Cesare Battisti
Cheick ist ein 2 Meter großer Senegalese mit einem Lächeln, das sein halbes Gesicht einnimmt. So erschien er heute Nachmittag vor meiner Zelle, kurz vor der Zählung. Aber in seinem Blick lag auch ein Schatten der Traurigkeit. Um ehrlich zu sein, war es schon ein paar Tage her, dass ich sein Lachen auf dem Korridor gehört hatte. Aber so ist das im Gefängnis, ein plötzliches Auf und Ab, und die Gründe sind immer zu kompliziert, um sie zu erklären. Er schwieg einige Augenblicke lang, die Stirn hinter dem oberen Teil der Gittertür verborgen. Ich näherte mich ihm und er senkte den Kopf. Ich merkte, dass er mir etwas Ernstes zu sagen hatte, denn es war das erste Mal, dass er sich für mich interessierte, abgesehen von dem üblichen “Guten Morgen”. Ich fragte ihn, was er hatte.
Er erzählte von einem Verwandten, der sich in einem Gefängnis im Süden das Leben genommen hatte, “ein netter Mensch”, das hätte er nicht erwartet.
“Bisher sind so viele im Gefängnis gestorben”, begann er, “aber man denkt immer, es sind arme Menschen mit wer weiß welchen Problemen im Kopf, Menschen ohne Hoffnung. Jetzt aber weiß ich, dass es jeden treffen kann, und ich schlafe nicht mehr. All diese Menschen, die sterben und umsonst leiden, Familienangehörige, aber niemand kümmert sich… Ich habe noch nie darüber nachgedacht, nicht so. Es bräuchte nur eine Geste, eine kleine Sache, damit wir und unsere Stille sich als Teil dieser Welt fühlen.”
Jeder, der diesen großen, immer gut gelaunten und unbekümmerten Mann noch nie gesehen hat, würde seine Sorgen normal finden. Ich meine, er ist immer noch ein Gefangener. Aber Cheikh hat bei mir Neugierde geweckt. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein Gefangener Sorgen äußert, die über sein eigenes Gerichtsverfahren hinausgehen.
Also ermutigte ich ihn, fortzufahren.
“Ich meine, weißt du, es gibt so viele Frauen, die getötet werden, und man begeht zu Recht den Frauentag, dann gibt es Polizisten, und man begeht den Tag der Polizisten, es gibt auch den Tag der Tiere, und es ist richtig, auch an sie zu erinnern. Es dient dazu, die Menschen zu verstehen, allen Kraft zu geben, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Aber warum, so ist zu lesen, redet man dann nicht mit jemandem, um auch den Tag der Gefangenen zu begehen? Ich spreche nicht von Kriminellen, sondern von denen, die im Gefängnis leiden und sterben”.
Ein Tag des Gedenkens und der Anteilnahme am Leid derer, die einen Freund oder Verwandten hinter Gittern betrauern.
Das ist es, was Cheikh Niang meinte. In diesem Moment wurden wir unterbrochen und er ging hocherhobenen Hauptes davon. Als ich anfing, in meiner Zelle auf und ab zu gehen, hätte ich damit nicht aufhören können, wenn ich nicht beschlossen hätte, jemandem davon zu erzählen: Was, wenn es ein vernünftiger Vorschlag wäre?
P.S.
Ich erzähle diese Episode, die sich wirklich ereignet hat, und gebe sie so weiter, wie sie war, weil ich glaube, dass dies die beste Art und Weise ist, die Botschaft zu vermitteln oder denjenigen, die es in Erwägung ziehen könnten, die Idee vorzuschlagen, einen “Tag der Opfer hinter Gittern” einzuführen. Ich bin mir bewusst, dass mein Name angesichts einer solchen Initiative in einigen Kreisen der Öffentlichkeit Verwirrung stiften könnte, weshalb ich es nicht für nötig halte, öffentlich aufzutreten, im Gegensatz zu Cheikh Niang, der kein Problem damit hat, sich zu exponieren.
Cesare Battisti sitzt seit Jahren im Knast für Taten, die über 40 Jahren her sind, der Staat rächt sich immer noch für den antagonistischen Aufbruch der 70er in Italien, von dem Cesare ein Teil war. Von ihm sind mehrere im Exil und im Knast entstandene Bücher erschienen, von denen leider kein einziges auf Deutsch vorliegt. Carmilla Online veröffentlicht regelmäßig aktuelle Kurzgeschichten von ihm, die teilweise auf Sunzi Bingfa sowie auf Bonustracks auf Deutsch erschienen sind.
Dieser Text erschien im Original am 15. Januar 2023 und wurde von Bonustracks ins Deutsche übertragen.