hatten, mich nie zur Rechenschaft zu ziehen, was die einzelnen Taten während des bewaffneten Kampfes betraf, und noch weniger, was die unmögliche Individualisierung der Verantwortlichkeiten betraf. Deshalb möchte ich ihnen allen sagen, dass sie der mächtigen, vorherrschenden revisionistischen Maschinerie widerstehen und die Wahrheit jenseits der Gerichtsakten suchen sollen, denn Geschichte wird nicht in den Korridoren der Macht oder vor Gericht gemacht, sondern in den Lehrsäalen. Und Künstler, Intellektuelle können sich nicht zu Richtern aufschwingen, haben aber das Recht und die Pflicht zu wissen. Nur so können wir mit Bertold Brecht sagen: “Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!”

Jetzt, von diesem Gefängnis aus, bitte ich Euch alle nicht mehr darum, mich nicht dem Strafsystem zu überlassen.

Was Ihr hättet tun können, um zu verhindern, dass es passiert, habt Ihr bereits getan. Der Appell, den ich jetzt an Freunde, Genossen und Schriftstellerkollegen richten möchte, ist, nicht zuzulassen, dass die impertinenten Sieger das Andenken der Besiegten unter einer Schlammlawine begraben. Denn es ist die Erinnerung an eine große kulturelle Bewegung, die aus tausend Bächen besteht, von denen einige auf ihrem Weg manchmal vom Weg abkommen, die aber alle zusammen eine Strömung geschaffen haben, die auf jeden Fall quer durch die Welt, deren Erben wir alle sind, Spuren hinterlassen hat, die man aber jetzt auslöschen möchte. Liebe Freunde, lassen wir uns nicht täuschen, das Wissen um die Bedeutungen und Werte, die uns vorausgegangen sind, würde uns nicht nur helfen, dieselben Fehler zu vermeiden, sondern auch, nicht dem Strom der gesteuerten Desinformation zu folgen.

Im Jahr 2004 wurde ich aus Frankreich, meiner Familie und einer Gesellschaft gerissen, die mich wachsen und reifen sah, sowohl im Denken als auch im Geist.

Frankreich und die geliebten Menschen, die ich zurückgelassen habe, sind nie aus meinem Herzen verschwunden. Im Französischen sagt man, dass man wie ein Sonett die Stimmen, die Bilder, die sprechen, auswendig lernt. Mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf, auswendig lernen bedeutet, die Intimität wiederherzustellen, von der ich in Frankreich zehrte. Mit dem Herzen schmücke ich meine mit Ihnen gelebten Tage. Und so heißt es: “Et alors, mon âme, Ami, vers toi se lève/Tout mon or se retrouve et tout mon deuil s’acheve. [auf Französisch im Brief, Anm. von S.Q.] (Tiago Rodrigues, über das 30. Sonett von Shakespeare).

Cesare Battisti

Massa, 18.03.2024 

(1) “Daspo” war ursprünglich ein Stadionverbot, der Begriff wird heute für Demonstrationsverbote, Auftrittsverbote in bestimmten Regionen oder an bestimmten Orten verwendet, die von der Polizei und der Justiz gegen Personen verhängt werden, die als “subversiv” identifiziert wurden.

Erschienen am 8. April 2024 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.