Shane Burley führte ein Interview mit Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer, das hier als gekürzte Fassung eines längeren Interviews aus der Episode Juli 2023 des Podcasts (hier im Original anhören) ‘Strangers in a Tangled Wilderness’ präsentiert wird. Die Diskussion bezieht sich stark auf das Buch ‘With Freedom in Our Ears: Histories of Jewish Anarchism’, herausgegeben von Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer.
Shane: Seit etwa 2019 höre ich immer mehr von Leuten, die sich nicht nur als jüdisch bezeichnen, sondern sich selbst als spezifisch jüdische Anarchisten bezeichnen. Das scheint Teil einer Welle des Interesses an der historischen Beziehung zwischen Anarchisten und Juden zu sein, insbesondere in den USA unter den Immigrantengemeinschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese jüdischen Radikalen waren unglaublich einflussreich beim Aufbau der Arbeiterbewegung und der Linken im Allgemeinen, aber es sind dieselben Anarchisten, die in der Geschichtsschreibung oft völlig ausgeblendet werden. Während also die jüdische Beteiligung an Organisationen wie der Kommunistischen Partei gut dokumentiert ist, so waren sie auch ein wichtiger Schwerpunkt rechter Verschwörungstheorien. Der starke Einfluss jüdischer Anarchisten auf diese Historie wird oft ausgeblendet. Kürzlich hat ‘Verso’ ein inzwischen klassisches Buch mit dem Titel ‘Yiddishland’ über die Rolle jiddischsprachiger Juden in der Linken neu aufgelegt. Der anarchistische Zusammenhang ‘CrimethInc’ veröffentlichte daraufhin eine Rezension, in der er feststellte, dass sein Exemplar fehlerhaft war – das Buch erwähnte keine Anarchisten. In den letzten Jahren sind also eine Reihe von Organisationen entstanden, die diese Idee des jüdischen Anarchismus in einem wirklich organisierten Sinne wiederbelebt haben. Es gibt jüdisch-anarchistische Diskussionsgruppen auf Plattformen wie Discord und Signal. Es gibt radikale jüdische Kollektive wie “Rebellious Anarchist Young Jews” und das “Fayer Collective”, das die Leute wahrscheinlich kennen, weil sie kürzlich einen Artikel über direkte Aktionen und die Bewegung “Stop Cop City” vor den Toren Atlantas geschrieben haben, der in “Jewish Currents” veröffentlicht wurde. Das Jiddische selbst erlebt unter Anarchisten und Radikalen ein Revival, und das gibt vielen Leuten die Möglichkeit, alte Dokumente der jüdischen Geschichte zu lesen, die lange Zeit übersehen oder nicht übersetzt wurden.
Die aktuelle Welle des jüdischen Anarchismus hat auch einige Wegmarken auf dem Weg dorthin gesetzt. In letzter Zeit haben einige große Veranstaltungen und Bücher das Interesse der Menschen geweckt, wie die Jiddische Anarchisten-Konferenz, die 2019 vom YIVO-Institut ausgerichtet wurde, und auch neuere Bücher wie Cindy Milsteins ‘There’s Nothing So Whole as a Broken Heart’ oder Hayyim Rothmans ‘No Masters but God’ stießen auf großes Interesse. Und es gab auch gerade eine Diskussion darüber, dass dies in Zusammenhang mit dem Wachstum der jüdischen Linken in den USA mit Projekten wie Jewish Currents und jüdischen antizionistischen Gruppen geschieht. All das zeigt, dass ein kultureller Wandel im Gange ist und dass die Menschen versuchen, etwas wieder aufzubauen, das sie als spezifisch jüdischen Anarchismus betrachten. Dafür scheint es eine Reihe von Gründen zu geben. Junge Juden wollen aktiv am jüdischen Leben teilnehmen, fühlen sich aber von der vorherrschenden Welt der NGOs und modernen Synagogen nicht vertreten. Sie wollen oft, dass das Judentum ihre Politik außerhalb der Welt des Zionismus beeinflusst, und sie entdecken auch die Tiefe der jüdischen Tradition wieder, um die Welt neu zu gestalten. Es gibt also durchaus Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie wir über den historischen jüdischen Anarchismus sprechen, und der Art und Weise, wie viele Leute ihn heute wiederbeleben. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fokus auf jüdisches religiöses Leben und jüdische Rituale und eine Art Hinwendung zu chassidischen und spirituellen oder philosophischen Quellen, um sie für radikale Politik zu nutzen. Damit stehen wir aber immer noch am Anfang der langen Geschichte des jüdischen Anarchismus in den USA und der ganzen Welt. Und so tauchen einige radikale HistorikerInnen in weitgehend unübersetzte Archive ein, um zu versuchen, diese Geschichte für eine ganz neue Generation von Menschen zugänglich zu machen. Das bringt uns zurück zu dem Buch, über das wir hier sprechen: ‘With Freedom in Our Ears: Histories of Jewish Anarchism’, eine Anthologie von Schriften und wissenschaftlichen Arbeiten über die Geschichte des jüdischen Anarchismus, die sich speziell darauf konzentriert, wie anarchistische Veröffentlichungen, Übersetzungen und transkulturelle Organisierung zum Aufbau einer einzigartigen revolutionären Bewegung beigetragen haben. Das Buch wird von zwei der wichtigsten Historiker herausgegeben, die sich mit dieser Arbeit befassen: Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer.
