AUF DER SUCHE NACH DEM QUALITATIVEN SPRUNG

Nach langen Monaten des Nebels kehrt eine soziale Bewegung zurück. Die Kombination aus Abriegelung (Zerstörer von Bindungen), Krieg (Lieferant apokalyptischer Ängste) und Wahlen (Staubsauger der Hoffnung) ließ vermuten, dass die Apathie die Herzen besiegt hatte. Ein neuer, zehnjähriger politischer Winterschlaf schien sich anzubahnen: ein Einfrieren der Antagonismen, bei dem jeder seine kleine Rolle spielt; die Protestierenden anfechten, die Verwalter verwalten und der Rest sich nicht darum schert. Nicht, dass die Welt nicht mit Krisen und explosiven Situationen belastet wäre, aber die Betäubung durch den Katastrophenkapitalismus schien uns überwältigt zu haben. Und plötzlich (ist das eine Überraschung?) marschieren mehrere Millionen Menschen auf der Straße, um dem Aufruf der Gewerkschaftsorganisationen zu folgen. Aber jetzt kommt’s: Wir marschieren und gehen nach Hause.

Die Bewegung ist massenhaft, aber so ritualisiert, dass sie wie ein schlechtes Remake erscheint. Am Abend kommt man zurück und fragt sich, ob man nicht seine Zeit verschwendet: ob man nicht nur so tut, als ob, ob man die Revolte nur spielt. Aber man muss dabei sein, man spürt es, es drängt in uns. Doch unser unverwüstlicher Skeptizismus weist uns darauf hin, dass das Ergebnis, egal ob Sieg oder Niederlage, nur eine Rückkehr zur Normalität wäre. Unsere streitlustige Gemütslage sieht nur eine objektive Allianz zwischen der CGT und der Regierung, jeder in seiner Rolle, um jegliche Ausschreitungen einzudämmen und die revolutionäre Bewegung abzuwehren. Unser Optimismus besteht darauf, dass die Zahl der mobilisierten Menschen beeindruckend ist, sicher in den großen Städten, aber vor allem in den Ecken Frankreichs, wo man schon lange nicht mehr so viele Menschen auf der Straße gesehen hat. Ja, es gibt eine Masse, aber eine sehr disziplinierte und träge Masse. Und der Vergleich mit einer Bewegung wie den Gelbwesten ist schmerzhaft. Und wenn es einen cortège de tête an der Spitze gibt, ist es eher eine Ansammlung von Köpfen, eine individuelle Ansammlung, ein Haufen vor dem gewerkschaftlichen Haufen, ein kleines Ritual im großen Ritual. Wir sind zu ungeduldig, zu spontan, wir verlangen Neues, Unerhörtes, ohne die Anstrengung dafür zu wollen. Zu romantisch, nicht strategisch genug. “La zbeulification” (a) muss man sich verdienen, sie muss vorbereitet werden. Unser historischer Scharfsinn sieht zu sehr die große Geste der Rückkehr der Gewerkschaften, der großen reformistischen parlamentarischen Koalition, der Wiedergeburt der Linken. Und dann die Renten, wer interessiert sich schon für die Renten? Unser marxistischer, zweiter Sinn möchte entgegnen, dass man im Gegenteil gegen diese Arbeitsverwertung kämpfen muss, sie ist der Kern des Reaktors der Disziplinierung der Welt und ihrer Kommerzialisierung. Und dass all dies tatsächlich über die Rentenfrage hinausgeht. Das ist all das, was sich in uns zusammenbraut: desillusionierte und höhnische “Ich habe schon anderes gesehen”-Skepsis (die Trennschärfe des Aktivisten) und Optimismus der Praxis, der in jeder Situation eine Stärkung der Revolution einfordert (der Glaube des Aktivisten).

Ein Versuch, die Situation zu klären, ist angesichts der Tatsache, dass der Konflikt zweifellos andauern wird, notwendig, indem wir einige Vorschläge machen.

