Javier Milei, ein neuer politischer Begriff von Freiheit

Andrea Fagioli

Ohne Zweifel schafft es der folgende Text nicht, eben jener (linken) Lagerverhaftung zu entkommen, deren Versagen (auch in der extrem repressiven Corona Politik in Argentinien) den Weg bereitet hat für den Aufstieg des neuen Präsidenten Javier Milei. Trotzdem ist er der Übersetzung und Verbreitung aller Ehren wert, gerade weil er in der detaillierten Beschreibung der Spezifika des Aufstiegs dieser argentinischen Spielart der neuen libertären Rechten einige wesentliche Grundzüge zu analysieren in der Lage ist. Angesichts der unzähligen Verwerfungen, die derzeit die Welt der ‘neuen Weltordnung’ durchziehen, ist jedes Mosaikstück zu begrüßen, das uns in die Lage versetzt, wieder ansatzweise eine analytische Durchdringung auf der ‘Höhe der Zeit’ zustande zu bringen. 

Bonustracks

“Technische Beweise für eine Diktatur oder eine (neoliberale) Monarchie”. Mit diesen Worten könnte man die ersten Wochen von Javier Milei in der Casa Rosada (Präsidentenpalast, d.Ü.) beschreiben. Das DNU (Decreto di necessità e urgenza) (Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit) vom 20. Dezember und das Ley Omnibus (siehe dazu den amerika21 Artikel, d.Ü.) – ein Paket von 600 Maßnahmen, die vom Parlament genehmigt werden müssen – beseitigen in jahrzehntelangem Kampf errungene Rechte, erlauben den Verkauf von 41 öffentlichen Unternehmen, von der Ölgesellschaft YPF bis zu Aerolíneas Argentinas, und von natürlichen Ressourcen, vor allem dem Lithium, an dem Argentinien reich ist und das von vielen, angefangen bei Elon Musk, begehrt wird. Außerdem umgehen sie den Kongress und erteilen dem Präsidenten für zwei Jahre (verlängerbar) Sondervollmachten. Mir scheint, dass das, was der frühere Präsidentschaftskandidat Juan Grabois eine “De-facto-Verfassungsreform” nannte, vor allem den ewigen Traum der herrschenden Klasse Argentiniens offenbart: die Gesellschaft neu zu gestalten. 

Ob sie in der Lage sein wird, diesen Plan in die Tat umzusetzen, bleibt abzuwarten und wird von den parlamentarischen Vereinbarungen abhängen, die die neue Regierung zu schließen vermag – Mileis Partei La Libertad Avanza (LLA) ist weit davon entfernt, in den beiden Kammern eine Mehrheit zu haben, selbst wenn man die nicht wenigen Verbündeten mit einbezieht, die bisher auf den Zug aufgesprungen sind -, vor allem aber von dem Widerstand, auf den sie auf allen Ebenen stoßen wird, angefangen bei der Straße.

In der Gewissheit, dass die Umstände mich zwingen werden, sehr bald wieder über Argentinien zu sprechen, möchte ich hier auf den “demokratischen” Ursprung – im Sinne von legitimiert nach den Regeln der repräsentativen Demokratie – dieser konservativen und autoritären Wende eingehen. Etwas, das es in diesem südamerikanischen Land noch nie gegeben hat.