Ich habe mich sehr gefreut, die beiden Herausgeber des Buches über diese Geschichte zu befragen und darüber, welche Lehren sich daraus für die Zukunft des Anarchismus und des jüdischen Gemeindelebens ergeben. Ich bin neugierig darauf, wie Sie beide dazu gekommen sind, über jüdisches Leben zu sprechen oder sich für jüdisches Leben zu engagieren, und auch auf Ihre Geschichte mit dem Anarchismus.
Anna: Ich bin in der Bronx aufgewachsen, in den ‘Amalgamated Cooperatives’, die als Gewerkschaftswohnungen von der ‘Amalgamated Clothing Workers of America’ gebaut wurden. Amalgamated, wo ich aufwuchs, war eine von drei sogenannten ‘Bronx Utopias’. Dabei handelte es sich um Wohnexperimente, die von sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Ideen geprägt waren und hauptsächlich von russischen Juden errichtet wurden, die in den 1920er Jahren nach New York City kamen. Im Rahmen von Amalgamated gab es eine Reihe von Projekten der gegenseitigen Hilfe, die während der Großen Depression alle Zwangsräumungen verhinderten. Es gab ein Bussystem, mit dem die Arbeiter von der Bronx zu den Bekleidungsfabriken in der Lower East Side fahren konnten. Es gab ein kostenloses Milchprogramm für Kinder. Es gab eine Bibliothek. Es gab ein Theater. Diese Einrichtungen waren quasi in die Infrastruktur der Gewerkschaftshäuser integriert. Dort bin ich also aufgewachsen, und die Menschen um mich herum waren größtenteils im Alter meiner Großeltern. Und viele von ihnen waren sowjetische Dissidenten. Die Art und Weise, wie sie sozialistische und anarchistische Ideale tagtäglich praktizierten, war sehr selbstverständlich, und es gab auch ein Gespür für eine tiefere Geschichte in dieser Gemeinschaft in der Bronx.
Ich bin außerdem in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde aufgewachsen, so dass ich diese sehr umfassende Vorstellung von jüdischer Gemeinschaft hatte, bei der man auf dem Papier denken könnte: “Okay, wie kann es sein, dass du Schabbat hältst und koscher lebst und gleichzeitig in einem sozialistischen Raum lebst? Es mag widersprüchlich erscheinen, wenn man diese Formationen nur auf dem Papier betrachtet, aber in der Praxis fühlte es sich einfach wie eine sehr expansive Art an, sich zum Judentum zu verhalten, Teil mehrerer Gemeinschaften zu sein. Einige der Praktiken, mit denen ich aufgewachsen bin, wie z. B. koscher zu leben (und jetzt vegan zu sein), haben zusätzliche Bedeutungen bekommen. Oder das Einhalten des Schabbats, mit dem ich aufgewachsen bin: Das habe ich beibehalten, aber auch neu definiert, als Widerstand gegen die totalisierende Wirkung des Arbeitslebens! Es gibt Kontinuitäten, obwohl man diese Aspekte auch als widersprüchlich ansehen könnte. Ich denke, es sind tatsächlich diese Resonanzen und Kontinuitäten und die Art und Weise, in der diese Formen des Jüdischseins ineinander übergehen können, und beide haben für mich eine anarchistische Dimension.
Shane: Kenyon, ich glaube, Du kommst aus einem etwas anderen Umfeld. Wie bist Du dazu gekommen, den Anarchismus zu studieren und wie bist Du dazu gekommen, ein Historiker des jüdischen Lebens zu werden?