DIE BEWEGUNG IST IN DEN FÄNGEN DER GESCHICHTE GEFANGEN, UND ALS SOLCHE MUSS MAN SIE BEGREIFEN

In Anlehnung an die Unterscheidung von Furio Jesi kann man grob zwei Arten von politischen Ereignissen unterscheiden: die Revolution und die Revolte [1]. Diese Unterscheidung beruht weder auf der objektiven Natur dieser beiden Ereignisse (Revolution und Revolte sind beide aufständisch) noch auf der Zielsetzung der Subjekte (beide sind mehr oder weniger freiwillige Handlungen, die unterschiedslos auf die Übernahme der Macht oder ihre Absetzung abzielen können). Was die Revolte von der Revolution unterscheidet, ist die Erfahrung der Zeit, die man mit ihr macht. In der Revolte gibt es eine Aufhebung der historischen Zeit, während im Gegensatz dazu die Revolution in die historische Zeit eingefügt ist. Ereignisse revolutionärer Art sind Ereignisse, bei denen die Handlungen gemäß einem langfristigen strategischen Ziel ausgerichtet sind. Anders gesagt, es findet eine Abstimmung von Mitteln und Zwecken statt, die eine kontinuistische Zeitvorstellung voraussetzt: Was ich heute tue, hilft mir, die Revolution von morgen vorzubereiten und aufzubauen. Die Revolte ist ein Vorpreschen und eine Aufhebung der historischen Zeit: Der Kampf während der Revolte ist ein Kampf auf Leben und Tod, bei dem das Morgen keine Rolle spielt. Die Revolte ist ein hellseherisches Phänomen: Sie bringt die nackte Wahrheit des Kampfes auf Leben und Tod ans Licht, die normalerweise vom Spektakel überdeckt wird, sie beschwört ein Übermorgen einer klassenlosen Welt herauf. Die Revolte ist im Allgemeinen eine Zwischenzeit, die zusammenfällt und die normale Zeit, die Zeit der Herrschaft, unberührt lässt, auch wenn sie sich zu einer Revolution hin entfalten kann [2].

Diese beiden Polaritäten von Ereignissen ermöglichen es, zwischen der Gelbwestenbewegung und der aktuellen Bewegung zu unterscheiden und sie zu akzentuieren. Die Gelbwestenbewegung zielte auf die Aufhebung der historischen Zeit ab. Diese Bewegung wird uns nicht aus der historischen Zeit herausführen. Wir müssen sie daher so nehmen, wie sie ist, sie als Moment nehmen, um die Kräfte und Bedingungen der Revolution wachsen zu lassen. Es nützt nichts, an einer Bewegung zu verzweifeln, die keine Revolte darstellt. Eine Situation zu begreifen, die in der historischen Zeit gefangen ist, erfordert dann, die Beziehung zu ihrer Vergangenheit und die realen Möglichkeiten, die sie hervorbringen kann, zu verstehen.

ES IST OFFENKUNDIG, DASS 2020 EINE POLITISCHE SEQUENZ ZU ENDE GING

Rückblickend waren die vier Jahre nach 2016 eine Sequenz von (weltweiten) Kämpfen mit einem Anwachsen des Antagonismus auf beiden Seiten: Der Bürgerkrieg war nicht mehr unterschwellig, sondern trat immer mehr ans Tageslicht. Zwischen jedem Moment des Kampfes (2016, 2017 …) und jedem separaten Raum des Kampfes (Feminismus, Ökologie usw.) gab es einen kumulativen dialektischen Prozess und gegenseitige Transformationen. Die Sequenz endet in Frankreich mit dem Streik gegen die Rentenreform. (b) Wenn nun diese neue Sequenz mit der gleichen Art von Reform eröffnet wird, liegen die Dinge offenbar ganz anders. Im Vergleich zu 2019 wird die Streikbewegung nicht von einem bestimmten Sektor angestoßen (2019 vom Transportwesen, der RATP und der SNCF) (c). Der Impuls eines Sektors gibt eine Tonalität vor, die die Gewerkschaftsführungen zwingt, sich zu positionieren, das Schicksal der Aktionstage wird in den Kampf-Belegschaftsversammlungen entschieden und nicht einfach zwischen den Häuptlingen von “l’intersyndical”. (d) Im Moment ist es “l’intersyndical” und ihre Einheit, die die Bewegung anführt. Es ist klar, dass es ohne mindestens einen entscheidenden Sektor, der stark mobilisiert wurde und sich im unbefristeten Streik befindet, keine Ausbrüche aus dem Inneren der Gewerkschaften geben wird. Was im Vergleich zu 2019 am auffälligsten ist, ist, dass es viel einfacher schien, sich zu organisieren. Es gab ein Schwärmen von Banden, die es gewohnt waren, sich gemeinsam zu organisieren. Heute scheinen die Banden viel seltener zu werden. Der passendste Vergleich, um die aktuelle Bewegung zu verstehen, scheint 2016 zu sein, als alles von einem Organisationsraum (MILI) (e), einem Begegnungsraum (nuit debout) und einem Impuls durch die Oberschüler für das, was zum cortège de tête wurde, ausging. Man muss den Faden wieder aufnehmen, neu beginnen und dabei die vergangenen Hypothesen, die sich als unwirksam erwiesen haben, ausräumen.

