Camila Jourdan
Heute, am 20. Juni, wird es 10 Jahre her sein, dass rund 1 Million Menschen in der Innenstadt von Rio de Janeiro auf die Straße gingen und von der Polizei brutal angegriffen wurden. Ein historischer Tag im brasilianischen Kampf des Volkes, an dem die aufständische Bevölkerung das Symbol des Todes in den Favelas auf der Avenida Presidente Vargas zurückschlug: den “Caveirão”, ein gepanzertes Polizeifahrzeug, das mit Stöcken und Steinen angegriffen wurde. Das werden wir nie vergessen.
Um an dieses historische Datum der Volksbewegungen in Rio und Brasilien zu erinnern, veröffentlichen wir hier einen Auszug aus dem Text “Was ist 2013 eigentlich passiert?” aus dem Buch von Camila Jourdan, Professorin für Philosophie an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro, “2013 – Erinnerungen und Widerstandsbewegungen“
(Vorwort Media 1508)
Im Jahr 2013 erlebten wir in Brasilien einen Volksaufstand, einen Aufstand, wie so viele, die in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten der Welt stattfanden: Wall Street, Griechenland 2008, Seattle. Die Merkmale dieser Volksaufstände sind im Allgemeinen: organisatorische Horizontalität; die Ablehnung des institutionellen Weges und des Reformismus der Parteilinken; eine ausdrückliche Aufwertung des Anarchismus und der Werte, die historisch mit der libertären Tradition verbunden sind, unter denen die Suche nach direkter politischer Beteiligung hervorsticht; die Ablehnung von Hierarchien und die Ablehnung des repräsentativen Paradigmas. Das Jahr 2013 zu verstehen bedeutet, unsere Zeit zu verstehen, und es ist von grundlegender Bedeutung, dass wir unsere eigene Geschichte erzählen können. Gegenwärtig können wir in den diskursiven Auseinandersetzungen darüber, was 2013 bedeutet hat, noch einige Deutungsmuster erkennen.
Die erste wird von der PT und ihren Verbündeten verteidigt, die 2013 als eine von der Rechten grundlegend manipulierte Bewegung betrachten, die der Vorbereitung des Putsches gegen die PT diente und sie daher negativ bewertet. Die zweite wird von den Ultraliberalen vertreten, die versuchen, die politische Bedeutung der Straßenaktionen zu entleeren, indem sie sie mit “reinem leerem Vandalismus” oder sogar mit “terroristischen Aktionen” in Verbindung bringen, wobei einige sogar behaupten, dass diese Vandalen von der PT selbst bezahlt wurden. Neben diesen beiden disqualifizierenden Lesarten gibt es zwei mögliche Interpretationen im Zusammenhang mit der institutionellen Linken. Die eine ist positiv, weil sie davon ausgeht, dass die Kritik an der PT-Regierung die Chancen auf einen Wahlsieg oder ein Wachstum der linken Parteien erhöht, aber sie wird in dem Maße negativ, in dem es diesen Parteien nicht gelingt, den Prozess zu lenken, was ihre Entfremdung von der Bevölkerung deutlich macht. Es gibt auch faschistische Gruppen, die ebenfalls die Angriffe auf die Institutionen und das Kapital auf der Straße kritisieren und im Jahr 2013 zu einer militärischen Intervention aufrufen.
Die Lesart, die wir hier vorschlagen, weicht von all diesen Einschätzungen ab und stellt sich gegen sie und nähert sich einer aufrührerischen Wahrnehmung von 2013. Im Jahr 2013 gingen Tausende im ganzen Land auf die Straße und forderten echte soziale Transformationen. Wir sahen die Ausbreitung von Rebellion, Empörung, Revolte, Hass auf den repressiven Staat, den Kampf um Gesundheit, Wohnraum und Bildung, die direkte Konfrontation mit dem Kapitalismus, mit dem Monopol des öffentlichen Verkehrs, den Angriff auf die Banken und den Widerstand gegen Agenten des Staates und andere Repressionsorgane. Dies war auch, und vielleicht vor allem, das Jahr, in dem die Taktik des Schwarzen Blocks in Brasilien aufkam.