Kenyon: Ich bin im ländlichen Nordkalifornien aufgewachsen. Ich habe keine jüdischen Vorfahren, von denen ich wüsste. Ich wuchs in einer nicht-religiösen Familie auf. Während meines Studiums Anfang der 2000er Jahre geriet ich in den Bannkreis der so genannten Antiglobalisierungsbewegung und lernte dadurch anarchistische Politik und Aktivismus kennen. Gleichzeitig bewegte ich mich als Student mehr und mehr in Richtung eines akademischen Historikers, und die beiden Interessen schienen sich auf natürliche Weise zu überschneiden, als ich mich für den Anarchismus in der damaligen Gegenwart und seine historischen Wurzeln interessierte. Bei der Erforschung der Geschichte des Anarchismus in den Vereinigten Staaten wurde mir sehr schnell klar, dass es einige große Lücken in den historischen Aufzeichnungen gab. Eine davon war die gesamte Geschichte der jiddischsprachigen Anarchisten in den Vereinigten Staaten, über die zu diesem Zeitpunkt praktisch nichts veröffentlicht worden war. So kam es, dass ich mich mit dieser Geschichte beschäftigte. Während meines Studiums lernte ich dann Jiddisch zu lesen, um einen Teil dieser Forschung betreiben zu können, denn niemand sonst hatte das getan. Ich hatte das Gefühl, dass ich für alles, was mich sonst noch interessierte, zuerst einige dieser Grundlagen haben musste. Schließlich schrieb ich meine Doktorarbeit und mein erstes Buch über jiddisch- und italienischsprachige Anarchisten in den USA, und von da an hat sich alles mehr oder weniger verselbständigt.
Anna: Ich denke, es ist erwähnenswert, dass Kenyon und ich in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der vergleichenden Literaturwissenschaft. Aber wir haben uns beide mit der tiefgreifenden Auslöschung des jüdischen Anarchismus in unseren jeweiligen Bereichen befasst. Eine der Hoffnungen für das Buch war es, gemeinsam eine interdisziplinäre Antwort auf die mehrfache Abwesenheit und die mehrfache Auslöschung in verschiedenen Bereichen zu schaffen.
Shane: In dem Buch geht es wirklich darum, wie viele dieser Politiken mit dem Alltagsleben der Menschen interagierten, und zwar nicht losgelöst, nicht einmal notwendigerweise subkulturell, sondern etwas, das an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Gemeinschaften tatsächlich wirksam war. Welche Rolle spielte der Anarchismus deiner Meinung nach im jüdischen Alltagsleben? Ist er etwas, das vielen Gemeinden fremd war, oder glaubst du, dass viele jüdische Gemeinden, Juden aus der Arbeiterklasse und Einwanderer eine Beziehung dazu hatten, etwas darüber wussten oder dass er ihre Lebenswelt beeinflusst hat?
Kenyon: Ja, ich denke, ein Teil dessen, was an der von Anna erwähnten historischen Ausradierung so verblüffend ist, ist, dass man im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert praktisch überall Jiddisch sprechende Juden fand, und dass der Anarchismus ein institutionalisierter Teil des täglichen Lebens war. Anarchisten waren Führer, Organisatoren und Mitglieder der überwiegend jüdischen Gewerkschaften. Sie gaben Zeitungen wie die ‘New Yorker Fraye Arbeter Shtime’, die Freie Stimme der Arbeit, heraus, die nicht nur eine wichtige anarchistische Zeitung war, sondern auch ein wichtiges Tribunal für jiddische Poesie, Literatur und Kulturkritik, das von jiddischen Lesern vieler verschiedener politischer Überzeugungen gelesen und ernst genommen wurde. Und jiddische, anarchistische Intellektuelle waren in allen möglichen Bereichen einflussreich und geachtet, von Ärzten bis hin zu Übersetzern, Dramatikern, Soziologen, Kulturkritikern und Dichtern. Also ja, für die meisten – in diesem Fall vor allem für die jiddischsprachige jüdische Welt – war der Anarchismus eine ziemlich allgegenwärtige Präsenz.