Mit Ausnahme der Tage vor der Stichwahl – Tage, an denen Milei seinen Tonfall deutlich milderte – hat der neue Präsident nie einen Hehl aus seinem Programm gemacht, das aus Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, einschließlich aller Subventionen, wie Energie und Verkehr, die das Leben der Argentinier und Argentinier stark betreffen, Privatisierungen und der Zerstörung des “Öffentlichen” besteht. Ein Programm, das die soziale Gerechtigkeit als Irrweg definiert, in dem jede Maßnahme zur Förderung des Binnenmarktes und damit der Beschäftigung fehlt und in dem die Interessen des Privatsektors (einer Handvoll Akteure) das bestimmende Prinzip der öffentlichen Politik sind. Trotzdem gewann Milei mit überwältigender Mehrheit die Stichwahl gegen den zentristischen Peronisten Sergio Massa, wobei er fast 56 % der Stimmen erhielt, und am 10. Dezember, dem Tag seiner Amtseinführung, war die berühmte Plaza de Mayo in Buenos Aires mit Demonstranten gefüllt, die euphorisch el ajuste (die kommende Sparpolitik) feierten. No hay plata” (“Hier gibt es nichts zu holen”) stand auf den T-Shirts, die viele Sympathisanten trugen. Es ist nicht das erste Mal, dass in Argentinien eine konservative Wende auf der Straße gefeiert wird: Im September 1955, als ein Staatsstreich unter dem Namen Revolución Libertadora der Regierung von Juan Domingo Perón ein Ende bereitete, wurde die Errichtung der Diktatur mit Unterstützungsdemonstrationen begrüßt. In jenem Fall war es jedoch hauptsächlich die klein- und mittelstädtische Bourgeoisie, die auf die Straße ging. Bei Milei hingegen ist es das erste Mal, dass ein gar nicht mal so kleiner Teil der Bevölkerung eine Regierung unterstützt, die unmissverständlich erklärt, dass sie ihre Lebensbedingungen radikal angreifen wird.

Wenn die neue Rechte im politischen Szenario Argentiniens angekommen ist, um dort zu bleiben, und, wie Ernesto Calvo in der argentinischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique [1] argumentiert, einen Gründungsmoment, ein originelles Epos kreieren kann, ist es meiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung, zu versuchen, die Merkmale eines Phänomens zu verstehen, das Elemente mit Erfahrungen wie denen in den Vereinigten Staaten und Brasilien gemeinsam hat, sich aber in anderer Hinsicht ganz radikal von ihnen unterscheidet. Offensichtlich ist in diesem Sinne das Fehlen jeglichen nationalistischen Bezugs, wie die Tatsache zeigt, dass Milei offen Argentiniens große Feindin Margareth Thatcher als eines seiner politischen Vorbilder nennt [2].

Ich werde mich hier auf zwei Elemente konzentrieren, um zu versuchen, die Gründe zu erklären oder, besser gesagt, eine Hypothese über die Gründe aufzustellen, die Milei zur Präsidentschaft geführt haben: die Idee der Freiheit und die Idee der Kaste, die jeweils im Mittelpunkt dessen stehen, was wir als einen kulturellen Kampf und einen moralischen Kampf definieren können. 

Freiheit (Libertà)

Die Art und Weise, wie die Idee der “Freiheit” in den letzten Jahren in der argentinischen Debatte zirkulierte, ist ein Schlüsselelement bei der Analyse des Erfolgs der liberalen Ultra-Rechten. “¡Viva la libertad. Carajo!” – mehr oder weniger: “Es lebe die Freiheit. Fuck!” – ist der Slogan, der Milei berühmt gemacht hat. Er hat ihn in das offizielle Buch der Casa Rosada geschrieben, sobald er den Präsidentenstab in die Hand nahm, aber vor allem hat er ihn schon vor seinem Einstieg in die Politik zwanghaft wiederholt, als dieser Wirtschaftswissenschaftler mit mittelmäßiger wissenschaftlicher Produktivität – zumindest nach den von den Anhängern der globalen akademischen Welt [3] so geschätzten Maßstäben – und heftiger verbaler Inkontinenz ein gern gesehener Gast in den TV-Talkshows war, die ihn berühmt gemacht haben. Das wiederholt er auch heute noch, wenn er im Flugzeug Passagiere beschimpft, die zufällig mit ihm reisen, oder wenn er nach einem Auftritt seiner nachahmenden Freundin Fátima Flórez überraschend die Bühne betritt, um das Publikum zu begrüßen.

