Gigi Roggero
Wir veröffentlichen den zweiten und letzten Teil (hier der vorherige) des Gesprächs mit Gigi Roggero, mit dem der MILITANTI-Zyklus abgeschlossen wurde.
Damit kommen wir zum Abschluss eines Weges der Überlegungen, der eingehenden Analyse und der Debatte, mit dem wir sehr zufrieden waren (wir hoffen, dass dies auch für diejenigen gilt, die daran teilgenommen haben). Der Reichtum der angestellten Überlegungen lässt sich in diesen wenigen abschließenden Worten kaum zusammenfassen: die Abschriften (zu Ehren unseres verrückten ‘Transkripter’) aller vorangegangenen Reden sind der Beweis dafür. Die Absicht, die uns bei der Konzeption und Planung dieses Zyklus bewegte, war es, einen strukturierten und kontinuierlichen Moment der Schulung anzubieten, der nicht nur Selbstschulung, sondern Co-Schulung zu einem ebenso baryzentrischen wie inaktuellen – wagen wir zu sagen anthropologischen – Thema des politischen Handelns ist. Allzu oft wird es als selbstverständlich hingenommen oder unkritisch erlebt, wenn es nicht aus der subjektiven Sichtweise beschrieben wird.
“Wer ist ein Militanter? Was bedeutet Militanz – und hat sie bedeutet – und was unterscheidet sie von anderen Formen des politischen Handelns? Welche Grenzen und Reichtümer der revolutionären Erfahrungen der Vergangenheit bleiben heute (un)aktuell? Gefangen zwischen Konformismus und Ohnmacht, zwischen Identitätsbekundung und individualistischer Befriedigung, zwischen gewerkschaftlicher Organisierung und idealistischem Aktivismus, hat die militante Wahl wirklich ihr Potenzial zum Bruch erschöpft?”
Mit diesen Fragen haben wir die Tagung eröffnet, ein Versuch – auf unsere eigene Art und Weise, sehr begrenzt und sicherlich unvollständig – uns selbst zu hinterfragen und neu zu befragen (kein fertiges Rezept: alles muss konstruiert werden), aber auch die Fäden einer politischen Tradition neu zu knüpfen, Werkzeuge zu erarbeiten, um heute zu denken und zu handeln, gegen das Heute. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob uns das vollständig gelungen ist. Wir hoffen, dass es gelungen ist, etwas zu sedimentieren, oder besser gesagt zum Gären zu bringen, das jungen Banditen oder fernen Genossen, die wir noch nicht kennen, nützen kann. Was wir jedoch wissen, ist, dass wir, nachdem wir so weit gekommen sind, nicht umhin können, diese Zeilen mit einer Erinnerung an Mario (Tronti, d.Ü.) zu schließen. Unserem Mario. Einem Lehrer, einem Genossen, einem Freund, dessen Stimme, auch wenn er es nicht wusste, während dieser Reise sehr präsent war.
Bevor wir ihn vor ein paar Jahren wirklich kennenlernten, Mario, hatten wir ihn bereits getroffen: in den Büchern, die uns geprägt haben, als wir jünger waren, und die unser Leben verändert haben – zum Guten oder zum Schlechten, das wissen wir nicht: Wir wissen nur, dass wir dieses Leben gegen kein anderes eintauschen würden. Das ist es, was echte Lehrer tun, besonders die schwierigen, die wir mögen. Aber Mario hatten wir schon kennengelernt, bevor wir ihn gelesen hatten. In der unumstößlichen Wahl des Lagers, im Hass gegen diese barbarische Zivilisation, im mit dem Kampf verbundenen Wissen. In den freien Geistern, die Schulter an Schulter gegen ein Schicksal ankämpfen, das sie gerne für uns hätten, sie, die schon für uns geschrieben haben. Arbeiter und Kapital, wieder und für immer.
“Die Wahl des Lagers kommt zuerst. Die politische Entscheidung kommt vor dem Festhalten an der politischen Theorie. Ich habe schon oft gesagt, dass ich Kommunist wurde, bevor ich Marxist wurde. Das ist der einzig richtige Weg. Der Militante an der Basis bekennt sich nicht zu einer Doktrin, sondern zu einer Praxis. Der Intellektuelle geht den umgekehrten Weg”.
Das sind die Worte von Mario. Es sind die Worte eines Kämpfers. Das ist alles.
Viel Spaß beim Lesen.
(Vorwort der Veranstalter)
Frage:
Ich möchte Dich bitten, ein Detail der Genealogie, die Du gerade gemacht hast, näher zu erläutern, um sie auf einen entscheidenden Aspekt der Gegenwärtigkeit zu beziehen. Ich möchte Dich bitten, uns mehr über die Bewegung als Antwort auf den “Krieg gegen den Terror” zu erzählen, die wir zwischen 2001 und 2003 erlebt haben, ausgehend von der Überlegung, dass in einem relativ kurzen Zeitraum eine extrem breite Mobilisierung entstanden ist. Derartige so breite Antikriegsdemonstrationen hatte es im Westen noch nie gegeben, vielleicht sogar im gesamten 20. Jahrhundert nicht; die politische Tatsache, die wir heute feststellen können, ist jedoch, dass diese Mobilisierungen trotz der Millionen von Menschen, die überall auf der Welt gleichzeitig auf die Straße gingen, für die Fortführung des Krieges selbst irrelevant waren. Der Krieg war da und dauerte jahrelang an. Ich glaube also, dass wir durch die Reflexion dieser Ereignisse einige Schwerpunkte der heutigen Militanz finden können – denn egal, was man sagt, der Krieg steht immer am Horizont der Politik.
Die zweite Frage ist ein weiterer Ausblick auf die Subjektivitäten, die Begrenzungen und das Potenzial der letzten Bewegung, die wir erlebt haben, nämlich die von L’Onda (Die Welle, d.Ü.). Zwischen 2008 und, grob gesagt, dem 15. Oktober 2011 wurde die letzte “echte” Bewegung mit neuen antagonistischen Subjektivitäten präsentiert. Nach der Welle habe ich nichts Vergleichbares mehr gesehen, außer in gewisser Hinsicht mit den “Forconi” am 9. Dezember 2013. Gibt es deiner Meinung nach einen roten Faden zwischen der ‘Welle’ und der neuen Explosion der populistischen Plätze, die vielleicht nur kurzlebig ist, aber in der nachfolgenden Phase einen deutlichen Bodensatz hinterlassen hat? Siehst Du trotz der offensichtlichen Unterschiede in der Zusammensetzung Ähnlichkeiten im Verhalten und in den Formen des politischen Ausdrucks? Denn es könnte ein Weg sein, die Fehler in unserem Ansatz zu erkennen, da (meiner Meinung nach) die Erkenntnisse aus der militanten Welt der Bühne nicht gewachsen waren, da sie nicht in der Lage waren, sich auf die angemessenste Weise auf ihr zu bewegen und von den verschiedenen “politischen Unternehmern” weggefegt wurden.