Shane: Ich bin auch neugierig auf die Kehrseite der Medaille, nämlich die Rolle des Judentums im Leben der Radikalen. In dem Buch wird eine gewisse Ambivalenz zwischen jüdischen Radikalen und dem religiösen Leben deutlich. Vielleicht kamen sie aus religiösen Gemeinschaften, die sie als einschränkend empfanden, aber sie waren auch Teil einer radikalen Politik, die den religiösen Gemeinschaften gegenüber kritisch eingestellt war. Ich glaube, das ist etwas ganz anderes, wenn man heute über jüdischen Anarchismus spricht, wo es viel mehr eine Wiederentdeckung der jüdischen Tradition gibt. Welches Verhältnis hatten Euer Meinung nach die jüdischen Anarchisten zum Judentum? Unterscheidet es sich von dem, was wir heute unter jüdischer Praxis verstehen?
Anna: Ich denke, man kann durchaus sagen, dass man manche historischen Texte sehr detailliert lesen sollte, um herauszufinden, wie eine bestimmte Figur ein Vokabular aus dem jüdischen religiösen Kontext verwendet. Und sie signifizieren es neu, oder sie erfinden es neu, oder sie benutzen es für ein neues, radikales Ziel. Gleichzeitig geht dies einher mit einer Ablehnung des religiösen Patriarchats, des Rabbinats und der religiösen Macht. Es gibt diese vielfältigen Aspekte. Ein sehr bekanntes Phänomen sind die Jom-Kippur-Bälle, die in vielen Gegenden stattfanden. Dabei handelte es sich um spektakuläre Proteste vor den Synagogen an Jom Kippur. Die Menschen verkleideten sich und tanzten, spielten Musik und aßen demonstrativ Schinkenbrote. Dazu wurden auch Texte verfasst, die hebräische religiöse Texte parodieren sollten. Aber um eine Parodie auf religiöse Texte zu schreiben, muss man den Text natürlich sehr gut kennen.
Auch aus sprachlicher oder literarischer Sicht kann man sehen, wie die jüdische Tradition mit einer Art radikalem Blick neu erfunden wurde. Anna Margolin zum Beispiel, eine jiddische Schriftstellerin der Moderne, beschrieb sich selbst in einem Brief, in dem sie sagte: “Ich war immer eine Anarchistin. Ich war nie in der Lage, Atheistin zu sein. In Zeiten der Not habe ich sogar mit Gott gesprochen und ihm die Hölle heiß gemacht.” Und das ist eine Möglichkeit, den psychologischen Spagat zu modellieren, mit einem religiösen Hintergrund aufzuwachsen und ihn dann in gewisser Weise in Richtung Anarchismus neu zu erfinden.
Kenyon kann auch mehr über die breitere Art und Weise berichten, in der die Anti-Religiosität mobilisiert wurde, insbesondere die Kritik am religiösen Patriarchat und die Vorstellungen von Jüdischsein als Auserwähltsein oder Separatismus. Das ist eine der Spannungen des jüdischen Anarchismus, würde ich sagen.
Kenyon: Ja. Ich denke, im Großen und Ganzen hätte sich zumindest die große Mehrheit dieser jüdischen Anarchisten als militante Atheisten betrachtet, auch wenn sie sich auf Vokabular, Symbole und sogar Konzepte aus der jüdischen religiösen Tradition stützten. Das war die Sprache und die Konstellation von Konzepten und Symbolen, die ihnen zur Verfügung standen und die sie für ein jüdisches Publikum verständlich machen würden. Und natürlich gab es immer Ausnahmen. Es gab Leute wie den russisch-jüdischen Anarchisten Abba Gordin, die ganz explizit versuchten, das Judentum mit ihrem Anarchismus zu verbinden – in einigen Fällen behaupteten sie sogar, das Judentum sei in seinem Kern eine anarchistische Religion. Diese Überzeugungen fanden eher am Rande der Bewegung statt. Ich denke, wie Du schon sagtest, Shane, das ist ein ganz anderer Kontext und eine ganz andere Auffassung von Religion, als wir sie heute in vielen Fällen sehen, wo es viel mehr Offenheit für religiöse und spirituelle Rituale gibt, wenn nicht sogar den Glauben an die Schaffung und Aufrechterhaltung einer eigenen, aber radikalen jüdischen Identität.
Shane: Ich bin neugierig auf die Rolle, die das Jiddische gespielt hat. Jiddisch scheint auch eine Art identitätsstiftende Eigenschaft gehabt zu haben. Wenn wir uns von den strengen religiösen Traditionen lösen, dann könnte der säkulare Weg für Ausdruck und Gemeinschaftsbildung in einigen Gemeinschaften auf dem Jiddischen aufgebaut werden. Welche Rolle spielten jiddische Publikationen beim Aufbau dieses Gemeinschaftsgefühls unter Juden und Nicht-Juden?