Libertad Avanza hat sich in den Mittelpunkt eines sehr aggressiven Kulturkampfes gestellt. Libertad Avanza hat das Wort ergriffen und dank einer skrupellosen Kampagne, die vor allem in den sozialen Netzwerken, die vor allem von sehr jungen Menschen genutzt werden, durchgeführt wurde, ist es gelungen, den Wunsch der Argentinier nach mehr Freiheit in den Wahlen zu verwerten.

Ausgehend von der Konzeption der österreichischen Wirtschaftsschule ist die Freiheit der Libertären eine Freiheit, die immer individuell und negativ ist. Auch wenn es sich um eine wirtschaftliche Freiheit handelt – letztlich ist es die Freiheit des Kapitals -, bezieht sie sich auf den Schutz des Einzelnen vor den Einschränkungen anderer, vor der “Tyrannei” des Staates.

Der harte Kern von Mileis Anhängern ist eine Gruppe junger Menschen, vor allem Männer zwischen 16 und 30, die sich in den letzten zwei Jahren politisiert haben. Für diese jungen Leute, die nach den Jahren der Hegemonie des Washingtoner Konsenses (Wiki Eintrag dazu, d.Ü.) geboren wurden oder zu jung sind, um sich aus erster Hand an dessen Auswirkungen zu erinnern, ist das Adjektiv “liberal” kein Schimpfwort. Sie bezeichnen sich mit Stolz als rechts, sind vehement antifeministisch und oft gegen das Recht auf Abtreibung; viele von ihnen konsumieren Texte der Hoover Institution, des Blogs des Mises-Instituts, aber auch die lokalen Epigonen, die libertäre Ideen in sozialen Netzwerken, insbesondere Tik Tok, verbreiten. Unabhängig von ihren persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen unterstützen sie eine Agenda, die die “Kettensäge” zu ihrem Schlachtross macht: Abschaffung zahlreicher Ministerien, Reduzierung der Steuerlast, der monetären Grundmenge, deren Verringerung als einziges Mittel angesehen wird, um aus der im Land herrschenden Inflationsspirale herauszukommen, usw. Wie die Forscherin Melina Vázquez feststellte, handelt es sich dabei um junge Menschen, die der kirchneristischen Erfahrung äußerst kritisch gegenüberstehen, die aber Formen der Organisation und der jugendlichen Militanz aus dem Kirchnerismus übernehmen.  Dies ist zweifellos eines der besonderen Merkmale der neuen argentinischen Rechten: Anders als die Regierung von Mauricio Macri (2015-2019) hat die von Milei Unterstützung unter den jungen Leuten, die mit der Linken und dem Peronismus um die historische Hegemonie auf der Straße ringen. Im Moment – zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels ist noch kein Monat seit der Amtseinführung vergangen – scheint dieser Kern bereit zu sein, die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten zu verteidigen, selbst wenn sich ihre materiellen Lebensbedingungen verschlechtern.

Wenn Mileis Liberalismus die Schlacht der politischen Vorstellungskraft gewonnen hat, wie der Politikwissenschaftler Pablo Méndez [4] argumentiert hat, dann liegt das nicht nur daran, dass der Kern der jungen Menschen politisch als Liberale geformt wird, sondern auch daran, dass die “Freiheit”, an die er appelliert, keine eindeutige Bedeutung hat und Menschen anspricht, die anders denken. Am 29. November – Milei war seit etwas mehr als einer Woche gewählter Präsident – berichtete ein Artikel von Federico D’Addario in der Tageszeitung Pagina 12 von einem Wortgefecht, das sich in einem der Bahnhöfe der Mitre-Linie abspielte, deren verschiedene Zweige das Stadtzentrum mit dem weiten westlichen Hinterland der argentinischen Hauptstadt verbinden. Die Protagonisten: ein Straßenverkäufer und zwei Polizisten, die ihn ohne viel Federlesens aus dem Weg räumen wollen. Als sich der Streit zuspitzt, beschwert sich der Verkäufer von Kirsch- und Cherrytomaten bei den Polizisten, dass sie ihm “die Freiheit nehmen, dort zu arbeiten, wo ich will”, und fährt fort: “Die Zeit, in der Sie uns nicht arbeiten lassen, ist vorbei”. Einer der Polizisten, die inzwischen zahlreicher geworden sind, antwortet daraufhin verärgert: “Nein, nichts ist vorbei. Für euch ist die Party vorbei” [5]. 