Frage:
Ich möchte Dich hingegen um eine allgemeinere Untersuchung der Methode bitten, indem ich eine Frage, die Du am Ende aufgeworfen hast – nämlich die Frage, “was in Momenten des Stillstands zu tun ist”, d.h. wie ein Gedanke geschaffen werden kann, der in der Lage ist, die neue Zusammensetzung auszudrücken und widerzuspiegeln, und der die Möglichkeiten des Konflikts in den Ambivalenzen auffängt -, mit einer Frage verbinde, die zu Beginn Deiner Rede auftauchte, nämlich dem ungelösten Knoten der Ausarbeitung einer breiten Organisationsform, nachdem die Parteiform des 20. Jahrhunderts kritisiert worden ist. In der Tat haben wir eine Vielzahl von kleinen Organisationen mit unterschiedlichen Modellen gesehen, die aber immer darum gekämpft haben, sich auszudehnen, bis sie erschöpft waren. Nun, für mich hängen diese beiden Probleme zusammen. Wenn es keine Kämpfe gibt, ist es dann möglich, etwas anderes als bloße Kritik zu produzieren?
Dies bringt uns jedoch zu einem zweiten Problem: Um effektiv zu sein und mehr als eine Handvoll “kritischer Intellektueller” auf der Suche nach Reputation auf dem intellektuellen Markt hervorzubringen, bedarf es einer Form der Koordination und eines Netzwerks, in dessen Mittelpunkt das gemeinsame Ziel steht, ein Projekt aufzubauen. Doch wie soll dieses Projekt gefunden werden, wenn es keine Kämpfe gibt? Es ist kein Zufall, dass es in den letzten Jahren viele intellektuelle Bestrebungen gab (ich denke an den so genannten “Post-Operaismus”), aber es fehlte ihnen ein unverzichtbares Element, um zu einem politischen Instrument zu werden, d.h. es fehlte ihnen ein Gegner. Wir wussten, wer die potenziellen “Freunde” sein könnten (die “geistigen Arbeiter”, die “Lastenträger” usw.), aber der Feind fehlte, oder wenn er da war, wurde er auf den Neoliberalismus reduziert – als ob wir den Wohlfahrtskapitalismus lieben würden. Ich würde Dich also bitten, auf diese beiden Punkte methodisch einzugehen.
Frage:
Ich beziehe mich auf das, was gerade gesagt wurde: Im jüngsten militanten Denken fehlt nicht nur die Beschreibung des Feindes, es fehlt der Feind als Konzept, das heißt, es fehlt die Idee des Konflikts selbst. Wenn ich als absoluter Laie darüber nachdenke, was in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren an Gedankengut produziert wurde, dann finde ich entweder utopisches sozialistisches Gedankengut des “dritten Jahrtausends” – ich denke da an den Akzelerationismus, wonach man nur konfliktfrei beschleunigen muss und bumm! oder Analysen, die zwar faszinierend, aber nur beschreibend sind – um noch einmal im selben Bereich zu bleiben: Fishers Kapitalistischer Realismus fand viele Leser, aber es war ein Stoff, der darin unterging und sich wenig überraschend auf die Behauptung beschränkte, dass es “keine Alternative gibt”. Meine Frage an Dich lautet also: Warum ist selbst in der Nische der militanten Intellektualität der Konflikt verschwunden?
Frage:
Ich stimme voll und ganz mit deinen Überlegungen über die Notwendigkeit überein, die soziale Zusammensetzung, mit der wir heute konfrontiert sind, zu ergründen und zu analysieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns in der Zusammensetzung, die wir haben, bewegen, denn nur dort können wir echte Ansätze zur Veränderung der Machtverhältnisse finden. Die Schwierigkeit, die ich sehe, ergibt sich vor allem aus den Rhythmen der sozialen Veränderungen. Um uns zurechtzufinden, haben wir uns an eine bestimmte Art der Analyse gewöhnt, die in aller Ruhe durchgeführt wird, indem man Texte liest und verschiedene historische Momente vergleicht; andererseits lässt die heutige Geschwindigkeit nicht den Raum, um ernsthaft in die Analyse einzusteigen. Man muss auf dem, was man sieht, ‘surfen’ und hoffen, dass man es erwischt hat, und auf jeden Fall weiß man nicht, wie man damit umgehen soll. Auch weil die Kompositionen von heute oft wirklich “global” sind: Selbst wenn man sich nur Modena ansieht, muss man mindestens Urdu und einen tunesischen Dialekt beherrschen, um Zwanzigjährige zu treffen. Ich denke, dass dies ein Problem ist, das alle organisierten Gruppen betrifft. Bevor wir also Hypothesen darüber aufstellen, was ein kollektives Thema sein könnte, auf das wir wetten können, sollten wir vielleicht verstehen, wie wir innerhalb der Geschwindigkeit bleiben können. Ich möchte Dich daher fragen, ob du jemals darüber nachgedacht hast und ob du irgendwelche Hinweise hast.
Gigi Roggero:
Also reiche ich euch gleich die Hand. Eine auch nur annähernde Einführung in diese Themen würde mindestens fünf Sitzungen erfordern; daher werde ich mich darauf beschränken, einige Andeutungen zu machen, die dann von Euch zu Ende geführt werden müssen.
Ich beginne mit der Frage des Krieges, indem ich sie aus der Perspektive der Bewegungen und nicht aus der üblichen geopolitischen Perspektive des Aufeinandertreffens von Mächten dekliniere. Um einen vorläufigen Rahmen zu schaffen, bevor wir fortfahren, sollten wir wissen, dass es gerade in den Jahren 2001 und 2003 eine enorme Mobilisierung gab, die sich als eine Art Fortsetzung der No-Global-Bewegung mit denselben Mitteln erwies – die wiederum im Wesentlichen zwischen dem G8-Gipfel in Genua und den Anschlägen auf die Zwillingstürme endete.