Kenyon: Das ist eine vielschichtige Frage, und zum Teil hängt es davon ab, über wen, wo und wann wir sprechen. Für jiddischsprachige jüdische Anarchisten waren jiddische Publikationen natürlich unglaublich wichtig. Obwohl man in vielerlei Hinsicht Parallelen zu anderen Sprachgruppen finden kann, wo die anarchistische Presse zu jener Zeit die Funktionen von Zeitungen, von dem, was wir heute als soziale Medien bezeichnen würden, und von anderen kulturpolitischen Medien kombinierte. Es handelte sich um länderübergreifend verbreitete Zeitschriften, die nicht nur über Ereignisse aus anarchistischer Sicht berichteten, sondern auch als Orte der Kommunikation zwischen Einzelpersonen und Organisationen dienten. Sie waren die Hauptzentren, über die die Finanzierung lief, sei es die Finanzierung der Zeitung, die Finanzierung der Verteidigung bei Gerichtsprozessen oder die Finanzierung des Spanischen Bürgerkriegs, die in erster Linie über Publikationen organisiert wurde. Debatten zwischen verschiedenen Fraktionen, verschiedenen Personen, wurden vor allem auf der schriftlichen Ebene ausgetragen. Es gab eine kulturelle Verbreitung von Literatur, Theaterstücken und Kulturkritik, aber auch, und das ist wichtig, Übersetzungen von nicht-jiddischen Texten ins Jiddische. All das war von großer Bedeutung. Aber es gibt auch andere Bereiche dieser historischen jüdisch-anarchistischen Bevölkerung, die entweder kein Jiddisch sprachen oder es vorzogen, andere Sprachen zu verwenden. Emma Goldman veröffentlichte ‘Mother Earth’ auf Englisch. Obwohl sie die ‘Fraye Arbeter Shtime’ las, schrieb sie fast nie auf Jiddisch. Das Gleiche gilt für Alexander Berkman, der die englischsprachige Zeitung ‘The Blast’ herausgab. Das waren Publikationen, die sich an ein ganz anderes Publikum richteten – nicht an ein spezifisch jüdisches Publikum, sondern an ein allgemeineres amerikanisches Publikum.
Shane: Eine Sache, die irgendwie interessant war, und das trifft auf eine Reihe von Beiträgen der verschiedenen Wissenschaftler zu, ist das diskussionsartige Element der Veröffentlichung, das den fehlenden Konsens in vielen sehr ernsten Fragen unter ihnen hervorhebt. Welches sind einige der wichtigsten Themen, die in den anarchistischen Publikationen derzeit diskutiert werden? Es gibt die Rolle der großen Gewerkschaften und der revolutionären Gewerkschaften, es gibt die Enteignung, es gibt ein ganzes Kapitel in dem Buch, das die Debatten um die Enteignung und den Diebstahl von Ressourcen von Rebellen für revolutionäre Bewegungen diskutiert, und auch die Sexualpolitik. Was waren für Euch einige der wichtigsten Debatten, die geführt wurden?
Kenyon: Viele von ihnen hatten, wenn man sie zusammenfasst, mit der Frage zu tun: “Was bedeutet es, gleichzeitig Jude und Internationalist zu sein?” Dies war verbunden mit der Frage: “Wie reagierst du auf den Zionismus?” Oder: “Wie reagierst du auf diese andere jüdische territoriale Bewegung, die ihren eigenen sozialistischen oder sogar anarchistischen Flügel hat?” “Was bedeutet das für die Sprache?” Bedeutet es, dass es, wenn man ein Internationalist ist – und besonders, wenn man in den Vereinigten Staaten lebt – und Klassensolidarität unter der gesamten Arbeiterklasse zeigen und fördern will, sinnvoller ist, zum Englischen überzugehen, oder sowohl Englisch als auch Jiddisch zu benutzen, oder sich auf Jiddisch zu konzentrieren und der Organisierung unter der jüdischen Arbeiterklasse Vorrang zu geben, zumindest auf kurze Sicht? Und doch sind dies Fragen, die explizit und implizit über ein paar Generationen von Anarchisten diskutiert werden. Das ist sozusagen eine Kategorie.
