Über die Gewalt in einem Zeitalter der Katastrophe

pablojimenezc

In den letzten Tagen wurde behauptet, dass Revolutionen ungezügelt sind, dass sie per definitionem gewalttätig sind, dass die Entkolonialisierung sich des Terrorismus bedienen muss usw., um die wahllose Tötung und Entführung von Zivilisten zu rechtfertigen – die ansonsten charakteristische Methoden der Todesschwadronen von Drogenhändlern und Staaten sind. Es gibt Personen und Gruppen, die diese Kritik daran mit einer Verteidigung des Staates Israel oder mit dem sentimentalen Moralismus der Krokodilstränen der westlichen Presse verwechseln. Im Gegenteil, es geht darum, darauf hinzuweisen, dass die wahllose Tötung von Zivilisten eine Reproduktion der kapitalistischen Form der Gewalt ist und dass nichts Emanzipatorisches auf der Grundlage einer Aktion wachsen kann, die die Opfergewalt der Marktordnung verewigt.

Darüber hinaus sind die Hamas und ihre dschihadistischen Verbündeten ein echtes Produkt des Völkermords an den Palästinensern, der vom israelischen Staat verübt wird, sie sind politisch-militärische Akteure, die zu seiner Aufrechterhaltung beitragen: genau wie viele Statthalter des Kapitals in der Region. Aus diesem Grund hat Netanjahu – der unbestrittene Führer der offen völkermordenden Fraktion der israelischen Bourgeoisie – in erster Linie die Etablierung der Hamas als politische Autorität in Gaza unterstützt.

Der Massenmord der letzten Tage, bei dem Tausende von Menschen – vor allem Frauen, Kinder und Kranke – durch Bombardierung, Verhungern oder fehlende medizinische Versorgung getötet wurden, ist der eklatanteste Beweis für den Nutzen, den die Hamas für die regionalpolitischen Ziele des Staates Israel erbracht hat. Man muss nicht nur anerkennen, dass es das westliche neoimperiale Kapital ist, das seinen eigenen Terror erschafft – Al-Qaida hätte ausreichen müssen, um dieses Diktum als unbestreitbare historische Maxime zu bestätigen -, sondern auch, dass dieser Terror funktional für die Aufrechterhaltung des Kapitals und seiner Vernichtungslogik ist.

Die Gewalt der Hamas – einer Bewegung, die von der despotischen theokratischen und kapitalistischen iranischen Bourgeoisie finanziert, unterstützt und bewaffnet wird und die Kommunisten, Anarchisten, Frauen und die Zivilbevölkerung im Allgemeinen, die sich gegen ihr Terrorregime auflehnte, massakriert hat – ist keine Gewalt zur Befreiung des palästinensischen Volkes, auch wenn sie sagen, dass dies ihr offenkundiges Ziel ist – man müsste auch fragen, worin genau diese sogenannte Befreiung denn besteht. Es handelt sich um die Gewalt einer dschihadistischen Truppe, die als bewaffneter Flügel auf die konkreten geopolitischen Interessen eines neoimperialistischen Lagers reagiert, das dem alten-neuen westlichen Imperialismus im Rahmen der Systemkrise der kapitalistischen Zivilisation gegenübersteht. Es war klar, dass der Angriff vom 7. Oktober eine verschärfte völkermörderische Antwort des Staates Israel provozieren würde, ebenso wie es klar war, dass die Hauptopfer aus der Zivilbevölkerung kommen würden, die heute ausgehungert und mit weißem Phosphor zu Tode bombardiert wird. Bedeutet dies, dass die Bevölkerung in Gaza ruhig dahinvegetieren und ihre langsame Eliminierung und Zwangsumsiedlung in einer Nakba [Katastrophe] erwarten sollte, die sich seit Jahrzehnten entfaltet? Natürlich nicht, es bedeutet, dass die Gewalt, die das palästinensische Volk von einem täglichen Regime der Apartheid und des völkermörderischen technischen Terrors befreien kann, der Gewalt des islamischen Dschihadismus radikal entgegengesetzt ist.

Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine ideale Gewalt in den Köpfen der Gesellschaftskritiker – und schon gar nicht um einen Appell an eine ideale Moral, wie der Kampf sein sollte -, sondern um eine reale Potenzialität, die in allen Intifadas vorhanden war und gerade vom islamischen Dschihad unterdrückt wurde – daher Netanjahus anfängliche Unterstützung für die Hamas.