Wenn ich nun von Genua spreche, dann spreche ich vor allem von den Beschränkungen, aber ich möchte klarstellen, dass ich das nicht tue, weil es dort keine Reichtümer gab. Ganz im Gegenteil! Es ließe sich so vieles über die Bedeutung jener Tage sagen, und zwar aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln; aber ich denke, es ist sinnvoller zu fragen, warum eine so starke Bewegung, die zu wichtigen Entwicklungen bestimmt schien, zu einem bestimmten Zeitpunkt untergeht. Auch hier glaube ich nicht, dass die Repression als Erklärung ausreicht: Ja, diese Typen schießen, aber wir haben ihnen viel eingeschenkt und sie sind weggelaufen. Bestimmte Theorien haben mich nie überzeugt, das Argument, sie hätten “das Gemetzel vorbereitet”, klingt für mich wie ein Haufen Unsinn. Ohne irgendjemandem verzeihen zu wollen, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass der Verrückte, der geschossen hat, sich von Leuten umringt sah, die mit Feuerlöschern und Holzbalken ankamen, und Angst bekam… und geschossen hat. Es gab einen Moment, in dem sie einfach nicht mehr wussten, was sie tun sollten. Dann, nun ja, diejenigen, die in die Diaz gingen, waren Polizisten, die vierzehn Tage lang wie Tiere in Containern unter der Sonne Genuas schliefen, bis auf die Knochen abgemagert, und irgendwann, nachdem sie sie drei Tage lang festgehalten hatten, brachten die Polizisten die Tiere auf die Weide, um sich auszutoben. Und sie taten, was sie taten.
Kurz gesagt, es handelte sich um einen Konflikt auf hohem Niveau, der jedoch von einer erheblichen Unfähigkeit der militanten politischen Klasse Italiens begleitet wurde, den – auch internationalen – Charakter dieser Momente zu verstehen. Danach wurde ein völlig defensives Moment ausgelöst: und wenn man sich verteidigt, greifen die anderen an; und wenn sie einen angreifen, vernichten sie einen. Aber schließen wir die Klammer zu Genua und kehren wir zur Frage des Krieges zurück.
Wie der Genosse sagte, war die “No War”-Bewegung eine sehr breite Bewegung, die in ihrer Zusammensetzung dem, was wir in Genua gesehen haben, sehr ähnlich ist, aber vor allem war sie die letzte große Antikriegsbewegung, die es gab. Der Krieg in Afghanistan brach, wie Sie sich vielleicht erinnern, wenige Monate nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme aus, und weniger als anderthalb Jahre später brach der zweite Golfkrieg im Irak aus. In dieser Zeit kam es zu Mobilisierungen, die am 15. Februar 2003 ihren Höhepunkt fanden, als 110 Millionen Menschen auf alle Plätze der Welt strömten. Allein in Rom waren es etwa drei Millionen. Es war für alle sehr beeindruckend, in den Nachrichten die mit Demonstrationen übersäte Weltkarte zu sehen; oder denken Sie auch daran, als die “New York Times” am 17. Februar, zwei Tage nach dem Beginn, einen Artikel veröffentlichte, in dem alle voller Hoffnung verkündeten, dass “es noch zwei Supermächte auf dem Planeten gibt: die Vereinigten Staaten und die Weltöffentlichkeit” [1]. Alles sehr bewegend. Nun, ein paar Wochen später bricht der Krieg aus und die Bewegung löst sich auf. Auch wenn die Bewegung in Bezug auf ihr mediales Gewicht zweifellos eine Macht war, erwies sie sich als völlig unfähig, jene quantitative Ausdehnung der Bündelung und Beteiligung (ich wiederhole: von außerordentlicher Bedeutung) zu erreichen, um sie in der Materialität der Produktionsprozesse und sozialen Beziehungen zu verankern.
Das gilt auch für die No-Global-Bewegung: Es gab große Mobilisierungen auf der Straße, aber keine an den Universitäten oder in den Betrieben. Und bei näherer Betrachtung ist es seltsam: Während in den 1970er Jahren auf der Straße und am Arbeitsplatz ein Durcheinander herrschte, finden wir im Jahr 2000 eine radikale Diskrepanz zwischen der einen und der anderen Sache. Auch die No-Global-Bewegung ist in erster Linie eine Meinungsbewegung – was nicht heißt, dass man sie abwerten soll, indem man sagt: “So war es, und so musste es sein”; aber es erfordert eine ernüchternde Betrachtung ihrer Entwicklungen. Deshalb glaube ich, dass der erste Schritt bei der Analyse der Antikriegsbewegung darin besteht, sie mit der Frage der Mittelschicht in Verbindung zu bringen.
Was sich in den pazifistischen Bewegungen, auch historisch, ausdrückt, ist die Mittelschicht, eine Mittelschicht, die ihre Mobilisierungsressourcen in die großen internationalen oder ideellen Fragen (wie eben Frieden und Krieg) steckt. Einige Jahre später, 2007-2008, beginnt jedoch die Weltwirtschaftskrise, in der wir uns immer noch befinden, und mit ihr beginnt der Prozess der Krise-Zersetzung-Polarisierung-Fragmentierung der Mittelschicht, den wir in den letzten Jahren ausführlich analysiert haben. Die Ruhe, die es der Mittelschicht ermöglichte, sich in den großen ideellen Fragen zu mobilisieren, verschwindet im Lichte einer anderen Art von Notlage. In dem Moment, in dem die Mittelschicht von der Materialität der Krise betroffen und zersplittert ist, hört sie auf, sich in diese Richtung zu äußern. Kurz gesagt, es gibt seither keine Antikriegsbewegungen mehr, nicht weil es keine Kriege mehr gibt, sondern weil sich die Bedingungen ihres Hauptgegenstands grundlegend geändert haben. Und das Gleiche gilt auch heute.