Eine andere ist die taktische. Du hast das Kapitel über Enteignungen erwähnt, und es gab Debatten über die Rolle der revolutionären Gewalt, wie auch immer man das definieren mag. Weisst du, es gibt eine frühe Phase der Bewunderung für die Propaganda der Tat. Dann, zumindest in jüdischen Kreisen, wird das weitgehend – aber nicht vollständig – unter der Vorliebe für Dinge wie Syndikalismus oder Bildung subsumiert.
Ich denke, es gibt noch eine dritte Kategorie von Argumenten, die sich um die Frage drehen: “Wie politisch ist das Persönliche genau?” Sind Geschlechterrollen, Patriarchat, Sexualität, ethnische Identität usw. für das Judentum und die jüdische Identität eher sekundäre oder periphere Themen, oder sind sie zentral? Es ist eine moderne Debatte über Intersektionalität im Gegensatz zum Primat von Klasse, Ethnizität oder ‘race’ bei der Konzeptualisierung des anarchistischen Kampfes und anarchistischer Ziele.
Shane: Das scheinen auch immerwährende Debatten zu sein. Ich meine, die kommen mir so bekannt vor aus politischen Debatten. Es sind immer wieder dieselben Diskussionen um die eigene Identität und den Internationalismus, die Rolle der persönlichen und zwischenmenschlichen Politik, insbesondere die Rolle von Gewalt oder Enteignung im Gegensatz zu, wie du sagtest, dem eher syndikalistischen Ansatz zur Organisierung der Arbeitsplätze.
Kenyon: Ja, und diese Debatten können auch je nach Ort radikal anders aussehen, oder es sind sogar dieselben Leute, die über Kämpfe an verschiedenen Orten sprechen. Wenn man sich zum Beispiel die ‘Fraye Arbeter Shtime’ anschaut – deren redaktionelle Linie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Propaganda der Tat weit entfernt hat und eher einem progressivistischen Ansatz folgt -, dann steht sie, als 1905 in Russland eine Revolution ausbricht, zu 100 % hinter den bewaffneten Revolutionen und den Enteignern der russischen Revolution von 1905, weil es ein ganz anderer Kontext ist. Es geht also weniger um ein ethisches Urteil als vielmehr darum, was in diesen unterschiedlichen Kontexten taktisch sinnvoll ist.
Anna: Wir haben über den Inhalt der Zeitungen gesprochen, aber ich möchte auch etwas über das Aussehen der Zeitungen sagen. Ihr Layout entsprach der Ästhetik der jeweiligen Zeit. Wenn Du Dir unter dem Begriff “anarchistische Zeitung” ein Zine vorstellst, das bei Kinkos veröffentlicht wird, möchte ich, dass Du Dir die Titelseiten vorstellst, zum Beispiel mit Frauen in Togas, die Banner mit den Namen der Zeitungen hochhalten, oder mit Motiven des Märtyrertums, wie rund um Haymarket, oder mit kosmischen Bestrebungen des Anarchismus. Optisch waren sie für die damalige Zeit sehr, sehr aufregend. Und wir haben auch Anzeigen auf der Rückseite, die einen Einblick in die ethnographische Welt der Leser der anarchistischen Presse geben: Es gab Anzeigen für Cafés und Anzeigen für andere Bücher, die man abonnieren konnte; oft warben die Zeitungen füreinander. “Wenn Sie Fraye arbeter shtime abonnieren, werden Sie sich über ein gebundenes Exemplar von Kropotkin freuen, das wir Ihnen schicken können.” Um also auf die materielle Geschichte hinzuweisen, die man durch das Lesen von Zeitungen erfahren kann: Eine Zeitung ist nicht nur ein Ausdruck von Meinungen an sich, sondern auch ein Objekt, das im ästhetischen und materiellen Leben der Menschen, die sie lesen, zirkuliert.
Shane: Wie hat sich das Jiddische verändert? Oder wie verändert es sich derzeit?