Diese Taktik trug dazu bei, den Protesten auf der Straße eine Stimme zu geben, eine radikale Kritik am System zum Ausdruck zu bringen und ihre Fähigkeit zu stärken, sich gegen die Angriffe der Polizei auf die Bevölkerung zu wehren. Diese Taktik, die bereits an vielen Orten der Welt bekannt war, entstand hier inmitten der Juni-Proteste und ermöglichte es den Menschen, die tagtäglich von der Waren-Maschinerie gegeneinander ausgespielt werden, sich auf der Straße als gleichberechtigt zu erleben und vereint auf die Gewalt zu reagieren, die dem täglichen Leben in den Städten innewohnt und die für die Aufrechterhaltung dieser ungleichen Gesellschaft grundlegend ist. Um zu lernen, Widerstand zu leisten, das Monopol der staatlichen Zerstörungsgewalt in Frage zu stellen und die Menschen selbst und den Staat, der sie unterdrückt, daran zu erinnern, woher ihre Macht stammt. Und es gab Tausende von jungen (oder nicht mehr ganz so jungen) Menschen, die mit improvisierten Schilden, Masken oder was auch immer sie finden konnten, Widerstand gegen die Polizeigewalt leisteten.
Der Aufstand im Juni war geprägt von einer massiven Beteiligung der Bevölkerung, von Menschen, die noch nie zuvor an einer Demonstration teilgenommen hatten, von Leuten, die auf der Straße lebten, von Schwarzen aus den Außenbezirken der Großstädte, von Feministinnen, Schwulen, Lesben…
Es handelte sich nicht um eine Bewegung der weißen Mittelschicht, wie die Mainstream-Medien zu behaupten versuchten. Es war auch keine Bewegung, die hauptsächlich aus “entfremdeten Menschen” bestand, die nicht wussten, wofür sie kämpften, wie ebenfalls behauptet wurde. Der Juni 2013 war noch nicht “der Beginn des Putsches”, wie uns der hegemoniale Medienapparat der parteipolitischen Linken weismachen will. Das Volk weiß sehr wohl, was es unterdrückt, und es ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass kein aufgeklärter Intellektueller ihm das sagen muss.
Das Ziel der Volksrevolte waren die Agenten ihrer tagtäglichen Unterdrückung: Busse, Bankfilialen, Paläste der Macht, die gesetzgebende Versammlung, Fahrzeuge des manipulativen Medienmonopols, Polizeiautos. Schon seit langem wird die Favela niedergebrannt, wenn die Polizei ein Kind tötet, und die Menschen zünden Busse und Züge an, wenn der ohnehin schon prekäre Verkehr gerade noch rechtzeitig zusammenbricht, um nach Hause zu kommen. Niemand muss jemandem eine Revolte beibringen. Aber was dieses Mal gefunden wurde, war die Sichtbarkeit der Straße. Es war nicht möglich zu sagen, dass der Aufstand von Drogenhändlern inszeniert wurde, es war nicht möglich, die politische Dimension des Aufstandes zu leugnen, ein großer Teil der Bevölkerung war dabei, sah ihn. Die Macht des Juni bestand darin, dass die Sichtbarkeit der Straße – wo die Kugeln in den meisten Fällen Gummigeschosse sind – mit einer gewissen “Demokratisierung” der staatlichen Gewalt für Teile der Bevölkerung zusammenkam, die es nicht gewohnt waren, diese Gewalt zu erleiden.
Es handelte sich nicht um eine orchestrierte Aktion, und jeder Versuch, eine einzige konvergierende Agenda zu entwickeln, die politisch leer war und den Klassenkampf beschwichtigen würde, wurde von den Straßen zurückgewiesen. In diesem Sinne war die Vielfalt der Agenden und der diffuse Charakter eine weitere Stärke der Bewegung, es war eine ganze Lebensweise, die abgelehnt wurde. Nicht, dass die Feinde nicht konkret und identifizierbar gewesen wären, aber es gab keinen Reformismus, keine spezifische Forderung, die einfach erfüllt werden konnte, so dass die gesamte Struktur so blieb, wie sie war, und somit der Aufstand gestoppt wurde. Dies war der Grund, warum der Bewegung so oft vorgeworfen wurde, utopisch und unkonkret zu sein, aber es war ihre Stärke und ihre Identität. Vielleicht haben wir zum ersten Mal wirkliche und radikale Veränderungen gefordert, die ohne strukturelle und konkrete Veränderungen nicht möglich waren. Und das Aufbrechen des Informationsmonopols, das durch das Internet möglich wurde, erlaubte es, die Bilder direkt zu zeigen. Das Volk, die Gesellschaft, übernahm die Rolle des historischen Subjekts, die Bevölkerung beteiligte sich an der Bearbeitung der Geschichte, sie war nicht nur Zuschauer. Das Internet schafft natürlich keine soziale Bewegung. Im Gegenteil, es erscheint als eine weitere Form der Kontrolle und des Kommerzes, aber es kann angeeignet werden, es kann auch ein Instrument des Kampfes sein. Die Kommunikation wurde vernetzt und hat sich exponentiell verbreitet. Digitale Medien und soziale Netzwerke haben auch dazu beigetragen, die ständige Desinformation der bürgerlichen Presse zu widerlegen.