Frage:
Ich möchte eine Provokation starten. Alles, was Du sagst, ist richtig; aber es ist gerade die Mittelschicht, die von diesem Krieg betroffen ist, wegen der direkten Auswirkungen, die der Gaspreis, die Sanktionen gegen Russland und so weiter auf ihren Lebensstandard haben – viel mehr als der Krieg gegen den Irak…
Gigi Roggero:
Ganz genau. Aber was ist der Punkt? Diese Bewegung hatte als Grundlage die Aussage “Krieg ist schlecht, wir wollen Frieden”. Ich meine, im Jahr 1917 war das Thema nicht Frieden als ideales Ziel, sondern Brot! Auf diesem Aspekt baut der Konflikt auf und der imperialistische Krieg wird in einen revolutionären Krieg verwandelt. Was wir heute versäumen, ist, die Opposition gegen den Krieg genau in dem zu begründen, was Du sagst, d.h. in der Materialität der sozialen Bedingungen. Die Mittelschicht, die sich 2003 mobilisierte, war von dem Krieg überhaupt nicht betroffen. Es war ein entfernter Krieg, ein Krieg, der im Fernsehen übertragen wurde; es war “hässlich”, Menschen sterben zu sehen, aber es gab keine Angst vor einer sozialen Deklassierung. Das ist etwas, das heute direkter auftritt, das aber gerade wegen der Erschütterung, von der wir gesprochen haben, im Moment keinen politischen Ausdruck gefunden hat.
Kommen wir nun zum zweiten Punkt, der Beziehung zwischen Krise und L’Onda. Die Onda-Bewegung ist wichtig, weil sie die erste Bewegung auf internationaler Ebene zur Krise ist, so sehr, dass der charakteristischste Slogan nicht etwas mit der Universität zu tun hatte, sondern “Wir zahlen nicht für die Krise” lautete. Sie hat sofort auf dieser Ebene gehandelt. Es war übrigens noch 2008, also noch in den Anfängen der Krise, als die Folgen des Crashs noch nicht in vollem Umfang zu spüren waren. Hier könnte man vielleicht sagen, dass dieselben Mittelschichtler, die zuvor mit Sorge auf den Krieg geblickt hatten, nun am eigenen Leib zu spüren begannen, was sich konkret am Horizont abzeichnete, weil sie spürten, dass sie es sein würden, die zahlen würden. In der Tat wurde diese Krise nicht auf globaler Ebene angegangen, sondern in Bezug auf den italienischen Kontext; und das Schockierendste war, dass gerade dort die für uns “stacheligen” Parolen des “Verdienstes” und der “Korruption” auftauchten.
Ich erinnere mich, dass ich zu diesem Zeitpunkt in der Universität Nachrichten von meinen Genossen erhielt. Sie sagen mir: “Schau, viele Leute kommen mit Tonbandgeräten hierher. Sie nehmen die Vorlesungen auf, denn so können sie das, was die Professoren sagen, gegen sie verwenden, sich sogar an die verschiedenen Behörden wenden und sie anprangern”. Wohlgemerkt, das sind nicht die Scheißkerle, gegen die du kämpfst, sondern diejenigen, die die Versammlungen bevölkern. Ihr versteht also, dass es sich nicht um eine einfache und geradlinige Subjektivität handelte, und schon gar nicht um eine, die mit unseren Positionen übereinstimmt. Es war eine verwirrende Subjektivität, selbst im Vergleich zu dem, was wir von den “Panther” gewohnt waren.
Während Pantera sprachen wir in unseren eigenen Worten, wir sagten ‘Nein zur Kommerzialisierung des Wissens’ – ein Thema, zu dem vor kurzem ein Buch von Alquati, Cultura, formazione e ricerca (Derive Approdi), erschienen ist, in dem er über einen Dialog berichtet, den er in jenen Tagen mit Studenten führte. Es ist ein erstaunlicher Dialog, denn er ist äußerst klar (wer das Pech hatte, auf seinen anderen Text, Sulla riproduzione della capacità umana vivente, zu stoßen, weiß, wie schwer es ist, sich mit seiner Schrift vertraut zu machen) und in dem sich bereits zu Beginn der 1990er Jahre eine Reihe von Tendenzen abzeichneten, die sich erst später voll entfalten sollten.
Die “Welle” hingegen ist von Anfang an eine verwirrende Bewegung. Einige von Euch waren damals dabei und wissen sehr gut, zu welchen Ebenen der Ambiguität sie gelangte. In der Tat finden wir sie in der 5-Sterne-Bewegung in vollem Umfang wieder: dieselben Studenten, die die Schulen besetzten, sah man sechs Monate später mit dem “Fatto Quotidiano” unter dem Arm wieder. Es war nicht leicht, damit zu arbeiten, aber es war dennoch klar, dass diese Studenten einen Widerspruch erkannt hatten. Im Grunde genommen ist die “Welle” die Mobilisierung eines Teils der “geistigen Arbeiterschaft”, die einen Platz in der italienischen Gesellschaft beansprucht, den sie nicht anerkannt sieht, und die die Auswirkungen der Krise vorausahnt und weiß, dass es immer schlimmer werden wird.
Das ist es, was wir nicht verstanden haben: Wir hätten ihnen sicherlich nicht in der Frage der Leistungsorientierung nachgeben sollen, sondern verstehen müssen, dass hinter diesem Signifikanten eine tiefgreifendere und fundiertere Bedeutung in den Transformationen der Mittelschicht steckt. Nun, im Nachhinein kann man weder Geschichte noch Politik machen, aber es könnte nützlich sein, darüber nachzudenken, wie die Dinge hätten anders laufen können. Dies geschieht nicht, um uns selbst zu martern oder unsere eigene Dummheit zu beweinen, sondern um uns daran zu erinnern, dass die Gegenwart immer offen ist. Die Gegenwart ist immer offen für andere Möglichkeiten: In diesem Fall bedeutet die Erkenntnis im Vorfeld, die 5 Sterne zu übernehmen und sie auf die andere Seite zu befördern.
Es stimmt jedoch, dass zwischen 2011 und 2013 mit der Forconi-Bewegung etwas Ähnliches wiederkehrt. Die “Forconi” wurden 2011 in Sizilien geboren und versammelten landwirtschaftliche Kleinunternehmer, die die ganze Insel für ein paar Wochen in Schach hielten. Wie im Drehbuch vorgesehen, verschwendete die institutionelle Linke keine Zeit und beschuldigte sie sofort, Faschisten zu sein, mit der Mafia zusammenzuarbeiten, Reaktionäre zu sein usw. Während die Genossen, die bereits damit begonnen hatten, ungeheuerliche Analysen über sie zu veröffentlichen (wie die von Giorgio Martinico in UniNomade), erklärten, dass sie sozusagen nur Unternehmer seien, da es sich um Betriebe mit einem oder zwei Angestellten handele (oft nur sie und einige Familienmitglieder, also alles andere als Grundbesitzer).