Anna: Nun, Sprache ist plastisch, sie ist immer plastisch. Wenn man sich die Wellen von Sprachreformen in der Sowjetunion anschaut, dann gab es sehr sorgfältig geplante Sprachreformprojekte als Teil eines sowjetischen imperialen Projekts, bei dem die Sprache neu buchstabiert wurde, um sie phonetisch lesbar zu machen. Es gibt also diese Art von politischer Plastizität des Jiddischen. Und in vielen linken Kreisen gab es zu dieser Zeit zum Beispiel sowjetische Schriftsteller, die den religiösen Korpus als eine Art Widerstand gegen die Verfolgung der sowjetischen Juden und als eine Art Wiederbehauptung einer bestimmten Identität, sogar innerhalb der Sprache, weiter verwendeten. An einem Ort kann diese Art von Sprache also Widerstand gegen Assimilation sein, und an anderen Orten kann die Sprachpolitik eine Geste in Richtung Internationalismus sein. Ich würde nicht sagen, dass es einen einzigen Kern oder eine einzige Sprachpolitik gibt. Es hängt so sehr von der Orthographie und dem Ort ab, und wir müssen immer historisieren, was mit dem Jiddischen in diesem Moment geschah.
Shane: Ich glaube, die große Frage, die sich mir stellte, als ich begann, dieses Buch zu lesen, und über die Wissenschaft und all die anderen Projekte, über die wir gesprochen haben, nachdachte, war, warum das Interesse am jüdischen Anarchismus in letzter Zeit so stark war und warum es sich über die Generationen hinweg erhalten hat. Warum scheint diese Forschung die Menschen wirklich tiefgreifend zu berühren?
Anna: Ich denke, der jüdische Anarchismus und seine Mehrsprachigkeit haben etwas sehr Großes an sich. Seine “Ja, und…”-haftigkeit. Man denke an die Bedeutung der Mehrsprachigkeit und stelle sie der zionistischen einsprachigen Ideologie gegenüber: nur Hebräisch und nichts als Hebräisch. Die jüdische anarchistische Sprachpolitik hat etwas Großes und Vielfältiges an sich. Aber gleichzeitig ist der Anarchismus unerbittlich gegen den Kapitalismus, gegen Grenzen, gegen das Militär, gegen alles, was die Autonomie des Körpers einschränkt. Ich denke, diese Kombination kann heute wirklich mit dem Abolitionismus in Resonanz treten, mit der Auflösung von Grenzen, dem unnachgiebigen Eintreten gegen militarisierte Grenzen, dem Bejahen der Autonomie von reproduktiven Rechten, von Trans-Leben. Ich denke, dass es im Anarchismus einen Raum gibt, der sowohl militant als auch unapologetisch ist – und er ist auch sehr umfangreich, wofür andere Iterationen einer singulären Plattform oder singulären Sprache vielleicht keinen Platz haben.
Kenyon: Auf der einen Seite suchen viele Juden nach radikalen Alternativen zum Zusammenbruch des Kommunismus, zur Enttäuschung über die USA und Israel und wollen Dinge wie LGBT-Belange, dekoloniale Belange, antirassistische und feministische Belange in den Mittelpunkt stellen, und ich denke, sie suchen nach alternativen Genealogien des jüdischen Radikalismus außerhalb des Kommunismus oder des Zionismus oder des linken Arbeiterzionismus oder der Sozialdemokratie. Ich denke, dass der Anarchismus historisch gesehen mehr Raum für diese Anliegen bot. Auch gegenwärtig lässt er diesen Anliegen viel mehr Raum als einige andere Strömungen der linken politischen Ideologie. Auf der anderen Seite denke ich, dass sich in letzter Zeit mehr jüdische Anarchisten als jüdische Anarchisten identifizieren, zum Teil als Reaktion auf den wiederauflebenden Antisemitismus in den USA. Ich denke, das hat viele Leute dazu gebracht, ihr eigenes Judentum neu zu bewerten und es stärker in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen.
Shane: Was sind Eurer Meinung nach die wichtigsten Lehren, die sich aus den Diskussionen in diesem Buch ergeben? Es ist natürlich eine jüdisch-anarchistische Geschichte, aber es ist auch eine radikal-politische Geschichte, die meiner Meinung nach weit darüber hinausgeht. Was sind die großen Lehren, die Ihr den Menschen nahe bringen wollt und mit denen sie sich auseinandersetzen sollen?