Wir dürfen nicht übersehen, wie wichtig die Entwicklung von Technologien ist, die noch nicht vollständig vom Staat kontrolliert werden und die die Schaffung von befreiten Territorien, von autonomen virtuellen Zonen ermöglichen. Und diese offenen Brüche haben es ermöglicht, dass sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung im ganzen Land ausbreiten konnte. Darüber hinaus dürfen wir nicht die Beteiligung der Arbeiter vergessen, die Streiks, die nicht institutionalisiert waren und von der Basis unabhängig von den Gewerkschaftsvertretungen durchgeführt wurden, und die die Jahre 2013/2014 prägten. Radikalisierte Streiks, die von Lehrern, Busfahrern und Müllmännern durchgeführt wurden, haben die Stadt zum Stillstand gebracht, Forderungen vereinheitlicht und wurden vom Staat massiv unterdrückt und kriminalisiert.
Aber die tagtägliche Gewalt war schon vorher da. Die kapitalistischen Konzerne und Finanzinstitutionen sowie der Staat, der diese Konzerne vertritt und dazu dient, die Menschen zum Schweigen zu bringen, erzwingen eine Situation des permanenten Krieges. In jüngster Zeit ist die Offensive durch die für Mega-Events erforderlichen Städteprojekte noch deutlicher geworden: Umzüge; Räumungen; Schulschließungen; Befriedungsprojekte in Favelas; Massaker; „Demokratisierung“ eines Teils der bereits vorherrschenden Gewalt in den Slums und Vororten auch für die städtischen Zentren der Mittelschicht; Megaprojekte wie Belo Monte; zunehmende Gewalt auch auf dem Lande; Vorstoß auf indigenes Land; Gentrifizierung im Allgemeinen; Anstieg der Lebenshaltungskosten mit Anreiz zur Aufrechterhaltung des Konsums, was zu einer enormen Verschuldung der Bevölkerung mit gigantischen Zinssätzen führt; Notstandsgerichte; Aussetzung des Demonstrationsrechts; Aussetzung des Rechts zu kommen und zu gehen…
Der Staat hat kein Problem mit der Anwendung von Gewalt, im Gegenteil, er beansprucht das Recht auf sein Monopol. Wenn das nicht der Fall wäre, was wäre dann mit Pinheirinho, den Militärstützpunkten in den Favelas, den Brandstiftungen, Belo Monte, den überfüllten Gefängnissen? Eine entscheidende Episode in Rio de Janeiro war die Räumung des Viertels Maracanã. An diesem Tag griffen die Menschen nach dem zügellosen Einsatz von Polizeigewalt die Polizeiautos vor der Alerj (Assembleia Legislativa do Rio de Janeiro, d.Ü.) mit Kokosnüssen an – dieselbe Alerj, die einen Monat später von der Bevölkerung mit Steinen und Stöcken gestürmt werden sollte. In diesem Zusammenhang diente dann eine Fahrpreiserhöhung als Wassertropfen, um die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Überlaufen zu bringen, aber davor war der Hauptauslöser die Räumung des Viertels Maracanã und der darauf folgende Widerstandskampf. In Rio de Janeiro war es nicht die ‘Freifahrtschein’-Bewegung, die Millionen auf die Straße brachte, und auch nicht in São Paulo (obwohl sie zu Aktionen aufrief, die sich später massenhaft verbreiteten). Es war ein völlig anderer Kontext, aus Gründen, die schon vorher existierten, die sich aber in diesem beispiellosen sozialen Aufruhr in unserer Gesellschaft zugespitzt haben. Zum ersten Mal wurde die Manipulation durch die herrschenden Oligarchien durchbrochen, im Gegensatz zu dem, was bei “Fora Collor” geschah (Bewegung, die 1992 die Amtsenthebung des Präsidenten Fenando Collor de Melo forderte, d.Ü.). Vielleicht haben wir zum ersten Mal wirkliche Veränderungen gefordert, die mit der derzeitigen gesellschaftlichen Struktur nicht erreichbar wären.
Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch durch Bonustracks. Der Originalartikel erschien bei MIDIA 1508.