In diesem Sinne ist meine Position zur Gewalt im Kampf für unsere Befreiung in der heutigen Zeit ganz einfach: Emanzipatorische Gewalt ist diejenige, die die Grundlagen des kapitalistischen Gesellschaftssystems in Aktion kritisiert – das heißt, sie ist eine Gewalt, die auf die Abschaffung der historisch determinierten sozialen Beziehungen gerichtet ist, die das gesamte Gebäude der kapitalistischen Zivilisation tragen. Diese besondere Qualität der Gewalt existiert gegenwärtig innerhalb der kapitalistischen Zivilisation als Ergebnis ihres eigenen widersprüchlichen Charakters, sie ist ein reales Potenzial, das sich in einer Reihe von zeitgenössischen globalen Revolten ausgedrückt hat, die durch die Entfaltung ihrer widersprüchlichen sozialen Praxis die grundlegenden Merkmale des Potenzials der Negation und Subversion der kapitalistischen sozialen Beziehungen ankündigen, das sich in den sozialen Kämpfen des 21. Jahrhunderts entfaltet.

Deshalb ist die Frage, ob Gewalt bejaht wird oder nicht, eine hohle Frage, die auf dem Terrain der verdinglichten bürgerlichen Logik gestellt wird. Dies ist das Terrain, auf dem sich die verschiedenen nationalistischen, leninistischen, dschihadistischen usw. Guerillas im Allgemeinen bewegen, aber es ist auch das Terrain, auf dem sich ihr komplementäres Gegenüber bewegt: der kapitalistische Staat und seine bewaffneten Arme. Die eigentliche Frage ist: welche Gewalt?

In dieser Hinsicht ist die Warenkritik, die Kritik an den gesellschaftlichen Grundformen des Kapitals, der eigentliche Alptraum der herrschenden Klassen, denn ihr gegenüber ist die konventionelle Waffengewalt nutzlos. Der Aufstand von 2019 in Chile beispielsweise begann konkret mit der Hinterziehung von Fahrpreisen für öffentliche Verkehrsmittel; es war diese Kritik in Taten, die den Ausbruch des allgemeinen Aufstands ermöglichte und gegen die der Staat zunächst machtlos war. In der Tat hat der Neoreaktionär Alexis López Tapia – der eine berüchtigte Ausbildung für die chilenische und kolumbianische Armee absolvierte – seinem Buch De la evasión a la insurrección: crónica del octubre rojo den Titel gegeben, der zeigt, dass reaktionäre Sektoren die radikal aufständische Dimension und das Potenzial einer Massenbewegung manchmal deutlicher erkennen können als die fortschrittliche Linke, wenn auch auf eine notwendigerweise verzerrte und umgekehrte Weise.

Diejenigen, die sich die soziale Emanzipation als Ergebnis einer Konfrontation zwischen zwei Armeen vorstellen, sind völlig in die kapitalistische Vorstellungswelt verstrickt. Sie sind leninistisch und autoritär in Theorie und Praxis, auch wenn sie das ignorieren oder sich einbilden, genau das Gegenteil zu sein, denn sie lösen das Problem der sozialen Emanzipation auf demselben Terrain wie Lenins bekanntes Was tun: die Injektion von Bewusstsein von außen, die Schaffung eines professionellen politischen und militärischen Apparats, die Organisation eines bewaffneten Aufstands mit dem Ziel der Übernahme der Staatsmacht usw.

im Gegensatz dazu benötigte die chilenische Revolte von 2019 – die keine zentralisierte Führung hatte – nicht mehr als Steine, Stöcke und Benzin, um ihr radikales Potential zu untermauern. Vielmehr war es die Aufstandsbekämpfungsstrategie des chilenischen Staates, die die Konterrevolution als Konfrontation zwischen den Massen und der Polizei an bestimmten, abgegrenzten geografischen Orten organisierte. Ziel dieser staatlichen Aufstandsbekämpfung war es, die anfängliche Allgegenwärtigkeit der Revolte zu verhindern und ihre anfängliche radikale Praxis zu unterdrücken, indem sie in der Konfrontation auf dem Terrain des Staates, d. h. in der Konfrontation zwischen den Massen und der Polizei auf der Grundlage physischer Gewalt, wieder aufgegriffen wurde. Auf diese Weise verlor die Bewegung der Revolte die radikale praktische Dimension, die den Bruch mit der abstrakten Zeit des Kapitals aufrechterhielt – den Bruch mit der Zeit der Herrschaft, in der wir glaubten, Geschichte zu machen. Das bedeutet nicht, dass wir die Konfrontation mit der Polizei aufgeben müssen, sondern dass wir sie auf dem einzigen Terrain konfrontieren müssen, auf dem wir einen wirklich emanzipatorischen Sieg erringen können: das heißt auf dem Terrain der praktischen Infragestellung der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft.