Anna: Ich denke über diese Forschung als eine Ressource für kollektive politische Vorstellungen nach: Wie könnte dieses Archiv eine politische Vorstellungswelt vermitteln? Genauso wie die Anarchisten, über die wir schreiben, selbst in die anarchistische Geschichte und die anarchistische Genealogie involviert waren. Sie wollten den Talmud als eine Art anarchistische Ethik lesen. Sie wollten die Essenes – die alte, rein männliche Bruderschaft – als eine Art proto-anarchistische Bruderschaft betrachten. Sie waren daran interessiert, Geschichte zu lesen. Sie interessierten sich für die gegenseitige Hilfe, die in der materiellen, physischen Welt unmittelbar ansteht. Diese Tendenz, Geschichte mit einer anarchistischen Linse zu lesen, hat, denke ich, ihre eigene Genealogie im Denken über die Weltgeschichte als eine Art Archiv für die politische Vorstellungskraft, für das, was möglich ist zu denken, wie unsere politische Vorstellungskraft so katastrophal eingeengt wurde, dass wir denken, die gegenwärtigen Lebensformen seien die einzige Möglichkeit. Ich hoffe, das Buch kann dem entgegenwirken. Gleichzeitig ist es auch eine Herausforderung, das, was wir wiedergewinnen, nicht zu romantisieren oder zu sehr zu behüten, und auch darüber nachzudenken, wo die Momente waren, in denen jüdische Anarchisten ihr Weißsein nicht verraten haben. Haben ihre Ideale der freien Liebe das Patriarchat durch das Leiden der Frauen nur bekräftigt, anstatt es tatsächlich zu lindern? Das ist also auch ein Teil der Herausforderung: in diesem Prozess der Wiederherstellung kritisch zu bleiben.
Kenyon: Ja, und ich denke, um die Vergangenheit nutzbar zu machen, muss man einfach sehen, dass jüdische Anarchisten wichtige, entscheidende, zentrale Figuren in Arbeiterbewegungen, revolutionären Bewegungen – ob diese nun spezifisch jüdisch waren oder nicht – und in kulturellen Bewegungen waren und sind. Es gibt so viel von dieser Geschichte, deren anarchistische Ursprünge den meisten Menschen verborgen bleiben, auch wenn man mit einigen der beteiligten Personen oder Institutionen vertraut sein mag. Ein Beispiel, das ich gerne verwende, ist die Manhattan-Brücke. Sie wurde von dem jüdischen Anarchisten Leon Moisseiff entworfen. Es gibt eine Gedenktafel, die Moisseiffs Beitrag ausdrücklich würdigt, aber selbst auf seiner Wikipedia-Seite wird nicht erwähnt, dass er auch ein engagierter Anarchist war, der sein Leben lang eine anarchistische Zeitschrift in jiddischer Sprache herausgab, die ‘Freye Gezelshaft’ oder ‘Free Society’. Diese anarchistische Vergangenheit ist buchstäblich in die alltägliche Infrastruktur Manhattans eingebaut, aber sie ist irgendwie unsichtbar.
Was die nützlichen Wege angeht, denke ich, dass das Wichtigste an diesem Sammelband auch ist, dass er zeigt, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt, ein jüdischer Anarchist zu sein. Hier gibt es viele Vergangenheiten. Jüdische Anarchisten, die heute Aufständische oder Syndikalisten oder Pädagogen oder Maler oder Dichter oder Ärzte oder Nachbarschaftsorganisatoren oder Fürsprecher der Schwangerschaftsverhütung sind, die Englisch oder Jiddisch oder Esperanto sprechen, sie alle stehen in der Tradition des einen oder anderen Strangs des jüdischen Anarchismus. In unserer Einleitung zitieren wir eine Passage der jüdischen anarchistischen Historikerin Martha Acklesberg: “Niemand sollte gezwungen werden, als Preis für politische oder kommunale Zugehörigkeit zwischen Aspekten seiner oder ihrer Identität zu wählen, wir sind alle vollwertige Wesen, die sich auf vielfältige Weise für eine Vielzahl cooler Aktivitäten einsetzen können.” Und ich denke, das fasst wirklich zusammen, was das Buch als die fast unzähligen Möglichkeiten veranschaulicht, wie jüdische Anarchisten der Vergangenheit verschiedene Engagements miteinander verbanden, und gleichzeitig eine Anleitung für Radikale in der Gegenwart bietet, die verschiedenen Möglichkeiten zu erkunden, wie sie verschiedene Engagements für mehrere Gruppen oder Ursachen und Identitäten miteinander in Einklang bringen können, anstatt das Gefühl zu haben, sich für das eine oder das andere entscheiden zu müssen.
Zuerst erschienen im Sommer 2023 auf Strangers in a Tangled Wilderness, repostet im Februar 2024 auf The Anarchist Library. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks, das ebenfalls die Bebilderung hinzufügte.