ZUMINDEST EINE KAMPFSEQUENZ WIEDER ERÖFFNEN, INDEM MAN KRÄFTE SAMMELT

Den Faden wieder aufzunehmen bedeutet, das Ende einer Sequenz zur Kenntnis zu nehmen, das Ende der Gewohnheiten zur Kenntnis zu nehmen und von der Idee auszugehen, dass es eine neue Sequenz gibt, die sich etabliert. Es ist nicht alles verloren, aber es gibt viel wieder aufzubauen: Sich zu organisieren ist nicht mehr selbstverständlich. Das Mindeste, was wir für unser Lager anstreben müssen, ist, die Zahl der Begegnungen zu erhöhen, die Kampfsequenz von 2016 an die neuen Generationen weiterzugeben und die organisatorischen Strukturen wieder aufzubauen. Wie auch immer das Ergebnis der Reform ausfallen wird, wir müssen unsere Kräfte so weit wie möglich stärken. Wie 2016 beweist, gibt es Niederlagen, die mächtig machen! Und wie 2010 beweist, gibt es massive Bewegungen auf der Straße, die nichts bringen und alle zukünftigen Möglichkeiten für lange Zeit abwürgen. Mit anderen Worten: Was unserer Meinung nach für das Engagement des revolutionären Lagers im gegenwärtigen Kampfmuster ausschlaggebend sein sollte, ist nicht die Verfolgung der Symbole der Revolte oder die Wahrscheinlichkeit eines Sieges der sozialen Bewegung, sondern sich zu engagieren, um sich eine Chance für die Zukunft zu geben.

RÄUME ÖFFNEN, UM WIEDER ZU LERNEN, SICH ZU ORGANISIEREN

Diese Gewohnheiten der Selbstorganisation neu zu schaffen bedeutet, Räume zu öffnen, um sich zu organisieren. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, es gibt Betriebsversammlungen, Nachbarschaftsversammlungen, es gibt Besetzungen, die sich halten, Diskussionen in der Kälte einer Blockade etc. Die Leute müssen sich verschwören und dazu müssen sie sich treffen. Wenn es etwas gäbe, was diese Bewegung verändern würde, dann wäre es, dass überall ‘maisons du peuple’ eröffnet werden.

DIE DEMONSTRATION NICHT FETISCHISIEREN

Die Medien messen die Bewegung nur an der Zahl der Demonstranten und der zerbrochenen Schaufensterscheiben. Wenn man eine ruhige Demo erlebt, wird man von den Medien gelobt und in den Redaktionsräumen wird sogar die Frage gestellt: “Sind die schwarzen Blöcke bei Demonstrationen aus der Mode gekommen?” Auch wenn es offensichtlich ist, dass wir das Angriffsniveau anheben und über den Rahmen der ritualisierten Demonstration hinausgehen müssen, darf das, was dort geschieht, nicht das sein, was uns erlaubt, diese Bewegung zu beurteilen. Die Demo ist nur eine ritualisierte Darstellung der Kräfteverhältnisse, die sich in der Tiefe konstituieren, sie ist nur die Folge der kleinen Verschwörungen im Hinterzimmer. Was heute wichtig ist, spielt sich nicht in den Demonstrationen ab, sondern gestern auf den Kreisverkehren, hier in den Streik-Vollversammlungen usw.. Was wir brauchen, ist eine Vervielfachung der Treffpunkte, der Transmissionspunkte und ausgehend von diesen Räumen neue Dinge zu erfinden. Es bedarf also einer Vielfalt an Aktionsformen, die über die einfache Gewerkschaftsdemonstration hinausgeht.

AUF ANDERE FEINDE ABZIELEN

Wenn man über die einfache Rentenfrage hinausgehen und die gesamte Rechnung dieser traurigen Welt auf den Tisch knallen will, können Macron und seine Reform nicht die einzigen Ziele sein. Eine Form der Erfindungsgabe wäre es auch, andere Ziele zu erklären, die mit der Erhöhung der Arbeitszeit in Verbindung stehen. In Marseille wurde während der Demo zum Beispiel der MEDEF (f) zugemauert. Alles zu bekämpfen, was uns zwingt, uns ausbeuten zu lassen, bedeutet auch, auf das zu zielen, was immer teurer wird und uns zwingt, mehr zu arbeiten.