Was in Turin explodieren wird, ist wieder etwas anderes. Kurz gesagt, am 9. Dezember 2013 fand ein Zusammentreffen zwischen einigen Selbstständigen der ersten Generation mit der proletarischen und subproletarischen Zusammensetzung aus den Vorstädten statt. Eine absolut einzigartige und in der Tat kurzlebige Angelegenheit; ein flüchtiges Bündnis, das von der institutionellen Linken schon damals als reaktionär und faschistisch gebrandmarkt wurde. Ich glaube jedoch, dass die “Welle” und die “Forconi” in ihrer Unterschiedlichkeit zwei Bewegungen sind, die in eine allgemeinere Betrachtung darüber eingeordnet werden sollten, was in den Prozessen der Destabilisierung der Mittelschicht wirklich passiert.
Während die Krise im Jahr 2008 noch am Anfang stand, hatte sie zwischen 2011 und 2013 bereits ihre Auswirkungen entfaltet. Heute wissen wir, dass das Konzept der Mittelklasse, noch bevor es eine soziologische Kategorie ist, in erster Linie ein politisches Konzept ist: Die Mittelklasse ist mehr als nur ein Zwischenbereich in der Einkommenspyramide, sie ist eine soziale Funktion. Sie ist eine Art Vermittler, ein Damm, der die Entwicklung und Explosion von Klassenkämpfen verhindert; sie ist das Subjekt, das nicht nur in der Mitte steht, sondern auch zwischen den beiden Klassen vermittelt. Die Entlohnung, die es erhält (die in Form von Einkommen, Status, Berufsbedingungen, sozialer Anerkennung usw. ausfällt), ergibt sich genau aus dieser Vermittlerrolle. In dem Moment, in dem dieses Subjekt destabilisiert wird, passiert etwas, weil sich die Gesellschaft entweder auf der einen oder auf der anderen Seite polarisiert. Die Mittelschicht ist also strukturell zweideutig: Es kann keine Mittelschicht ohne Ambivalenz geben, eben weil sie selbst zweideutig zwischen der einen und der anderen Seite steht. Im normalen Funktionieren des Kapitalismus vermittelt sie zugunsten der Bourgeoisie; in Momenten der Destabilisierung, wenn sie zusammenbricht, könnte sie sich in Richtung der Arbeiterklasse polarisieren. Man stelle sich eine Schlägerei vor, mit Türstehern in der Mitte: Wenn man sich mit den Türstehern verbündet, ist das ein Schlamassel für die anderen… Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mittelklasse mehr oder weniger so funktioniert.
Was also im Gegensatz zu den Schlagwörtern zur “Welle” und im Fall von “Forconi” nicht begriffen wurde, war genau der laufende Prozess der Destabilisierung. In gewisser Weise hatte in den 1970er Jahren eine analoge Dynamik stattgefunden (die nicht zufällig von Alquati in einem Buch mit dem Titel “Universitäten der Mittelklasse” analysiert wurde), jedoch mit einem entscheidenden Unterschied an der Basis: Während in den 1970er Jahren die Destabilisierung von der Stoßrichtung der Kämpfe um die Autonomie der Arbeiter ausging, geht die Stoßrichtung in der Krise 2008-2009 von der entgegengesetzten Seite aus, d. h. es ist das Kapital, das die Mittelklasse dekonstruiert. Doch wenn man die Mittelschicht dekonstruiert, passiert immer etwas.
Am Ende des Tages stellt sich wieder das leninistische Problem der Wette auf das Subjekt: Lenin mochte die Bauern gewiss nicht und setzte alles auf die strategische Bedeutung der Arbeiterminderheit; aber er glaubte auch, dass die Revolution in Russland ein taktisches Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern erforderte, wobei letztere eine Rolle spielten, die der der Mittelklasse nahe kam. Doch darauf werde ich später zurückkommen. Für den Moment genügt es zu sagen, dass immer dann, wenn Prozesse der Destrukturierung der Mittelklasse wahrgenommen werden, das Problem der taktischen Allianzen wieder auftaucht.
Bevor man jedoch ein taktisches Bündnis eingeht, muss man sich darüber im Klaren sein, wer das strategische Subjekt ist, und diesbezüglich verweise ich auf die vorhin gestellte Frage. Ich glaube nicht, dass die Begrenzung des Post-Operaismus vor allem in der Identifizierung des Feindes lagen, sondern vielmehr in der Logik, mit der das politische Bezugssubjekt identifiziert wurde – mit anderen Worten, das Subjekt, das die Kämpfe führen würde. Das heißt, man glaubte, dass sich letztere direkt aus der Untersuchung der Veränderungen der Arbeit und der Produktion ableiten ließen. Um es mit den Worten des traditionellen Operaismus auszudrücken, dachte man, dass die “technische Komposition” unmittelbar zur “politischen Komposition” führen würde: Da die kognitive Arbeit für die technische Komposition in den Produktions- und Verwertungsprozessen von zentraler Bedeutung ist, wäre die kognitive Arbeit automatisch auch von zentraler politischer Bedeutung.
Das war ein Kurzschluss, der ins Leere führte, weil er die Dimension der Subjektivität umging. Subjektivität wird produziert, sie bildet sich in Machtverhältnissen und Organisationsversuchen; sie ist nicht etwas, das sich in zwei Worten zusammenfassen lässt. Gleichzeitig ist es auch offensichtlich (oder zumindest für mich offensichtlich), dass die negrianische Hypothese (Toni Negris Multitide ist gemeint, d.Ü.) einer nun völlig autonomen sozialen und produktiven Kooperation, für die das Kapital nur eine parasitäre Hülle ist, gescheitert ist. Dahinter steckt derselbe Fehler, den ich bereits erwähnt habe: Wenn man die Art der Subjektivität dieser Kooperation nicht in Frage stellt, kann man sich auch nicht vorstellen, dass das, was da ist, einen sofort zur Frage des Kommunismus zurückbringt.
In der Untersuchung dieses politischen Knotens entdecken wir die Wege, auf denen wir das Problem (ein gigantisches Problem, das nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gelöst werden kann) der Parteifunktion stellen können. Wie Du richtig sagtest, sagt die Erklärung des Endes eines neueren Organisationsmodells (z.B. der centri sociali) nichts darüber aus, was zu tun ist, und wir können sicherlich nicht zu einem früheren Modell (der klassischen Partei) zurückkehren.