Im Falle des Straßenhändlers scheint die Freiheit in Bezug auf den Staat gedacht zu werden, der denjenigen, die versuchen, über die Runden zu kommen, das Leben schwer macht. Diejenigen, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, manchmal sogar an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität, sind eines Staates überdrüssig, der Genehmigungen und Lizenzen verlangt und den sie oft mit ihrem direktesten Gesprächspartner identifizieren: der Polizei. Für den anderen Protagonisten der Szene bedeutet die Wahl von Milei “das Ende der Party” für diejenigen, die wie der Straßenhändler von der Opportunität leben, aber vor allem auch das Ende der Menschenrechtspolitik, die ihm die Hände bindet. Das von Ministerin Patricia Bullrich am 14. Dezember angekündigte neue Protokoll zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, das darauf abzielt, soziale Proteste illegal zu machen, und die neuen “Regeln zur Selbstverteidigung”, die im Ley Omnibus enthalten sind, vermitteln den Eindruck, dass die Männer und Frauen in Uniform sich nicht allzu sehr für etwaige “Exzesse” verantworten müssen, im Gegenteil, sie werden mit der vollen Unterstützung der Exekutive rechnen können.

Ein grundlegender Anstoß für eine bestimmte Art des Freiheitsdenkens ging auch vom No-Vax-Horizont aus. Der Aufschwung von Milei bei den Wahlen geht auf die Zeit nach der sehr langen Quarantäne zurück. Damals wurden die Masken, die von einem Moment auf den anderen zu einem Teil unseres Alltags wurden, verbrannt. In der chaotischen Landschaft jener Monate standen die Nachfrage nach “westlichen” Impfstoffen – Pfizer und Moderna wurden gefordert, während Sinopharm und Sputnik verabreicht wurden -, Anschuldigungen wegen Massenvergiftung und die Anprangerung der Geschäfte der multinationalen Pharmakonzerne auf der Straße nebeneinander. Die Kritik an der Regierung wegen einiger Entgleisungen, die ebenso unverständlich und harmlos wie ungerechtfertigt und symbolträchtig waren, sorgte für Unmut, vor allem bei den nicht garantierten Segmenten, den informellen Arbeitnehmern oder den Selbstständigen, für die zu Hause zu bleiben bestenfalls bedeutete, nichts zu verdienen und schlimmstenfalls erhebliche Verluste anzuhäufen. Aber im Allgemeinen begann sich in diesem Zusammenhang eine Vorstellung von Freiheit als Abwesenheit von Konditionierung, als Abwesenheit von Einmischung zu verallgemeinern.

Die negative Freiheit der Liberalen hat sich bei denjenigen durchgesetzt, die frei sein wollen von denen, die die Menschen- oder Sozialrechte verteidigen, von denen, die verhindern, dass Menschen dort arbeiten, wo sie wollen, von denen, die Menschen nicht erlauben, ihre Wohnung ohne nachweisbare Gründe zu verlassen, von denen, die Menschen zum Impfen zwingen, von denen, die auf einer App die Erlaubnis verlangen, mit dem Bus oder der U-Bahn zu fahren, usw. In dieser Hinsicht sind bestimmte Sehnsüchte nach Freiheit – offensichtlich nicht zufällig – auf den ideologischsten Teil der libertären Wählerschaft gestoßen.