 Die Weigerung, für die Metro zu bezahlen und sie massenhaft umsonst zu nutzen, war eine wirklich subversive Praxis, denn sie hatte das Potenzial – und die massenhaften Plünderungen zeigten dies -, sich zu einer Kritik der Ware als solcher zu entwickeln. Mit anderen Worten: Durch die Weigerung, den Fahrpreis zu zahlen, eröffnete die Bewegung für die Schwarzfahrt eine historische Konstellation, die es uns ermöglichte, die materielle Möglichkeit zu erahnen, nicht mehr für das Leben zu bezahlen – eine Möglichkeit, die, wie ich betone, durch den widersprüchlichen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Eigendynamik gegeben ist.

Unter diesem Blickwinkel sollte jede kritische Analyse der drei palästinensischen Intifadas erkennen, dass der Islamische Dschihad genau die Form der Unterdrückung jeglichen emanzipatorischen Potenzials im Nahen Osten ist. Al-Qaida, der Islamische Staat, die Hamas und andere Organisationen sind für die Aufrechterhaltung des westlichen Terrorismus und die Ausplünderung der arabischen Bevölkerung von großer Bedeutung – ja, diese Organisationen beuten die Bevölkerung mithilfe ihrer wirtschaftlich-militärischen Terrorregimen aus. Die radikale Praxis der Intifadas als allgemeiner Aufstand der palästinensischen Bevölkerung gegen den alltäglichen Mord, dem sie ausgesetzt ist, brauchte nicht mehr als Steine und Molotows, um die Grundfesten der terroristischen Besatzung des Staates Israel und seiner völkermörderischen Politik zu erschüttern. Ist es nicht dieselbe Bevölkerung, die seit einigen Jahren gegen die Hamas protestiert und dafür mit Repressionen überzogen wird?

Aber diejenigen, die in die Verzweiflung der Zeit eingetaucht und von der Gewalt des Kapitals geblendet sind, sind nicht in der Lage, zwischen den genannten Phänomenen zu unterscheiden. In diesem Sinne sind sie ebenso sehr Verkörperungen der täglichen Herrschaft des Kapitals und können sich keine andere Qualität der Gewalt vorstellen, die mit diesem Regime der Vernichtung durch die Anhäufung von abstraktem Reichtum brechen würde, eine Gewalt, die mit der Dynamik der Gegenseitigkeit brechen würde, die seit dem 20. Jahrhundert in eklatanter Weise gezeigt hat, dass sie die Welt in die (Selbst-)Vernichtung treibt.

Doch nur eine internationale Solidaritäts- und Protestbewegung kann die Belagerung und das Massaker an den Menschen in Gaza stoppen und die Möglichkeit eines historischen Wendepunkts eröffnen, der das Entstehen weit verbreiteter Aufstände in verschiedenen Regionen des Planeten begünstigt – gegen den globalen neoimperialistischen Krieg und die zivilisatorische Krise des Kapitalismus, die die Menschheit in den Ruin und die (Selbst-)Vernichtung treibt. Palästina kann das Vietnam unserer Zeit sein: eine Sache der internationalen Solidarität, die Menschen auf der ganzen Welt bewegt, die nach sozialer Emanzipation streben, und so große Massen von Menschen in den Aufstand gegen das Kapital zieht. Aber nur eine radikale Gesellschaftskritik, die ihre Einheit mit der realen Bewegung sucht, kann auf eine bewusste radikale Emanzipation abzielen, was eine unmissverständliche Kritik an allen möglichen und unmöglichen reaktionären Strömungen der sozialen Kämpfe in der ganzen Welt voraussetzt. Diese theoretisch-praktische Kritik, ein Moment der Selbstreflexion des allgemeinen Bewusstseins der Gesellschaft, ist die Voraussetzung für die Überwindung der Begrenzungen und Sackgassen, in denen die Kämpfe überall auf der Welt stecken, in einer Zeit, in der der Horizont der sozialen und ökologischen Katastrophe für die Mehrheit der Menschen bereits eine tägliche Realität ist.

Erschienen auf dem Blog Nec plus ultra, aus dem Spanischen übersetzt von Bonustracks.