Auch da bleibe ich sehr leninistisch. Natürlich ist es schwierig zu reflektieren, wenn es keine Kämpfe gibt, aber es muss trotzdem getan werden. Und ich glaube auch, wenn man mit dem Denken wartet, bis die Kämpfe da sind, ist man schon zu spät dran. Wenn man erst einmal dort angekommen ist, wo die Probleme bereits ausgebrochen sind, kann man ihnen folgen, aber man kann sie nicht lenken. Doch noch ein paar Worte zu diesem Punkt. Es ist ein schlechter Leninismus, ein paranoider Leninismus, derjenige, der meint, dass Bewegungen durch bloßen Willen organisiert werden können. Bewegungen werden in ihrer Spontaneität geboren, das ist wahr; aber ich denke, das ist ein bisschen wie die Katze mit der Maus: Die Katze schubst die Maus nicht dorthin, wo sie sich entscheidet, sondern sie überlegt sich, wo sie herauskommen kann und setzt sich dort hin, schlägt geduldig Wurzeln und ist im richtigen Moment bereit, sich auf sie zu stürzen. Genau das müssen wir tun, uns dort verwurzeln, wo die Untersuchung uns gezeigt hat, dass unsere Themen auftauchen könnten, und dafür sorgen, dass wir bereit sind, ihren Schwung zu verstärken.
Ich bleibe auch in einem anderen Punkt absolut leninistisch: Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Bewegung. Es wird immer Bewegungen geben, spontan oder nicht, die sogar in der Lage sind, die Dinge durcheinander zu bringen; aber ohne ihre revolutionäre Theorie werden sie richtungslose Bewegungen bleiben, die, welche Richtung sie auch immer einschlagen, wieder in die kapitalistische Maschinerie eingesaugt werden. Und dies gilt umso mehr bei der derzeitigen Beschleunigung. Wie können diese Bewegungen zum Tragen kommen? Hier erweist sich die Erforschung der Parteifunktion als grundlegend. Wo können wir sie heute verorten? Vollständig außerhalb oder vollständig innerhalb der Zusammensetzung? Die Hypothese, dass das Klassenbewusstsein ausschließlich von außen kommt, hat sich aus verschiedenen Gründen erschöpft: nicht weil sie von Anfang an falsch war, sondern weil es wichtige gesellschaftliche Veränderungen gab, die zu ihrer Erschöpfung geführt haben (nicht zufällig sagte Lenin zehn Jahre später ganz andere Dinge). Gleichzeitig ist, wie gesagt, die Hypothese gescheitert, dass das Problem der Organisation sofort in der Klassenzusammensetzung aufgeht, d.h. dass sie automatisch ihre eigenen Organisationsmechanismen finden würde. Vielleicht muss die Parteifunktion heute weder völlig innerhalb noch völlig außerhalb angesiedelt werden, in dem Sinne, dass wir innerhalb der Zusammensetzung sein müssen, ohne jedoch völlig von ihr absorbiert zu werden (oder wie Paulus von Tarsus sagte: Wir müssen Menschen in dieser Welt sein, aber nicht Menschen dieser Welt).
Um den Diskurs zu konkretisieren, versucht, ihn auf Formen der politischen Zusammenarbeit zu beziehen und auch auf konkrete Erfahrungen, die ihr gemacht habt oder mit denen ihr vertraut seid. Ein Beispiel: eine Zeitschrift. Stellt euch vor, jemand beschließt, eine Zeitschrift zu gründen, baut eine Infrastruktur auf und wartet dann darauf, dass die Leute spontan ihre Beiträge einschicken. Das wird nie funktionieren. Oder andersherum: man beschließt die Beiträge und überlässt sie der einen und der anderen Fraktion. Auch das funktioniert nicht. Die Fähigkeit muss sein, eine Spontaneität zu organisieren, einen Prozess in Gang zu setzen, der dann von selbst weitergeht. Man bedenke, dass man, wenn man ideologische Rekonstruktionen und propagandistische Selbstdarstellungen abträgt, historisch viele Beispiele für diesen Organisationsstil finden kann.
Wenn man so will, liegt hierin auch die Größe Lenins. Der total organisierte Lenin, der alles von außen betreibt, ist eine durchschlagende Lüge. Wenn man über das Verhältnis zwischen der Partei und den Sowjets nachdenkt, wird man sofort daran erinnert, wie Lenin zu wiederholen pflegte, dass es Momente gibt, in denen die Spontaneität weiter fortgeschritten ist als die Organisation: 1905 ist die Spontaneität jeder sozialistischen Realität deutlich voraus, und wenn die Arbeiter die Sowjets bilden, hat niemand sie geplant. Aber was muss die Organisation an diesem Punkt tun? Sie muss sich auf die Ebene der Spontaneität begeben. Es gibt aber auch andere Phasen, in denen die Spontaneität zurückweicht: Der typische Fall ist die von Lenin beschriebene Klammer zwischen April und Anfang Juli 18, in der die Sowjets die provisorische Regierung beseitigen können, ohne einen Schuss abzugeben; aber ab Juli ändert sich das Szenario, weil wir erkennen, dass die Sowjets zu einem Parlament werden. Das ist der Punkt, an dem die Organisation sich selbst zerbrechen und die Spontaneität wiederherstellen muss.
Das ist dasselbe, worüber wir vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Debatte im Jahr ’21 über die Rolle der Gewerkschaften in der Sowjetunion gesprochen haben: Auf der einen Seite stehen Bucharin und Trotzki (der sich als Libertärer ausgibt, aber abgesehen davon, dass er der Vater der Roten Armee war, war er immer ein Ultra-’Staatist’), für die es notwendig war, die Gewerkschaften zu militarisieren, indem man die Armee an ihre Spitze stellte (der Staat ist der Staat der Arbeiter, Punkt, und die Gewerkschaften dürfen ihnen nicht auf den Sack gehen), eine Position, die Lenin als bürokratisch brandmarkt; auf der anderen Seite stehen die Vertreter der Arbeiteropposition, der Rabotschaja oppozitsija, die stattdessen glauben, dass alle Macht der Selbstorganisation anvertraut werden sollte, eine These, die für Lenin völlig unbestimmt ist. Und so versucht er, die Parteifunktion weder ganz nach innen noch ganz nach außen zu verlagern. Anders ausgedrückt: Was können die Gewerkschaften in diesem Stadium (und nur in diesem Stadium) tun? In einer solchen Phase können die Gewerkschaften zu Schulen des Kommunismus werden, zu Zentren, in denen sich die Arbeiter für den Klassenkampf organisieren, auch gegen den Staat, und sich darin üben, einen Prozess zu führen, der zur Zerstörung des Staates führen muss. Dieses Aussterben wird also nicht spontan sein, aber auch nicht das Ergebnis eines einfachen organisierten Willens. Parenthese abgeschlossen.