Die Frage ist, wie viele von denen, die sich von dieser Idee der Freiheit haben verführen lassen, das libertäre Projekt weiterhin unterstützen werden, wenn die Auswirkungen der Stagflation, der Mischung aus Inflation und Schrumpfung der Wirtschaftstätigkeit, die die Regierung selbst für die kommenden Monate erwartet und die sich bereits nach wenigen Wochen Regierungszeit am Horizont abzeichnet, deutlicher sichtbar werden. Hierauf wird man in Zukunft zurückkommen müssen. 

Die Kaste (la casta) 

Milei gewann zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang fast 26 Prozentpunkte hinzu. Es ist wichtig zu verstehen, wie es einem hetzerischen Programm wie dem von Milei gelang, so viele Präferenzen bei denjenigen zu gewinnen, die ihn im ersten Wahlgang nicht gewählt haben. Das erste zu berücksichtigende Element ist der Anti-Peronismus. Seit den 1940er Jahren spaltet der Peronismus die argentinische Gesellschaft weit mehr als die klassische Links-Rechts-Spaltung, von der sie durchzogen ist. Der Anti-Peronismus, der in den letzten 15 Jahren zum Anti-Kirchnerismus geworden ist, als Antwort auf die hegemoniale Version des Peronismus, garantiert jedem Kandidaten, der sich als Opposition präsentiert, eine Stimmenbasis. Trotz des “gemäßigten” Kandidaten Massa [6] und trotz der lauwarmen Unterstützung eines großen Teils des historischen Gegners des Peronismus, der Unión Cívica Radical (UCR), ist es klar, dass die antiperonistische Stimmung in einem Teil der Wählerschaft vorherrscht.

Aber dieses Gefühl erklärt nicht ganz den Erfolg von Milei. In einer Zeit der Krise, wie sie Argentinien in den letzten Jahren durchlebte, ging der oben beschriebene Kulturkampf mit dem moralischen Kampf gegen die “Kaste” einher, der auch mit der Krise eines Landes zu tun hatte, das zum Zeitpunkt der Wahlen eine jährliche Inflation von 140 % und eine Währungsabwertung verzeichnete, die die Reallöhne trotz der Aufwärtsbewegung nach unten drückte [7]. Die Wut auf die politische Kraft, die für die Verschlechterung der Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung verantwortlich gemacht wurde, veranlasste einen Teil der Wählerschaft, für den Neuen, den Außenseiter zu stimmen.

“Tiene miedo, la casta tiene miedo” (Die Kaste hat Angst). Stadionchöre, gesungen von Mileis jüngeren Anhängern, begleiteten den gesamten Wahlkampf. Ein Déjà-vu, das an mindestens zwei Schlüsselmomente in der jüngeren Vergangenheit Argentiniens erinnert, sich aber deutlich von diesen unterscheidet.

Zeitlich am nächsten liegt das Jahr 2008. Damals führte die Änderung der Steuerregelung für Sojaexporte zu einem Konflikt zwischen dem so genannten “Lager”, den Agrarverarbeitern, und der Regierung der damaligen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner. Die Regierung hatte auf eine Polarisierung in einer populistischen Tonart gesetzt: Volk gegen Elite. Die so genannte “grieta” (Riss oder Spaltung), die damals entstand, hatte die klassische Spaltung zwischen Peronismus und Anti-Peronismus neu codiert: Auf der einen Seite das (kirchneristische) Vaterland, ein Vaterland, das sich der Kirchnerismus als fortschrittlich und inklusiv vorstellte, neokeynesianisch/postneoliberal, aber nicht antikapitalistisch – es sei daran erinnert, dass an den Ufern des Rio de la Plata kein Bezug zum Sozialismus des neuen Jahrhunderts zu finden war, wie in Venezuela oder Bolivien, und selbst in der Außenpolitik herrschte größere Zurückhaltung – und auf der anderen Seite eine Elite, die sich aus den wichtigsten Akteuren des Agrarexportsektors zusammensetzte und deren Interessen denen des Volkes entgegengesetzt waren. Diese Spaltung wurde jedoch von der gesamten antikirchneristischen Front von rechts her wiederbelebt, die ihrerseits die Trennlinie zwischen dem produktiven Argentinien, vor allem den Provinzen Córdoba, Mendoza, Santa Fe und einem Teil der Provinz Buenos Aires, und dem subventionierten Argentinien, vor allem dem Hinterland von Buenos Aires, das nach diesem Narrativ von den Steuern der Produzenten leben würde, zog.  Emblematisch in diesem Sinne waren die zahlreichen Demonstrationen unter dem Motto “El campo somos todos” (Das Feld sind wir alle) in einer Region wie Lateinamerika, in der die Grundbesitzkonzentration weiterhin eines der grundlegenden Probleme darstellt. In jedem Fall gelang es dieser Opposition, als Komplize des Endes des expansiven Wirtschaftszyklus und des Rückzugs des Kirchnerismus auf die Agenda der Rechte (egalitäre Ehe, Geschlechteridentität usw.), alle Kräfte, die sich gegen den Kirchnerismus wandten, mit Ausnahme des Trotzkismus, aber einschließlich “Teilen” des Peronismus, um die Figur von Mauricio Macri, dem damaligen Gouverneur der Stadt Buenos Aires und Ausdruck der Wirtschaftselite, zu versammeln und einer Koalition Leben einzuhauchen, die bei den Wahlen 2015 gewann.