DIE SPALTUNG SPALTEN

Wenn die Form der Demonstration sklerosiert ist, liegt das auch daran, dass die derzeitige Aufteilung der Demonstration in einen cortège de tête und eine Gewerkschaftsdemo nicht mehr interessant ist. Es geht darum, die Gewerkschaften zu “infizieren” und zu “giletjaunisieren”. Wir fangen nicht bei Null an, einige Dinge sind seit der letzten Reform eingeflossen, wie wenn der SUD-Sprecher nach einer Polizeiattacke “Jeder hasst die Polizei” singt. Aber noch einmal: Es ist vor allem in den Räumen außerhalb der Demonstration, in denen die Begegnungen stattfinden müssen. Die Trennung z. B. zwischen ‘interpro’- und autonomen (g) Versammlungen ist unbefriedigend. Mehr als die Unterstützung von Blockaden sind gemeinsame Aktionen außerhalb der Demonstrationen zwischen schwarzen Kways und roten Shirts notwendig. Ohne sich Illusionen darüber zu machen, was die gewerkschaftlichen Institutionen sind, geht es darum, mit all jenen zu denken und zu handeln, die sich nicht mit dem einfachen rituellen Aufmarsch zufrieden geben.

ZUM QUALITATIVEN SPRUNG UND DARÜBER HINAUS

Das Quantitative (die Masse) dem Qualitativen (die Laxheit oder Offensivität der kämpfenden Individuen) gegenüberzustellen, ist eine Fehlinterpretation. In der guten alten Hegelschen Dialektik sind es nur lokalisierte quantitative Veränderungen, die eine globale qualitative Veränderung bewirken. Die revolutionären Kräfte wachsen zu lassen, ist nur durch eine lokalisierte Vermehrung dieser Kräfte möglich. Überall, wo wir sind, müssen wir uns weiterhin treffen, organisieren und die Offensive verstärken.

Fußnoten des Originaltextes

[1] Hier seine Worte: “Wir verwenden den Begriff Revolte, um eine aufständische Bewegung zu bezeichnen, die sich von der Revolution unterscheidet. Der Unterschied zwischen Revolte und Revolution liegt nicht in den Zielen des einen oder anderen; beide können das gleiche Ziel haben: die Macht an sich zu reißen [oder sie abzusetzen]. Was den Aufstand grundlegend von der Revolution unterscheidet, ist eine unterschiedliche Erfahrung von Zeit. Wenn man sich auf die gängige Bedeutung der beiden Begriffe stützt, ist die Revolte ein improvisierter aufständischer Ausbruch, der zwar in ein strategisches Projekt eingebettet sein kann, aber an sich keine Strategie koordinierter aufständischer Bewegungen beinhaltet, die über einen relativ langen Zeitraum auf definierte Ziele ausgerichtet sind. Man könnte sagen, dass der Aufstand die historische Zeit aussetzt und plötzlich eine Zeit einführt, in der alles, was sich vollzieht, als solches gilt, unabhängig von den Folgen und Beziehungen zu der Gesamtheit der Phänomene mit vorübergehendem oder dauerhaftem Charakter, die die Geschichte definieren. Die Revolution wäre dagegen vollständig und bewusst in die historische Zeit eingetaktet”. (S. 91) Diese erste Definition wird durch die Untersuchung des Falls des Spartakusaufstands ergänzt.

[2] Es ist offensichtlich, dass diese Unterscheidung dialektisch gedacht werden muss, die richtige Frage des Revolutionärs ist die nach der richtigen Zeit, das heißt, nach der Artikulation von Revolte und Revolution.

Fußnoten der Übersetzung 

  1. Der Begriff Zbeulification, der vom maghrebinisch-arabischen Wort zbèl (“Müll”) abgeleitet ist, wurde 2005 in Frankreich während der Vorstadtunruhen geprägt und bezeichnet die absichtliche Herbeiführung öffentlicher Unruhen. Der Begriff wurde später von anderen aufständischen Bewegungen vereinnahmt. 
  2. Die von Macron geplante “Rentenreform”, u.a. mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wurde 2020 wegen der Corona Pandemie auf Eis gelegt. 
  3. Gemeint sind die Beschäftigten der staatlichen Eisenbahngesellschaft sowie der Pariser Nahverkehrsgesellschaft
  4. Koordinierungsgremium der großen französischen Gewerkschaften
  5. Mouvement Inter Luttes Indépendant, ein Interview auf deutsch mit diesen jungen Rebellen findet sich in dieser Textsammlung zu den Unruhen von 2016 ab Seite 16 https://linksunten.archive.indymedia.org/system/files/data/2016/09/1694821868.pdf
  6. Arbeitgeberverband
  7. ‘interpro’, gemeint ist die übergreifende Zusammenarbeit von Mitgliedern unterschiedlicher Gewerkschaften

Dieser Text wurde an Lundi Matin gesandt und erschien in der Ausgabe vom 6. Februar 2023, also noch vor dem Streik – und Aktionstag vom 7. Februar, der die Notwendigkeit dieser Ausführungen erneut bestätigte.