Um auf uns zurückzukommen: Wo können wir die Parteifunktion heute ansiedeln? Wenn wir sie ganz außerhalb der Komposition ansiedeln, funktioniert das aus den genannten Gründen nicht; aber wir sollten uns davor hüten, zu denken, sie ganz innerhalb anzusiedeln, hieße, an die unmittelbare Entwicklung der politischen Komposition aus der “technischen” Komposition zu glauben, was genau die Hypothese ist, die sofort zusammenbrach. Ich glaube aber auch, dass bei aller Kritik an Tonis Theorien über die immaterielle und postfordistische Arbeit die Liquidierung dieser Perspektive in den letzten zehn Jahren alles siebzig Jahre zurückgeworfen hat, anstatt produktiv zu sein – das heißt, Grenzen aufzuzeigen und gleichzeitig Reichtum zu ernten. Die Verherrlichung des GKN (? d.Ü.) ist die Verherrlichung des Arbeiters mit schwieligen Händen und schmierigen Latzhosen, der endlich wieder zu einem “Arbeitersubjekt” im eigentlichen, kretinösen Sinne wird. Das heißt, nicht im Sinne von Marx: Marx hat sich nicht darum gekümmert, dass der Arbeiter Schwielen hat, er hat sich darum gekümmert, dass er ein Avantgarde-Subjekt im Klassenkampf ist. Stattdessen gibt es diejenigen, die, wenn sie “Arbeiter” hören, an Schrauben denken, und wenn sie “Fabrik” hören, an die Maschinenhalle. Ich wiederhole also: Die Aufmerksamkeit für Phänomene wie den 9. Dezember sollte der Suche nach taktischen Verbündeten gelten, aber ein taktisches Bündnis wird von einem strategischen Subjekt aus geschlossen.
In Bezug auf das, was die Genossen sagten, gehe ich einen Schritt zurück. Die Thatcher-Parole “There is no alternative” wurde ab den 1980er Jahren von der Mittelschicht sofort übernommen, aber das galt auch für die Reste der Sozialdemokratie. Man kann so viel Kritik üben, wie man will, und sich über die schlimmsten Ungerechtigkeiten beschweren, aber für einen großen Teil der kämpferischen Klasse “gibt es keine Alternative”. In der Tat, je weniger wir sind, je mehr wir an den Rand gedrängt werden, desto mehr stehen wir zusammen, “weil es keine Alternative gibt”. Ihr legt Zeugnis ab, mit eurem Fähnchen, ihr wälzt euch wütend im Schlamm, aber ihr seid trotzdem immer da. Wir müssen also damit beginnen, mit diesem Fatalismus zu brechen und über Alternativen nachzudenken, die uns eine offenere Perspektive für Experimente bieten.
Nun, ich halte keine bordigistische Rede oder wie diejenigen, die Lotta Comunista verkaufen (obwohl ich immer fünf Euro gebe, wenn sie bei mir klingeln, weil ich vor echt empfundener Religiosität immer die Arme hebe). Kurzum, ich halte keine abwartende Rede. Ich sage nicht: ‘Die Aufgabe besteht jetzt darin, Führungskader auszubilden, die, wenn die unvermeidliche Revolution ausbricht, bereit sind’. Nein, das ist überhaupt nicht der Punkt. Ich sage, dass die Herausbildung von Subjektivität mit der Identifizierung von Räumen, Orten und Subjekten einhergeht, mit denen unmittelbar mit einer Reihe von neuen Praktiken experimentiert werden kann. Das ist der grundlegende Punkt. Ich wiederhole: Man kann sich Trendlinien vorstellen, aber zu verstehen, wann eine Bewegung entsteht, entzieht sich der Vorhersehbarkeit – es ist, um einen von Marx entlehnten Begriff von Epikur zu verwenden, ein Clinamen, eine unmerkliche Abweichung vom Lauf der Dinge, die dann eine neue Realität schafft. Das Problem besteht nicht nur darin, sich bereit zu machen, sondern sich dort bereit zu machen, wo die Dinge sein können, und organisiert zu arbeiten, damit sie entstehen können. Darin liegt die Ebene des Experimentierens, die heute auf der Tagesordnung steht. Die Produktion eines neuen Diskurses ist ein Experiment, das uns in die Lage versetzen kann, Konfliktlinien zu antizipieren, zu erahnen.
Es ist vielleicht eine undankbarere Aufgabe als sonst, das muss man klar sagen. Ich verstehe sehr gut, was viele junge Militante denken: “Wenn ich alle Reste nehme, die es heute in Italien gibt, zehn hier, zwanzig dort usw., dann komme ich auf, ich weiß nicht, 3600 Menschen; und wenn ich mich unter 3600 Menschen befinde, habe ich das Gefühl, nicht allein zu sein”. Aber genau das ist Einsamkeit! Einsamkeit ist die Erkenntnis, dass man sich inmitten einer Summe von absoluter Marginalität befindet. Und obendrein verliert man das Bedürfnis nach Diskontinuität, von dem wir vorhin sprachen, denn um diese 3600 Menschen, die mich wahrnehmen, nicht zu verlieren, ertappe ich mich früher oder später dabei, nur für die Selbstreproduktion meiner Gruppe zu arbeiten.