Darüber hinaus hatte sich in den Tagen des Dezembers 2001 eine kastenfeindliche Stimmung herausgebildet, als die Parole “¡Que se vayan todos!  (Lasst sie alle verschwinden) kursierte. Die Zeit der Konvertierbarkeit – die Peso/Dollar-Parität -, die dem Land in den 1990er Jahren eine beispiellose Währungsstabilität beschert hatte, die aber mit dem Zusammenbruch des Arbeitsmarktes und der Zunahme der Ungleichheit einen hohen sozialen Preis hatte, war den Argentiniern mit dem berüchtigten “corralito” ins Gesicht gesprungen: der Unmöglichkeit, Geld von ihren Konten abzuheben. Wie der Historiker Pablo Stefanoni argumentiert hat, standen in diesem Fall die Gegner des Neoliberalismus und die Befürworter des Neoliberalismus, die von ihm betrogen worden waren, Seite an Seite [8]. Die Unfähigkeit des Peronismus, soziale Bewegungen zu repräsentieren, die mit neoliberalen Reformen verbunden war – und es ist kein Zufall, dass Milei den damaligen Präsidenten Carlos Menem für den besten argentinischen Präsidenten in der Geschichte hielt -, hatte das Entstehen einer transversalen Bewegung gegen diejenigen begünstigt, die das Modell verwaltet hatten – Peronismus und de la Rúas Alianza -, aber auch gegen die großen Wirtschaftsakteure.

Obwohl das Wort “Kaste” nicht verwendet wurde, nahmen das “Lager” im Jahr 2008 und das politisch-wirtschaftliche Establishment im Jahr 2001 diesen Platz ein. Milei hingegen führte den Begriff in die politische Debatte Argentiniens ein, indem er ihn in einem Interview mit der konservativen Tageszeitung La Nación im Jahr 2021 folgendermaßen erklärte: “Diejenigen, die in der Politik tätig sind, sind unmoralisch” und zögern nicht, eine Politik zu betreiben, “die dem Volk schadet, und um die Privilegien der Kaste zu schützen, sagen sie: Nein, ihr könnt nichts anderes tun”. Ein frisch gewählter Milei erklärte in demselben Interview, er werde “aufzeigen, wer die Kaste ist”. Zu dieser völlig inhaltsleeren Definition, die perfekt auf das Gemetzel der ersten Wochen seiner Amtszeit zutrifft, fügte er im selben Interview hinzu: “Im Gegensatz zu den Katastrophen von 2001, 2002 und 2003, für die es eine linke Lösung gab, gibt es heute eine wirklich liberale Lösung, die Lösung von Alberdi, die Argentinien zum reichsten Land der Welt gemacht hat” [9].

Zwei Elemente stechen hervor. Nicht nur, dass Mileis Definition der Kaste im Gegensatz zu 2001 und 2008 das verdichtete Kapital ausklammert, er verweist auch auf das Argentinien des 19. Jahrhunderts als ein verlorenes Paradies (Alberdi war einer der Väter des lateinamerikanischen Liberalismus und der argentinischen Verfassung von 1853). Außerdem geht Milei im Vergleich zu allen Rechten, die seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) einen gewissen Einfluss hatten, einen Schritt in eine autoritärere Richtung: Wenn während der Macrist-Regierung von den “siebzig Jahren Peronismus” die Rede war, um auf die argentinische Dekadenz anzuspielen – lassen wir einmal beiseite, dass in dieser Rechnung 18 Jahre Verbot des Peronismus und fast 17 Jahre Diktatur enthalten waren -, so spricht Milei von 100 Jahren und bezieht damit auch die andere große argentinische Partei, die mit dem Macrismus verbündete Unión Civica Radical (UCR), in den “Populismus” ein und fügt die Dekadenz und das allgemeine Wahlrecht für Männer fast vollständig übereinander. [10]

Der Liberalismus aus der Zeit der so genannten konservativen oder oligarchischen Republik, einer Ära, die durch die Unfähigkeit der unteren Schichten gekennzeichnet war, die wenigen formalen Rechte, die sie hatten, auch materiell zu genießen, ist die mythische Vergangenheit, zu der sie zurückkehren wollen. Dieser Liberalismus, der für Milei nicht für alle, sondern nur für “gute Menschen und anständige Argentinier” gilt, begann bereits am 11. Dezember zu scheitern, als die Gesichter seiner Sympathisanten noch von den vielen in der Sonne verbrachten Stunden des Jubels über den Beginn einer neuen Ära glühten.

Anmerkungen

[1] E. Calvo, Un nuevo actor político, Le Monde Diplomatique, Dezember 2023. https://www.eldiplo.org/294-que-nos-espera/un-nuevo-actor-politico/

[2] Margareth Thatcher war die britische Premierministerin zur Zeit des Malwinen-Krieges, der immer noch ein wichtiges Thema in der argentinischen Außenpolitik ist. 

[3] Die Scopus-Datenbank zeigt, dass Milei von 1998 bis heute 2 Artikel veröffentlicht hat (einen als Co-Autor) und genau null mal zitiert worden ist.

[4] P. Méndez, Milei y la batalla por las ideas, Revista Bordes, 15. August 2023. http://revistabordes.unpaz.edu.ar/milei-y-la-batalla-por-las-ideas/

[5] F. D’Addario, A ustedes se les acaba la joda, Seite 12, 29. November 2023. https://www.pagina12.com.ar/690118-a-ustedes-se-les-acaba-la-joda

[6] Bei den Präsidentschaftswahlen 2015 trat Massa gegen den kirchneristischen Kandidaten Daniel Scioli an, erhielt im ersten Wahlgang 20% der Stimmen und “lenkte” sie in der Stichwahl auf Macri um. Er gilt als sehr verbunden mit bestimmten Botschaftskreisen (wenn man von “Botschaft” in Argentinien spricht, muss man nicht “USA” angeben).

[7] Die für die ersten Monate der Regierung Milei erwartete Inflation liegt bei rund 30% pro Monat.

[8] P. Stefanoni, Peinar el 2001 a contrapelo: del “argentinazo” a la nueva derecha, Nueva Sociedad, 308, 2023, S. 74-87.

[9] Programm “Hora21”, La Nación+, 11. Dezember 2021.

[10] Das Saenz-Peña-Gesetz, mit dem das allgemeine Wahlrecht für Männer verankert wurde, stammt aus dem Jahr 1912, aber erst 1916 konnten alle männlichen argentinischen Bürger ihr Wahlrecht ausüben.

Veröffentlicht auf Italienisch am 15. Januar 2024 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.