Warum überleben viele Organisationen (auch bürokratische oder institutionelle) ihre historische Funktion? Weil sie Einkommen bieten (die Rifondazione Comunista gibt es noch) oder weil sie Anerkennung bieten. Es gibt Leute, die stehen morgens auf, sehen, dass es keine centro sociale oder so etwas mehr gibt, aber sie haben diese 18-20 Leute um sich herum, und sie sind beruhigt; dann merken sie eines Tages, dass sie nicht mehr so weitermachen können wie vorher, aber sie haben nicht einmal mehr diese Leute um sich, und plötzlich wissen sie nicht mehr, wer sie sind. Es ist normal, einen Teil seiner persönlichen Identität in einem Projekt oder einer Gruppe zu verwurzeln, aber wenn alles davon abhängt, gibt es Probleme. Der Militante darf nicht zu viel Angst vor der Einsamkeit haben. Der Militante ist in gewisser Weise immer ein wenig einsam – gerade weil er in dieser Welt ist, aber nicht von dieser Welt. Er ist ein Mensch, der, wie man dort zu sagen pflegte, in partibus infidelium, im Land der Ungläubigen lebt. Wenn es mir im Kapitalismus gut geht, welchen Grund habe ich dann, mich mit politischer Militanz abzugeben?
Es stimmt also, dass es eine unglaubliche Beschleunigung gab. Aber ich glaube nicht, dass wir das nachmachen sollten, denn dann wären wir aufgeschmissen. Auf die gleiche Weise versuchen wir, uns weder völlig in den sozialen Wandel einzubringen noch uns völlig aus ihm herauszuhalten. Einer der großen Kämpfe der Militanten besteht darin, sich die Vergänglichkeit wieder anzueignen. Schauen Sie sich zum Beispiel die sozialen Netzwerke an. Jeder von uns befindet sich, gewollt oder ungewollt, in einer Blase von Gleichgesinnten, also einer Blase von Genossen in der Nähe oder in der Ferne, die jeden Tag eine andere Meinung äußern. Wenn man Zeit hätte und 365 Tage lang die Themen sammeln würde, die in den sozialen Netzwerken diskutiert werden – Krieg, Impfstoffe, Covid, Kolonialismus auf Nudelpackungen… – würde man eine Beschleunigung feststellen, ja, aber in Verbindung mit Themen, die sich schnell entwickeln, weil sie dazu bestimmt sind, in kurzer Zeit zu verschwinden. Wenige Dinge sind so schnell wie das Vergängliche. Deshalb finde ich, dass wir uns heute unter anderem bemühen sollten, den Nachrichten den Rücken zuzukehren. Nicht, um uns von der Realität zu entfremden, sondern um unseren Blick für einen Moment von ihr abzuwenden, um sie besser angreifen zu können. Wenn wir der Berichterstattung folgen, werden wir immer in einer hektischen Verfolgungsjagd sein, und die Berichterstattung wird immer gewinnen. Vielmehr sollten wir uns distanzieren und in dieser Realität verstehen, was hinter der Aufzeichnung liegt, denn dort stoßen wir auf die grundlegenden Widersprüche. Entweder wir gewinnen eine eigene Zeitlichkeit zurück, die dem Rhythmus der Organisationsprozesse und der Konstruktion der Subjektivität folgt, oder wir wären immer auf der Suche nach dem Vergänglichen.
Aber wohlgemerkt: Die Rekonstruktion einer Geschichte, wie Ihr es in diesem Zyklus getan haben, erlaubt es uns nicht nur, uns von der gängigen Geschichtsschreibung zu distanzieren, sondern auch, geduldig die entscheidenden Punkte zu identifizieren und so den Eindruck, dass es keine Alternative gibt, präzise zu widerlegen. In der Tat, bei allen Unterschieden, die man sich vorstellen kann, zeigt uns die Wiederaufnahme eines entspannteren Rhythmus bei der Rekonstruktion der Ereignisse die ganze potentielle Fruchtbarkeit in den Phasen, die den Höhepunkten der Kämpfe vorausgehen.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. In den 1960er Jahren brach das Chaos aus, richtig? Nun, wenn man es im Nachhinein betrachtet, denkt man, es war alles zu einfach: Es gibt Fabriken, es gibt Arbeiter, es ist unvermeidlich, dass etwas beginnt. Aber in den 1950er Jahren war das nicht so! Es gab vier Katzen, die dachten, dass dort ein Kampf aufkeimt. Die KPI, die Gewerkschaften und ein großer Teil der damaligen Militanten glaubten, dass sich nichts mehr bewegte: Es waren die Jahre, in denen die KPI den Mittelschichten hinterherlief und in denen die Theoretiker der Frankfurter Schule behaupteten, dass über die westliche Arbeiterklasse nicht mehr gesprochen wurde, weil sie völlig in die Mechanismen der kapitalistischen Produktion und des Konsums verwickelt war. Kurzum, alle schienen davon überzeugt zu sein, dass es kein Spiel mehr gibt, dass es keine Geschichte mehr gibt. Und dann, einige Jahre später, wurde das Spiel wieder eröffnet.
Wortmeldung:
Abschließend möchte ich nur noch eines hinzufügen, und zwar im Hinblick auf die Lehre, die aus dieser historischen Erfahrung gezogen werden kann. Die um die Jahrtausendwende identifizierte Subjektivität war wichtig, weil sie verlangte, dass das Versprechen des Systems erfüllt wird. Die Krise kam, und es hieß: “Scheiß drauf”. Sie aber hatte einen Drang nach der versprochenen Stabilität und forderte sie ein. Sie war also jemand, der zählen wollte, die im Zentrum des politischen Lebens stehen wollte. Wenn ich also aus dem, was wir heute gesagt haben, einen Schluss ziehen müsste, würde ich sagen, dass dies genau die Merkmale des Subjekts sein müssen, auf das wir setzen: Es muss ein Subjekt sein, das ein Protagonist ist, das im Zentrum der Transformation stehen will. Wir müssen also eine Minderheit sein, keine marginale Minderheit, und aus diesem Grund dürfen wir nicht nur nicht der Zeitschiene folgen, sondern auch nicht den Katastrophen hinterherlaufen. Denn nur selten bringt eine Katastrophe Subjekte mit Ambitionen zum Aufbruch zusammen, meistens wollen sie nur den Schaden ein wenig beheben. Deshalb erweisen sich Mobilisierungen zum Thema Wohnungsbau oder außergewöhnliche Ereignisse wie Überschwemmungen als kurzatmig, weil sie auf Subjekte treffen, die diesen Antrieb nicht haben. Natürlich wird es ein zweideutiger Ehrgeiz sein, ein Ehrgeiz, der teilweise vom System erzeugt wird; aber er kann forciert werden, er kann transformiert werden. Und wenn wir das können, müssen wir es tun.
Veröffentlicht am 9. November 2023 auf Kamo Modena, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.